Ich bin "pro-westlich" - bin ich konservativ?

Ich gebe es zu: ich bin "pro westlich" eingestellt. Angeregt zu diesem Geständnis hat mich ein Kommentar auf dem Blog shifting reality zum Beitrag: What's left? Genauer: es ging um MomoRulez beiläufige Bemerkung: "Und Konservative setzen eh auf die Macht der Tradition … deshalb sind die ProWestler auch allesamt Konservative."
Nimmt man als Beispiel jene "ProWestler", die sich in Klein-Bloggersdorf unübersehbar selbst so nennen, und deren Haltung man grob mit "antiislamisch, pro-George W. Bush, anti-anti-semitisch, prokapitalistisch" umreiße, trifft das zweifellos zu. Wobei ich auch innerhalb der ProWestler differenziere, man kann die Ex-Linken aus dem Umfeld der "Freunde der offenen Gesellschaft" und die moslemfressenden "christlich-abendländisches" Stammtischkrieger auf "Politically Incorrect" nicht in jedem Fall gleichsetzen.

Unnötig zu sagen, dass ich mich nicht zu diesen "ProWestlern" zähle.

Ich weiß nicht, von wem die Aussage stammt, pro-westlich hieße: "pro-liberal, pro-universalistisch, pro-amerikanisch, pro-globalistisch, pro-monotheistisch". Vielleicht war es Hannes Stein. Bis auf den letzten Punkt - dem ich entschieden widerspreche - kann ich mich, angesichts der Bandbreite und Unschärfe der aufgeführten Eigenschaften, mit Fug und Recht "pro westlich" nennen. Allerdings gibt es Formen des Liberalismus, Universalismus, Globalismus, die ich entschieden ablehne. Und "pro amerikanisch" verstehe ich eher als Bekenntnis zu den Werten der US-amerikanischen Verfassung als zu den Werten, nach denen z. B. die derzeitige US-Regierung anscheinend handelt.

Im politisch-kulturellen Sinne versteht man unter dem "Westen" oder poetisch, dem "Abendland" hauptsächlich Westeuropa und Nordamerika, also jene Gebiete, die von Renaissance, Reformation, und Aufklärung, sowie verschiedenen Emanzipationsbewegungen und Revolutionen stark beeinflusst wurden. Daraus ergibt sich eine gewisse Unschärfe: Was ist mit Lateinamerika? Ist Russland Teil "des Westens"? (Die Antwort hängt davon ab, welchen Russen man fragt.) Inwieweit sind Japan, Südkorea, Taiwan "westlich"?

Das Problem mit den "ProWestlern" scheint mir darin zu liegen, was sie unter "dem Westen" und "westlichen Werten" verstehen. Eine weit verbreitete Grundannahme unter "prowestlichen" Bloggern ist die Vorstellung eines Kampfes der Zivilisationen, mehr oder weniger deutlich an Samuel Huntingtons berühmten Aufsatz angelehnt. Zivilisation, das definiert Huntington ganz banal, sei die größtmögliche Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Geschichte und vor allem Religion zusammengehalten wird. Die Interessen und Wertvorstellungen z. B. der islamischen oder der konfuzianischen Zivilisation sind, glaubt man Huntington, mit den westlichen vollkommen inkompatibel. Er glaubt z. B. dass der "westliche" Begriff des "freien Individuum" Zivilisationen, die weder Renaissance noch Aufklärung durchlebten, wesensfremd bleibt. (Also hätten die Islamisten recht: Menschenrechte und parlamentarische Demokratie sind nichts für Moslems! Und die Stammtisch-Rassisten hätten auch recht: Asiaten sind nun mal Kollektivmenschen, die sich willig für die Gemeinschaft aufopfern.)
Wer "den Westen" so oder ähnlich sieht, als "Meta-Leitkultur" der "Leitkulturen" der westlichen Nationen, "sittenchristlich" und mit der europäischen Geschichte verwachsen, der ist notwendigerweise konservativ - "verbindende westliche Werte" sind in dieser Weltsicht nämlich gemeinsame Traditionen, auf die man sich "zurückbesinnt".

Es gilt auch umgekehrt: In der bis weit in die "Linken" hinein gesellschaftlich konservativen Bundesrepublik Deutschland ist der Ruf nach "Leitkultur" besonders stark. Wobei "konservativ" bei vielen "Leitkultur"-Fans noch untertrieben ist. Der Ruf nach einer "Leitkultur" zeugt auch davon, wie mobilisierungsfähig der Wunsch nach vorgefertigten Leitbildern, nach "weltanschaulichen Leitllinien" in Deutschland noch ist. Egal, ob ein christlicher oder ein sozialistischer oder gar ein nationaler Kanon moralischer Leitbilder gefordert wird - gemeinsam ist den Freunden der Leitkultur die Angst vor der offenen Gesellschaft ohne vorgeschriebene Werte und festgefügte Identitäten.

Wenn "der Westen" aber keine Traditionsgemeinschaft ("christliches Abendland"), keine "übergeordnete Leitkultur" und auch kein geographischer oder geopolitischer Begriff ist, was ist er dann?

