" ... das braucht doch keiner!"

Ich habe es im Ohr, das Wehklagen über Mangel an qualifizierten Nachwuchs, darüber, dass sich so wenige Studenten für ein Ingenieurstudium / ein naturwissenschaftliches Studium / ein geisteswissenschaftliches Studium interessieren, über Abiturienten mit Wissenslücken im Grand-Canyon-Format und über Auszubildende, die nicht einmal die Grundrechenarten beherrschen. Ich hüte mich wohlweislich, das Fass "PISA und die Folgen" aufzumachen. Obwohl die nach dem "PISA-Schock" getroffenen Maßnahmen (z. B. das Abitur nach der 12. Klasse) wahrscheinlich im Sinne der oben genannten Missstände eher kontraproduktiv sein dürften.

Auf einen Forum für Astronomie und Raumfahrt entdeckte ich einen Thread, der ein Schlaglicht auf offenbar tief eingeschliffene Mängel des deutschen (und österreichischen) Schulwesen wirft: Raumfahrt & Astronomie an Schulen. (Wobei statt "Raumfahrt & Astronomie" auch "praktische Naturkunde", "Archäologie", "Philosophie" oder ähnliches "für das Berufsleben überflüssiges Zeugs" stehen könnte.)

Eine Wiener Realgymnasiastin der 10. Jahrgangsstufe schrieb dort u. a.:
Dieses Jahr haben wir einen neuen Lehrer in diesem Fach. Er kommt in die Klasse, begrüßt uns und bespricht kurz die organisatorischen Dinge. Dann beginnt er, über Physik zu sprechen. Der Anfang lautete etwa so: "Physik ist nicht so, wie es in den Medien oft dargestellt wird. Die ganzen Sachen mit Weltall und so könnt ihr vergessen, das braucht ohnehin keiner."
Im Rückblick gratuliere ich mir dazu, dass keiner meiner Physiklehrer "so drauf" war. Es ist zwar in der Tat so, dass nur sehr wenige der Schüler irgendwann einmal Astronomen, Astrophysiker oder Raumfahrtingenieure werden. Aber gerade die Astronomie ist für viele Schüler ein hervorragender Anreiz, um sich freiwillig mit physikalischen Gleichungen (und der für ihr Verständnis notwendigen Mathematik) auseinanderzusetzen. Ein anderer Forumsteilnehmer nannte ein gutes Beispiel:
Übrigens ist es in Deutschland so, dass man sich in der 11./12. Klasse gemäß Lehrplan mit dem Gravitationsgesetz beschäftigen muss. Wir haben da zum Beispiel die Umlaufzeit und Geschwindigkeit der ISS ausgerechnet und solche Sachen.
Kaum jemand "braucht" wirklich die Fähigkeit, die Umlaufbahn eine Raumstation zu berechnen. Mit den Gravitationsgesetzen sieht es anders aus.
Anderes Fach, andere Zeit: ich erinnere mich gut an einen Biologie- und Erdkundelehrer, der gerne mal Dias und Filme von seiner Reisen in die Sahara, den tropischen Regenwald, den Himalaya usw. zeigte. Es gab Eltern, die sich über die "verschwendete Unterrichtszeit" aufregten. Nur war auffällig, dass seine Schüler in Bio und Erdkunde sehr viel besser waren und den "Lehrstoff" schneller "durch" hatten als die der Parallelklassen. Der Mann machte durch sein persönliches Engagement die "drögen Paukfächer" interessant. (Er war im übrigen ein ziemlich strenger Lehrer, der dennoch bei uns Schülern beliebt war.)
Nun, das ist lange her, und die auch im Thread beklagte vorherrschende "Gleichungsphobie" (Abneigung gegen Mathematik und Fächer / Berufe, in denen es auf mathematische Kenntnisse ankommt) hat meines Erachtens seit damals erheblich zugenommen. Was nichts mit einer gern behaupteten "Technikfeindlichkeit" zu tun hat.

