Reinkarnieren nur noch mit staatlicher Erlaubnis

Den "lebenden Buddhas" Tibets wurde untersagt ohne vorherige Erlaubnis der chinesischen Regierung zu reinkarnieren.
Times online: China tells living Buddhas to obtain permission before they reincarnate

Was wie ein Witz klingt, ist seitens der atheistischen chinesischen Regierung bitter ernst gemeint. Das Verbot ist Teil neuer Gesetze, die die Autorität Beijings über die widerstrebende und tief buddhistische einheimische Bevölkerung Tibets stärken sollen.
Gemäß der am 1. September in Kraft tretenden Vorschrift sind so genannte reinkarnierte lebende Buddhas, die keine Genehmigung der Regierung haben, illegal und ungültig.

Die neuen Vorschriften der Behörde für religiöse Angelegenheiten soll den Einfluss des im Exil lebenden Dalai Lamas einschränken - auch wenn dieser erst vor Kurzem in Hamburg öffentlich verkündete, dass er nicht vor hätte, im chinesischen Machtbereich "neugeboren" zu werden.
Tatsächlich sind die reinkarnierten Lamas, die Tulkus, ein wichtiger Machtfaktor im religiösen und gesellschaftlichen Leben Tibets. Sie leiten oft religiöse Gemeinden und beaufsichtigen die Ausbildung der Mönche. Deshalb verbietet Beijing es jedem, der nicht in China lebt, an der Suche nach einem lebenden Buddha teilzunehmen. Das zielt vor allem auf den Dalai Lama ab, der damit von seiner traditionellen wichtigen Rolle beim Erkennen und Anerkennen einer Reinkarnation ausgeschlossen werden soll.

China besteht schon bisher darauf, dass nur die Regierung die beiden wichtigsten Geistlichen des tibetischen Buddhismus, den Dalai Lama und den Panchen Lama, im Amt bestätigen kann.
Als der Dalai Lama im Mai 1995 bekanntgab, dass eine Suche in Tibet in Zusammenarbeit mit einem prominenten Abt die Reinkarnation des 1989 verstorbenen 10. Panchen Lamas identifiziert hätte, erzürnte das Beijing. So bizarr es auch klingen mag, die atheistischen Behörden veranlassten eine neue Suche und schickten ein hochrangiges Mitglied des Politbüros nach Lhasa, um die Endauswahl zu überwachen.
Der vom Dalai Lama ausgewählte Junge ist "verschwunden". Der Abt, der mit dem Dalai Lama zusammengearbeitet hatte, wurde inhaftiert, sein Verbleib ist ungeklärt.
Allerdings reinkarnieren auch nicht so hochrangige tibetische Lamas innerhalb und außerhalb der Grenzen der Volksrepublik China. Mit den neuen Vorschriften hat China bei der Ernennung der meisten hochrangigen Lamas das letzte Wort.
Tibet-Experten vermuten, dass die neuen Vorschriften außerdem den Einfluss neuer Lamas beschränken sollen.

Warum mischen sich atheistische Politiker in einen mystisch-religiösen Vorgang ein?
Die für mich naheliegende Erklärung ist die Angst vor Kontrollverlust. Sie treibt auch bei unseren Politikern, unseren Wirtschaftsführer, Behördenchefs und Verbands-Funktionären regelmäßig unschöne und die Bürgerrechte gefährdende Blüten.
Wie das erst in einer im Kern immer noch totalitären Diktatur sein wird, kann sich, denke ich, jeder nicht völlig politisch Naiver gut vorstellen.
Aus diesen Grunde toleriert Beijing zwar die katholische Religion - nicht aber die Autorität des Papstes über die chinesischen Katholiken. Es gibt in der VR China keine höhere Instanz als das Politbüro, schon der Gedanke, dass in irgendeiner Frage von einiger Bedeutung irgendjemand anders das letzte Wort haben könnte, ist einfach im System nicht vorgesehen.
Sollten die Mitglieder des Politbüros tatsächlich so denken, wie offiziell behauptet wird, dass sie so denken würden, sind sie Leninisten: Religion ist nicht nur, wie Marx schrieb, "Opium des Volkes" (im Sinne einer "Droge", die die harte Realität erträglich macht) sondern "Opium für das Volk" (eine betrügerische Inszenierung, um das Volk zu gängeln). Im Falle Tibets kommt die traditionelle enge Verbindung zwischen Religion und Politik hinzu - Religion hier also im leninistischen Verständnis eine besonders "harte Droge", während andere, politisch abstinente, Formen der Religion "weiche Drogen" sind, die das nachmaoistische China nicht wirklich stören, weil sie eher als "Beruhigungsmittel" wirken. Beijing handelt meines Erachtens nach der selben Logik, wie eine westliche Regierung im "Krieg gegen die Drogen", wenn sie weder den "Konsum" unterbinden, noch der "Großdealer" habhaft werden kann, weil diese im Ausland sitzen: Er gibt kontrolliert "Ersatzdrogen" aus, um das Problem wenigstens einzudämmen. Von der Regierung ernannte und kontrollierte Geistliche sind sozusagen "religionspolitisches Methadon".

