Über Musik, Philosopie, Wissenschaft und Poesie

(Angeregt durch MomoRules Über Kunstwahrheit.)

Kann ein belletristisches Werk, ein Stück "schöne Literatur" zugleich ein wissenschaftliches Werk sein? Selbstverständlich! Zwar käme kein Wissenschaftler, erst recht kein Naturwissenschaftler auf die Idee, eine neue Theorie oder eine interessante neue Entdeckung in Romanform zu veröffentlichen, aber schon auf der Ebene der "Public Sciences", dem, was im deutschen Sprachraum mit dem oft etwas abschätzig klingenden Wort "populärwissenschaftlich" abgetan wird, sieht es ganz anders aus. Dahinter steckt die uralte Erkenntnis, dass für den Lernenden leichter ist, zu verstehen, wenn der "Lernstoff" in Form einer Geschichte präsentiert wird.
Nein, ich meine kein Infotainment - obwohl es sehr gut gemachtes, wirklich informierendes und dabei wirklich unterhaltsames Infotainment gibt. (Allerdings eher selten in kommerziellen Fernsehprogrammen.) Denn "etwas zu wissen" setzt sehr viel mehr voraus, als "über etwas informiert sein" - so wie "etwas verstehen" mehr voraussetzt, als "etwas zu wissen". In der Antike und im Mittelalter gab es sogar "Lehrgedichte", wenn man so will, Sachbücher in poetischer Form. Obwohl das meistens rein mnemotechnische Gründe gehabt haben dürfte - Verse lassen sich leichter auswendig lernen als Prosatext.
Aber zurück zur Populärwissenschaft. Es gibt bekanntlich renommierte Wissenschaftler, die über ihre Wissenschaft leicht verständliche Sachbücher schreiben. Manchmal lassen sich Erkenntnisse und Spekulationen am Besten in Form von Science Fiction-Geschichten an die breitere Öffentlichkeit bringen. Wenn der deutschsprachigen Wissenschaft der Begriff "Populärwissenschaft" eher negativ besetzt ist, so liegt das weniger daran, dass populäre Texte oft vereinfachen müssen (und deshalb in den meisten Fällen auch nicht zitierfähig sind), sondern oft an einen gewissen akademischen Klassenbewusstsein oder schlicht an bildungsbürgerlicher Arroganz. (Das geht bei einige so weit, dass sie etwa Karl Popper mit der Begründung, der sei nur ein "Populärphilosoph" abqualifizieren.)
Allerdings: nicht alle wissenschaftliche Erkenntnisse und erst recht nicht alle philosophische Gedankengänge lassen sich ohne "Substanzverlust" in einfachen Worten erklären. Jede Darstellung eines Gedanken in sprachlicher Form ist ein Kompromiss. Nicht von ungefähr setzen die meisten Sachbücher den "interessierten Laien" als Leser voraus, der zwar kein Fachwissen, aber außer einer ausgeprägten Neugier und einer nicht unterdurchschnittlichen Intelligenz eine gewisse Allgemeinbildung aufweist. Stephen Hawkins "Eine kleine Geschichte der Zeit" markiert ungefähr das Maximum des Niveaus, dass sich auf den Gebiet des naturwissenschaftlichen Sachbuchs ohne mathematische Formel möglich ist. Will man nur etwas tiefer schürfen, kommt man ohne Differenzialgleichungen nicht weit.
Bei der Philosophie ist es ähnlich. Die Themen, denen sich Karl Popper widmete, ließen sich mit einigem sprachlichen Geschick in gut verständliche Alltagssprache fassen. Hingegen stand Martin Heidegger vor dem Problem, dass die Alltagssprache und selbst die philosophische Fachsprache viel zu ungenau für seine Gedankengänge war. Er musste sich als Sprachschöpfer betätigen, um das bis dahin Ungedachte überhaupt benennen zu können. Allerdings schrieb er wenigstens stilistisch gut und versuchte nicht, seine Texte künstlich schwer zugänglich zu machen.
Philosophen, die über schwer verständliche Dinge in einem an ein Drahtverhau erinnernden Satzbau unter Verwendung ungebräuchlicher Vokabeln und Redewendungen schreiben, sind eine Landplage. (Wie z. B. Hegel, der ungekrönten König des undurchdringlichen Philosophendeutsch.)

Manche halten die Schriften z. B. Adornos für Belletristik. Geschliffener Stil, gesuchte Ausdrucksformen und eine gewisse absichtliche Unzugänglichkeit, eine gewollte "Gelehrsamkeit" vieler seiner Texte sprechen dafür. Geschachtelte Endlossätze und der Gebrauch ungebräuchlicher Fremdwörter, die man selbst Fremdwörterlexikon nicht findet, sprechen eher für das, was Karl Popper "Schwulst der Neodialektiker" nannte. Hinzu kommt, dass Adorno kein klassischer "Systemphilosoph" ist; nicht auf ein paar Grundgedanken logisch aufbauend das ganze Universums (und noch mehr) erklärt. Adorno auf bloße Formel reduziert? Geht nicht. (Es geht übrigens selbst bei Popper nicht. Außer man verstümmelt seine Erkenntnistheorie um entscheidende Erkenntnisse.)
Kann man in rein belletristischer Form philosophieren? Man kann! Platon verpackte seine Philosophie in spritzige Dialoge. Voltaire schrieb philosophische Romane.
Aber der "unprä-zi-seste und unwis-sen-schaft-lichs-te" Bitte im verächtlich-ausspuckend-zischelnden Tonfall ausgesprochen vorstellen! Danke! Philosoph überhaupt ist Friedrich Nietzsche. Er war unsystematisch, und zwar so weitgehend, dass er sich gelegentlich selbst widersprach. Er schrieb auf stilistisch hohem Niveau, ohne dabei unverständlich zu werden. Und das Schlimmste: er packte seine Gedanken gern in Aphorismen und Gedichte. Der Ausspruch "Dichterphilosoph" war und ist nicht immer als Lob gemeint.