Aber der wahre Hammer (Realitätsschock?) des Thread ist das:
Manche Lehrer sind schon der Hit. Mein Freund und ich betreiben eine Jugendgruppe [für Astronomie, M.M.] und haben zu Werbezwecken in Schulen Plakate aufgehängt. An einer Hauptschule meinte der Rektor so viel wie: "Wozu, die sind doch sowieso zu blöd dafür!"
Bei solchen "Einschätzungen" wundert es mich nicht, dass so viele Hauptschüler jedes Interesse an der Schule verlieren (was dann wieder die Vorurteile solcher Lehrpersonen wie dieses Rektor bestätigt): "Wir sind hier die Restschule, uns will eh keiner, lernen ist reine Zeitverschwendung!"
Selbst wenn sämtliche Schüler dieser Hauptschule tatsächlich "zu blöd" sein sollten, um die für astronomische Berechnungen nötige Mathe zu kapieren (was ich nicht glaube), heißt das nicht, dass sie alle - bei entsprechendem Interesse - "zu blöd" für eine Astronomie-Jugendgruppe sind. Vielleicht ist unter den als "blöd" abgestempelten Hauptschüler ein "Bastelgenie", jemand, der wenn er die Chance dazu bekommt, ein Könner in einem handwerklichen Beruf werden könnte, der das Arbeitsamt in seinem Berufsleben niemals von innen kennen lernen muss? Und der seine Chance nur deshalb bekommt, weil er bei der Lehrstellensuche z. B. sagen kann: "Ja, stimmt, ich habe nur Hauptschule. Aber ich habe mit eigenen Händen ein Spiegelteleskop gebaut!"
(Dass ich unsere Schulsystem mit seiner sehr frühen "Auslese" für ungerecht, für bildungsfeindlich und für ein schweres Hindernis für soziale Mobilität halte, sei nur am Rande erwähnt.)

Aber es ist vielleicht ungerecht, auf das veraltete Schulsystem oder über unfähige Lehrer zu schimpfen.
Das Problem liegt tiefer. Und es liegt nicht bei den von konservativer Seite so sehr gescholtene "´68ern" und auch nicht bei den "bildungspolitischen Experimenten" der 70er Jahre.

Das Problem liegt bei einem (selten eingestandenen, aber wirksamen) Leitbild für das, was Schule, Hochschule Aus- und Weiterbildung leisten sollen: den für die Erfordernisse des Berufslebens (des "Arbeitsmarktes", der "Wirtschaft") zurichteten Menschen: mit den "richtigen" Fähigkeiten und dem "richtigen" Grundwissen ausgestattet und mit der "richtigen" Einstellung zu Beruf und zum Leben, d. H. bereit, seine persönlichen Interessen den beruflichen Erfordernissen jederzeit unterzuordnen. Bei den "dämlichen" Hauptschülern wird es besonders deutlich: bei ihnen steht offensichtlich eine gewisse Resignation auf dem "heimlichen Lehrplan".
Wenn heute öffentlich z. B. über "Ingenieursmangel" geklagt wird, dann nicht selten in der Weise, dass die Schulen zu wenige an Ingenieursberufen interessierte und geeignete Absolventen "geliefert" hätte. Auch die Klagen manchen Ausbilder über ungeeignete Auszubildende klingen wie Reklamationen an Lieferanten: die Schule möge doch bitte Absolventen "produzieren", die nicht nur gut in Deutsch und Mathe, sondern auch fleißig und diszipliniert sind. Wobei ich diese Klagen in der Sache oft für berechtigt halte. Was mich stört, ist die Mentalität, in der nicht von Menschen und Bildung die Rede ist, sondern von "Humankapital" und "Schlüsselqualifikationen" (und entsprechend gedacht und gehandelt wird).

Ich bin der Ansicht, dass unsere Schulen und Hochschulen, gerade weil sie auf das "Zurichten" aufs "Nützlichkeitsdenken" und auf "Produktivität" ausgerichtet sind, genau jene motivierten und gebildeten Absolventen nicht hervorbringen können, die heute vermehrt "nachgefragt" werden.
flatter (Gast) - 28. Okt, 00:33

Sehr treffende Ausführung. Was mir besonders gefällt, ist, daß die beschriebene Haltung in bezug auf Naturwissenschaften nahtlos auf die Geisteswissenschaften übertrag sind. Die braucht schon gar keiner. Sie lehren ja im Erfolgsfalle nur zweckloses Grübeln und bringen faule Nörgler hervor.

Wilderer (Gast) - 28. Okt, 06:31

Scharf beobachtet. Ich für meinen Teil bin jenen Lehrern, die mit Diashows, Erzählungen und Diskussionen die Faszination für die verschiedensten Fächer, von Italienisch bis - später - Chemie wecken konnten, dankbar. Das schliesst eine gewisse Strenge gar nicht aus. Fördern und fordern halt, auch wenn es abgedroschen klingt. Besonders schön das Beispiel mit dem Spiegelteleskop. Es sind genau solche Dinge, die einem Jugendlichen Träume und Selbstvertrauen geben können. Das sind eigentlich die beiden wichtigsten Schlüsselqualifikationen, mit denen sich einer dann plötzlich auch mal an eine schwierige Formel heranwagt...

ulysses (Gast) - 28. Okt, 09:49

Ich kenne die Aussage eine Hauptschullehrers, der seinen Schülern in der ersten Stunde (der 9. Klasse) sagte: "Von Euch bekommen 90% eh keinen Job nach dem Quali." - Super Pädagoge, und offensichtlich kein Einzelfall.