Hinzu kommt, das vermute ich, dass China eine völlig andere Geschichte hat, als "der Westen" mit seinen Religionskriegen und bis zur "Aufklärung" permanenten (danach sporadischen) Machtkämpfen) zwischen "geistlichen" und "weltlichen" Autoritäten. "Die Lehren der Geschichte" sehen für einen chinesischen Politiker, in einem Land, in dem es seit der Ch'in-Dynastie (seit ca. 220 v. u. Z.) keine von nicht staatlich "beamtete" Geistlichkeit gab, völlig anders aus, als für "westliche" Politiker. Selbst Lenin und seine Nachfolger berücksichtigten bei ihrer atheistischen Religionspolitik die lange Geschichte der orthodoxen Kirche als eigensinniger Machtfaktor in Russland, so wie sie auch den Verlauf des jahrhundertelangen "Investiturstreites" zwischen Kaiser und Papst im Westen Europas kannten. Selbst ein Stalin wäre nicht auf die Idee gekommen, den Metropoliten von Russland nach eigenem Gusto zu ernennen - was genau der Installation des ihnen genehmen Panchen Lamas durch das chinesische Politbüro entspricht, weil er wusste, dass so ein "Marionettengeistlicher" keinerlei Autorität bei den Gläubigen genießen würde.
Londo (Gast) - 6. Aug, 08:53

Bizarr ist es trotzdem

Das Dekret setzt voraus, dass die Buddhas kontrollieren können, als wer sie reinkarnieren. Selbst wenn man Reinkarnation als gegeben betrachtet, bezweifle ich die Möglichkeit einer gezielten Reinkarnation. Die einzige Möglichkeit, eine weitere Reinkarnation zu unterbinden, ist, nicht zu sterben. Also hat aus meiner Sicht die chinesische Regierung den lebenden Buddhas das Sterben verboten :) Aus meiner Sicht ist das, trotz des ernsthaften politschen Hintergrunds, bizarr und unsinnig. Genausogut könnte die isländische Regierung dem Vulkan Hekla verbieten, während der Tourismussaison auszubrechen :)

Außerdem frage ich mich gerade, was die chinesische Regierung im Falle einer nicht genehmigten Reinkarnation machen will. Einen Strafzettel ausstellen? :D

MMarheinecke - 6. Aug, 14:16

Nein, so denkt die chinesische Regierung wohl nicht

Sie geht davon aus, dass Reinkarnation - egal ob gesteuert oder nicht - Unsinn und Aberglauben ist. "Lenistisch" gedacht: Buddhistische Lamas entscheiden aufgrund geheimgehaltener Kriterien, welcher Junge als künftiger lebender Buddha / hoher Lama erzogen werden soll - und machen dem dummen Volk etwas von "Reinkarnation", spritueller Berufung usw. vor. (Man beachte die "eingebaute Verschwörungstheorie". Eine Faustregel, an dem sich Aussprüche von Lenin und Nachfolgern von denen von Marx unterscheiden lassen: zeigen sie extremes Misstrauen, spricht das gegen Marx.)

Mit ihren Dekret sorgt - in dieser Lesart - die chinesische Regierung dafür, dass nur ihnen genehme Kandidaten für die Lama-Ausbildung gewählt werden - also solche, die aus einem china-loyalen bzw. die Exilregierung des Dalai Lama ablehnenden Elternhaus stammen.

Eine "nicht genehmigte Reinkarnation" ist, soweit es die sie aussprechenden Lamas betrifft, in chinesischer Lesart eine nicht genehmigte Ernennung eines religiösen Funktionärs, und als solche ein Akt des Widerstandes gegen die chinesische Regierung. So was kann durchaus mit Arbeitslager bestraft werden. (Die Schwelle für eine Verurteilung zur Zwangsarbeit ist in den letzten 15 Jahren drastisch gesunken, da China ohne Ende billige Arbeitskräfte braucht.) Die grotesk anmutende Vorschrift ist also ein Fall für Galgenhumor. Die widerständigen Tibeter werden, da schwarzer Humor Teil ihrer Kultur und Element ihres Widerstands ist, gerade deshalb darüber lachen.

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