Besonders gilt das für sein bekanntestes und vielleicht wichtigstes Werk: "Also sprach Zarathustra" (1883–1885). Das ist nicht nur teilweise in Aphorismen und Gedichtform verfasst, es hat sogar eine durchgehende Handlung, enthält fiktive Personen und handelt an fiktiven Orten.
Allerdings dürfte der "Zarasthustra" eines der wenige philosophischen Werke sein, für das ein berühmter Komponist einen regelrechten "Soundtrack" schrieb. Zumindest die wuchtige Anfangsfanfare des ersten Satzes dürfte jeder kennen (und hoffentlich nicht nur aus der Bierwerbung): Zarathustra tritt vor die aufgehende Sonne und beschließt, zu den Menschen herabzusteigen.








Wenn das eingebundene Video nicht läuft: hier der Link zum Stück: Also sprach Zarathustra, 1. Satz.

Nietzsche selbst meinte: "Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser ‚Zarathustra‘? Ich glaube beinahe, unter die ‚Symphonien‘." Das war nicht nur dahingesagt, die vier Teile des "Buches für jeden und keinen" entsprechen den Sätzen einer Sinfonie. Der Altphilologe Nietzsche konzipierte die Schrift als einen dionysischen Dithyrambus, einer Hymne, wie sie zu Ehren des griechischen Gottes der Ekstase, Dionysos, zu Chor und Instrumentalbegleitung vorgetragen wurde.

Richard Strauss nahm Nietzsche beim Wort. Und schrieb 1896 die Symphonie zum Buch. Er mochte Nietzsches kulturkritische Angriffe auf das deutsche "Philistertum" ("Philister" - hier: "spießiger Bildungsbürger"). Auch war er erklärtermaßen dem Christentum abgeneigt. Entscheidend war aber wohl die Sprache Nietzsches, die offensichtlich Strauss musikalisch herausforderte.

Über Nietzsche sind die Meinungen sehr geteilt. Manche stimmen seiner Selbstbeschreibung: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" begeistert zu - andere wiederum meinen "stimmt, er hatte einen gewaltigen Knall". Dafür, dass italienischen Faschisten und deutsche Nazis ihn für sich in Anspruch nahmen, kann er am wenigsten. (Am meisten dafür kann seine Schwester und Nachlassverwalterin Elisabeth Förster-Nietzsche, die seine Briefe und seine von den Nazis besonders geschätzte, aus dem Nachlass zusammengestellte Aphorismensammlung "Der Wille zur Macht" im völkischen Sinne verfälschte.) Nietzsche schrieb vom "Übermenschen", aber er verachtete die Deutschen wegen ihres nationalen Nervenfiebers - und hielt Antisemitismus für die größte Dummheit überhaupt.

Was ich von ihm halte? Als Gesellschaftskritiker ist der "mit dem Hammer philosophierende" Nietzsche einsame Spitze. Aber er trat, gröblich verkürzt gesagt, für eine Gesellschaftsordnung ein, in der vornehme und heroische Menschen das Sagen hätten - eine sehr elitäre herrschenden Klasse. Etwas, das ich aus Prinzip überhaupt nicht schätze. Auch wenn es großartig formuliert wird.

Musik zum Denken und zu den Denkern? Keine schlechte Idee.
Bei den Denkern der Aufklärung, vor allem bei Kant, stelle ich mir Johann Sebastian Bachs mathematisch präzise Kompositionen vor. Wie Hegel klingen würde, stelle ich mir besser nicht vor. Schopenhauer - etwas melancholisches mit indisch anmutenden Sitar-Klängen. Beim amerikanische Pragmatiker William James. obwohl es zeitlich nicht passt, einfacher, gradliniger Rock'n'Roll. Popper? Nein, keine Pop-Musik, sondern Jazz. Von der kühlen, ruhigen Sorte.
Der Soundtrack zu Michael Foucaults "Überwachen und Strafen" wäre meiner Ansicht nach von Ton, Steine, Scherben. "Keine Macht für Niemand" wäre ein guter Opener!
Bei existenzialistischen Philosophen denke ich immer an Blues. Bei Satre ganz besonders "blue". Adorno, der ja auch Musikwissenschaftler war und selber komponierte, und, sehr vorsichtig formuliert, eine sehr schlechte Meinung vom Jazz hatte, an zwar faszinierende, aber schwer zugängliche Zwölftonmusik - etwa so ein richtig quer im Gehörgang liegender Schönberg.
Gregor Keuschnig - 12. Sep, 12:50

Nicht aus der Bierwerbung

...sondern von diesem Interpreten hier kenne ich das Stück - seit Jahrzehnten.

MMarheinecke - 12. Sep, 19:02

Danke! Diese jazz-latino-rockige (gut "fusion") Version des "Zarathustra"-Auftaktes habe ich vor Jahren öfter mal im Radio gehört, immer gut gefunden, mit aber leider nie merken können, wer der Interpret ist. Eumir Deodato e Orquestra. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass Nietzsche, der ein hervorragender Pianist war und gerne lange über ein Thema improvisierte / phantasierte, diese Version auch gut gefunden hätte. Bei Strauss bin ich mir da nicht so sicher.

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