Kritiker "des Westen" haben insofern recht, das es keinen "unveränderlichen kulturellen Kern" des Westen gibt. Deshalb ist "die westliche Zivilisation" auch so "universaltauglich": auch Kulturen, die nicht in ihrem Sinne geprägt sind, können problemlos "westliche Errungenschaften" wie das demokratische Staatsmodell, die freie Presse, die unabhängige Justiz usw. aber auch Aktiengesellschaften, Hollywoodfilme, Supermärkte, Fast-Food-Restaurants und vieles mehr übernehmen. Das bedeutet allerdings nicht, dass "der Westen" keine verbindliche Werte kennen würde. Es sind allerdings neutrale Rechte: sie stehen jedem Menschen zu. (Oder sollten es jedenfalls.)
Zu diesen Werten zähle ich die universellen Menschenrechte, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Gewaltenteilung, die Möglichkeit, eine schlechte Regierung ohne Gewaltanwendung- oder -drohung loswerden zu können. Diese Werte sind es, die den Westen ausmachen. Und jede Kultur, die diese neutralen Werte übernommen hat, gehört "zum Westen". (So gesehen gehört Japan zum "Westen", Indien ist bereits "westlicher" als Putins Russland - und die USA und in ihrem Gefolge andere westliche Staaten haben sich seit dem 9. September 2001 teilweise "entwestlicht".)
Die größte Errungenschaft der westlichen Zivilisation ist, als
Ergebnis zahlreicher geistiger und politische Revolutionen, dass sie sich sich immer wieder aufs Neue in Frage stellt. Wenn diese Fähigkeit der Selbstkritik und Selbstkontrolle im Zuge der Abwehr "fremder Kulturen" und im Bestreben nach "Einheit" verloren geht, dann hört der Westen auf, "der Westen" zu sein.

Die größte Bedrohung für "den Westen" ist nicht "der Islam". Und schon gar nicht "der Terrorismus". Die größte Gefahr für den Westen ist, sich selbst zu Tode zu "schützen".
Sven (Gast) - 22. Jul, 16:40

Ausschlussdenken: "Pro-Westlich" bedeutet für die meisten automatisch "Anti-NichtWestlich". Anstatt "Dös gfällt mir halt am besten, aber jedem sei die Wahl, was ihm taugt, gelassen"...

MMarheinecke - 22. Jul, 21:26

Auf die von mir angeführten "prowestlichen"-Blogger trifft das z. Z. tatsächlich zu

Eine von ihnen sind nämlich tatsächlich "anti nichtwestlich".
flatter (Gast) - 23. Jul, 11:56

Eine schöne Differenzierung. Das Problem des "Westlichen" ist in den Blogs ja ganz ähnlich gelagert wie die der Begriff "liberal". Selbstverständlich gibt es einiges zu verteidigen und zu erhalten an dieser Kultur. Mir ist aber auch nicht klar, warum die lautesten Diskutanten dazu immer ein Feindbild brauchen.
Und selbstverständlich muß diese Kultur liberal sein. Aber die erklärten Liberalen verwechseln das leider mit einer der Kultur der Steuersenkungen, und sie werden dabei nach Kräften von Linken unterstützt, denen der Liberalismus darum als grundverdorben gilt.
Leider spielt in dem Zusammenhang B.L.O.G. auch keine glorreiche Rolle. Vielleicht kannst du denen ja noch was beibringen...

Karsten (Gast) - 23. Jul, 14:45

Hallo Flatter,

vielleicht kannst Du das mit der "nicht glorreichen" Rolle ja noch etwas präzisieren und vielleicht sagen, was MartinM dem Rest von uns "Bloggies" so beibringen soll. Eigentlich dachte ich nämlich, dass sich unser Spektrum über weitaus mehr bewegt als die "Steuersenkungsliberalen", die oft (und manchmal auch zurecht) bekrittelt werden...
MMarheinecke - 23. Jul, 15:33

Hi Flatter,

ich lasse meine "Mit-Bissigen" lieber so, wie sie sind, ich habe nämlich den dringenden Verdacht, dass sie sich vielleicht überzeugen, ganz sicher aber nicht indoktrinieren lassen - und außerdem bin ich anders lautenden Gerüchten zum Trotz kein "Schulmeistertyp".
flatter (Gast) - 23. Jul, 19:18

Ihr habt ja ja Sorgen... wenn jede Einflußnahme durch Argumente "Indoktrination" ist und jedes Lernen aus Argumenten eines Schulmeisters bedarf, bin ich ein erklärter indoktrinierender Schulmeister.
@Karsten: Du mußt ja nur Euer Blog lesen, zu dem m.E. übrigens auch die Kommentare gehören. Au smeiner Sicht ist die Tendenz zu einer äußerst unkritischen Haltung gegenüber der aktuellen pro-westlichen Ideologie festzustellen. Manchmal meint man, gleich kommt der Präsident um die Ecke.
Im übrigen moniere ich, was ja auch in den gegebenen Zusammenhang gehört, nach wie vor die äußerst schwache Resonanz auf Schäubles Wahnideen. Liberalismus muß aus meiner Sicht da wesentlich aggressiver sein. Wir hatten das schon und werden uns wohl nicht recht einig. Ich werde eben nicht müde, auch solche liberale Positionen einzufordern, die gemainhin als "links" betrachtet werden. Wenn Euch das ärgert, lebt Ihr ja immerhin noch.
Schließlich: Komisch, daß Ihr beiden Euch so scharf abgrenzt. Das Lob des vermeintlichen Gegners ist nicht immer Gift. Niemand tut Euch was!

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