Kolonialerzählung - oder: Ein gern "vergessener" deutscher Völkermord

Vor einigen Tagen stieß ich in Joe Dramiga Blog auf diesen hochinteressanten Artikel - es ging um die Rückgabe von menschliche Schädel, die als Beutestücke aus dem "Herero-Aufstand" in Namibia nach Deutschland gebracht wurden und bislang noch in Universitäts- und Museuumsammlungen lagern.
Von 1904-1908 führten deutsche Truppen einen an Grausamkeit kaum zu übertreffenden Vernichtungskrieg gegen die Herero, Nama und Damara, um den antikolonialen Widerstand im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ (heute: Republik Namibia) zu brechen. Unzählige Gebeine von Opfern des Völkermordes und der Konzentrationslager, die die deutschen Truppen in "Deutsch-Südwestafrika" unterhielten, wurden zu "Forschungszwecken" nach Deutschland gebracht.
Weiter: Der Völkermord in Namibia und die medizinische Forschung der Berliner Charité

Froschungszwecke würde ich übrigens ohne Anführung schreiben - so weh es auch tut: was damals an der Charité betrieben wurde, war leider keine Pseudowissenschaft (womöglich betrieben von einigen "verrückten Wissenschaftlern" oder "verblendeten Fanatikern") - es war offensichtlich wirklich medizinische und anthropologische Forschung nach dem damaligen Stand und Usus der Wissenschaft. Was nichts daran ändert, dass der völlig fehlende Respekt vor den von deutschen Kolonialtruppen hingemordeten Menschen, zutiefst anti-human und rassistisch ist. In der Charité behandelte man diese Knochen nicht anders als etwa in Spiritus eingelegte Schlangen oder gepresste Pflanzen: als reine Untersuchungsobjekte.

Übrigens ist der Umfang der Rückgaben unumstritten. Thomas Schnalke, Museumsdirektor am medizinhistorischen Museum, meinte im "Deutschlandfunk", dass menschliche Überreste in Museeumssammlungen dann zurückgegeben sollten,
(...) wenn wir einen Unrechtskontext nachweisen können, beziehungsweise wenn es widerstreitende Wertesysteme gibt.
Bei Herero-Schädeln liegt ein "Unrechtskontext" vor.

Tatsächlich dürfte es schwierig sein, bei im kolonialistischen bzw. quasi-kolonialistischen Kontext gesammelte menschlichen Überresten überhaupt Präparate zu finden, bei denen es weder einen Unrechtskontext noch widerstreitende Wertesysteme gibt. Dass z. B. ein australischer Aborigene um 1900 seine sterblichen Überreste testamentarisch der Forschung vermachte, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach kaum vorgekommen sein.

Warum findet die Rückgabe der "Herero-Schädel" so wenig Interesse?
Ich vermute, weil den meisten heute lebenden Deutschen einfach nicht bewusst ist, dass auch Deutschland eine koloniale Vergangenheit hat.
Tatsächlich gab es, verglichen mit den klassischen Kolonialmächten (Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Spanien, Portugal), verhältnismäßig wenige deutsche Kolonien, und die Kolonialzeit im engeren Sinne setzte erst sehr spät ein. Selbst nach der Reichsgründung von 1871 spielte die Kolonialpolitik in Deutschland zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Reichskanzler Bismarck, als kühl kakulierender Machtpolitiker, sah in Kolonien nur wenig wirtschaftlichen Nutzen, dem die Gefahr erhebliche politischer Störungen gegenüber stand.
So richtig los ging es mit der deutschen Kolonialpolitik erst 1884 - aus nicht ganz durchschaubaren Gründen war Bismarck zu einem "kolonialen Experiment" bereit. (Aber was ist bei Bismarck, dem klassischen Vertreter der Realpolitik im Hinterzimmer, schon leicht durchschaubar?) 1884 wurden "Deutsch-Südwestafrika" und Togoland annektiert und die Besitzungen / "Privatkolonien" von Adolph Woermann in Kamerun kamen "unter den Schutz des Reiches". Im Jahr 1885 folgten das von Carl Peters und dessen "Gesellschaft für deutsche Kolonisation" erworbene / eroberte ostafrikanische Gebiet, Wituland, Nord-Neuguinea ("Kaiser-Wilhelms-Land") und der "Bismarck-Archipel". Damit war aber die erste Phase deutscher kolonialer Eroberungen abgeschlossen.
Unter Kaiser Wilhelm II. wurden nur noch wenige neue Kolonien gegründet, z. B. wurde von China Kiautschou mit dem Hafenort Tsingtau gepachtet. Diesen eher kleinen "Erwerbungen" stand aber ein maximales Getöse und kraftmeierisches Säbelrasseln gegenüber: die "zu spät gekommene Nation" strebte ihren "Platz an der Sonne" (so der spätere Reichskanzler von Bülow 1897) an, womit ausdrücklich der Besitz von Kolonien gemeint war. Der Ausspruch wurde damals zum geflügelten Wort. Die SPD stellte im Wahlkampf sarkastisch den Ausspruch "Platz an der Sonne" den immensen Kosten, die die deutschen Kolonien verursachten, gegenüber.
Tatsächlich lohnte sich der Kolonialismus für den deutschen Staatshaushalt und auch die deutsche Volkswirtschaft nicht. Vom Kolonialismus profitierten Einzelne und einzelne Gesellschaften, bzw. sie bereicherten sich durch staatlich subventionierte Ausbeutung der Kolonien.