Solange es bei uns geschlossene Bildungs-Anstalten gibt, möglichst sortenrein und früh nach Test- Talent gegliedert, wird die Schule keine Menschen fürs Leben bilden, sondern nur Fachkräfte fürs Wirtschaftsleben ausbilden. - Ressource Mensch, eben. Das gängige Menschenbild des Globalisierungszeitalters.

MMarheinecke - 28. Okt, 12:36

Einverstanden, Ulysses - bis auf den letzten Satz

Der klingt mir dann doch zu sehr nach Klischee. Ich bin z. B. Befürworter der Globalisierung und des Freihandels - allerdings mit deutlich anderen Rahmenbedingungen, wie wir sie im Moment haben. (Ein Beispiel: für Menschen gilt die allgemeine Freizügigkeit nicht - Beispiele: "Festung Europa" und "Festung Nordamerika" gegenüber "illegalen Einwanderern", die oft Flüchtlinge und meist Armutsflüchtlinge sind. Anderes Beispiel: keine Freizügigkeit für Gedanken und Ideen - drastisches Beispiel: China. Noch ein Beispiel: unfaire Handelsbedingungen, vor allem im Agrarsektor - besonders unfair seitens der EU und den USA.)
Bodecea (Gast) - 28. Okt, 10:01

Und das geht noch weiter...

"Ich bin der Ansicht, dass unsere Schulen und Hochschulen, gerade weil sie auf das "Zurichten" aufs "Nützlichkeitsdenken" und auf "Produktivität" ausgerichtet sind, genau jene motivierten und gebildeten Absolventen nicht hervorbringen können, die heute vermehrt "nachgefragt" werden."

... was imho unter anderem daran liegt, dass auch die Unis von ihren angehenden Dozenten produktive und nützliche Charakteristika erwarten, die "interessante" Menschen mit einem nicht ganz glatt gebügelten Bildungsweg untergehen lassen.

Das habe ich deutlich beobachten können. Manche genialen (und inzwischen emeritierten) Profs, die ich in der Uni hatte, kämen heute gar nicht mehr an die Jobs. Selbst in den Geistes- und Sozialwissenschaften will man Leute, die schön schnell schön straight durchstudiert habe, dann sich in minimaler Zeit bis zur Habilitation gehangelt haben, und wenn andere Erfahrungen, dann bitte in der Wirtschaft. Heraus kommen unsichere 35jährige Professoren, die panisch an ihrem engen Spezialisierungsgebiet kleben, weil sie gar keine Zeit hatten, sich umfassender zu bilden.

Bodecea

ryuu - 28. Okt, 11:58

danke für diesen Beitrag!

... er zeigt mir nämlich mal wieder, warum ich (unter anderem) an der Uni so schwer zu kämpfen hatte: Weil die Schule mir zum Beispiel nicht beigebracht hat, mir Wissen eigenständig zu erarbeiten, eine eigene wissenschaftliche Position zu finden (oder, weniger anspruchsvoll, meine eigene Meinung zu finden) und zu vertreten und zu schreiben, ohne vorher festgelegte Argumentationslinien zu haben. Das hat mir in der Schule keiner beigebracht, an der Uni wird es einfach vorausgesetzt und selbst die Professoren scheinen nicht zu wissen, wie sie das eigentlich machen.
Es wäre zu schön, wenn einem an der Schule das Selberdenken nicht ausgetrieben würde. Aber das braucht ja im Berufsleben auch keiner.[Sarkasmus aus]

Klaus (Gast) - 1. Nov, 00:41

Endlosschleife

Ich halte es für möglich aber nicht für besonders wahrscheinlich, dass jener Rektor in Baden-Württemberg eine Schule leitet. Hierzulande wurde der Hauptschulabschluss eben nicht völlig entwertet und deswegen haben wir in BW ein hohes Niveau bei Haupt- und Realschulabschlüssen und nur 3,6% Jugendarbeitslosigkeit - ein Bruchteil dessen was in "Musterländle" Finnland Fakt ist.

MMarheinecke - 1. Nov, 20:54

Mag sein, dass es in BW relativ gesehen besser ist ...

... als in anderen Bundesländern. Und es ist BW durchaus anzurechnen, dass die Hauptschule dort nicht zum Abstellgleis für Schüler verkommt, die in der 4. Klasse (oder der 6. ) - aus welchen Gründen auch immer - schlecht mitkamen. Aber die niedrige Jugendarbeitslosigkeit im Südwesten verbuche ich eher unter "günstige Wirtschaftsstruktur" und "gute Konjunktur" als unter "vorbildliches Bildungssystem". Ich bleibe dabei: das deutsche Bildungssystem ist veraltet und behindert die für eine offene, liberale Gesellschaft notwendige soziale Mobilität. Und Rektoren, die so denken, wie der im Beitrag genannte, sollten sich ernsthaft überlegen, ob sie den richtigen Beruf ergriffen haben.

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