Wie die anderen Kolonialmächte hatte Deutschland ein gerütteltes Maß an zumeist gewaltsam niedergeschlagenen Aufständen. Aber der Kolonialkrieg zur Niederschlagung des Aufstand der Herero und Nama war sogar für die Verhältnisse des Kolonialzeitalters extrem blutig und rücksichtslos. Am 2. Oktober 1904 erließ General von Trotha eine "Proklamation an das Volk der Herero", die später als "Vernichtungsbefehl" bekannt wurde - der Kolonialkrieg ging in einen systematischen Völkermord über.
Es ist viel zu wenig bekannt, dass die ersten deutschen Konzentrationslager in Südwest-Afrika standen (die auch tatsächlich so genannt wurden).
Die Taktik, die "feindliche Bevölkerung" in Lagern zu "konzentrieren", sahen die deutschen Kolonialtruppen sich bei einem "benachbarten" Konflikt ab: im zweiten Burenkrieg in Südafrika um 1900 internierten die Briten die Frauen und Kinder der "aufständischen Buren".

Es ist meines Erachtens eine durch das Wissen, was später geschah, verzerrte Wahrnehmung, die den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama in einen engen Kontext mit dem Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands und dem industrielle betriebenen millionenfachen Massenmord stellt - sozusagen als Ausdruck des selben Ausrottungs-Rassismus. Oder der nichts erklärenden, aber zuverlässig jede Diskussion erstickenden Behauptung, "die Deutschen" seien eben schon aufgrund ihrer Mentalität herrschsüchtig und rücksichtslos (bei gleichzeitigem Selbstmitleid) und zu besonders grausamen, gewissenlosen Morden bereit.
Es gibt aber meines Erachtens drei Kontinuitäten zwischen den Kolonialgräueln (wie sie damals zurecht in Teilen der deutschen Presse genannt wurden) und den beispiellosen Verbrechen Nazideutschlands:
  1. die völkermöderischen Methoden, die sich in "Südwest" "bewährt" hatten, waren durchaus Vorbilder für den Vernichtungskrieg "im Osten",
  2. dass sich der "Untermenschen" entmenschlichende Vernichtungssrassismus bei deutschen "Rechtsintellektuellen" so festsetzen konnte, ist auch auf koloniale Erfahrungen zurückzuführen,
  3. die deutschen Herrscher führten in ihren Kolonien eine sogar im Vergleich zu anderen Kolonialmächten strenge Bürokratie ein; die berüchtigte "Prügelkultur" in deutschen Kolonien zeichnete sich weniger durch Sadismus als durch kaltherziges "pflichtgemäßes Durchführen für notwendig erachteter Strafmaßnahmen" aus - Parallelen zum mörderischen Bürokratismus des "Holocaust" sind unübersehbar.
Die deutsche Kolonialepoche endete schon mit dem 1. Weltkrieg, ihre Hochphase dauerte nur etwa 40 Jahre. Das, und der vergleichsweise kleine Kolonialbesitz, und der Umstand, dass sich die Kolonien volkswirtschaftlich nicht lohnten, machen es einfach, die deutsche Kolonialgeschichte als "unwichtig" zu verdrängen.

Ich vermute, dass als die ARD-Fernsehlotterie 1956 den Namen ein "Ein Platz an der Sonne" erhielt, keiner der Verantwortlichen dabei an den Bülowschen Ausspruch dachte. Ich halte es sogar für möglich, dass die meisten Deutschen schon damals den kolonialen Kontext gar nicht mehr kannten.
Als ausgerechnet der FC St. Pauli 2010 / 2011 mit dem Slogan der ARD-Fernsehlotterie als Trikotwerbung auftrat, machten einige Fans klar, dass der Slogan eben doch "Geschichte" hat: “Ein Platz an der Sonne für den FC St. Pauli” !? - Bloß nicht! - Die Erben der Kolonisatoren

Neben dem "Vergessen" der "unwichtigen" deutschen Kolonialgeschichte gibt es immer noch die Erzählung vom "besseren" deutschen Kolonialismus. Im Großen und Ganzen war das deutsche Kolonialregime zwar nicht auffällig schlimmer, aber auch keinen Deut besser als das anderer Kolonialmächte.
Auffällig ist allerdings, wie durchbürokratisiert das deutsche Kolonialwesen war. Vielleicht gilt gerade das als "überlegen" - Hauptsache, die Verwaltung läuft reibungslos und planmäßig ab.
Es ist bezeichnend, dass die deutschen Siedler in "Südwest" sich sehr am sozialen Stammesgefüge der Einheimischen störten, das offenbar keinen Untertanengeist erzeugte, wie ihn die von der eigenen Kultur geprägten Deutschen erwarteten.

Die Erinnerung an das Kaiserreich ist deshalb so wichtig, weil es massiv nachwirkt, viel stärker als das nur etwa 12 Jahre währende "3. Reich" Nazideutschlands!

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