Gedanken über Visionen

Karl Urban bloggt Wenn keiner mehr an Visionen glaubt.

Ich stimme Karl darin zu, dass Visionen etwas tolles sind, und auch die Gründe, die er dafür angibt, kann ich nachvollziehen:
1. Sie geben ein technisches oder gesellschaftliches Leitbild vor, an dem sich viele orientieren.
2. Sie beanspruchen mit einer für uns alle besseren Welt aufzuwarten, ohne Leid, Unrecht, Krieg, Atommüll oder Volksmusik.
3. Visionen brauchen keine Machbarkeitsstudie! Sie geben ein Idealbild vor, das gar nicht zwingend erreichbar sein muss. - Es muss lediglich den Anschein erwecken, man könne irgendwann dorthin gelangen.
Ich kommentiere diesen Beitrag nicht - den Kommentar, den ich schreiben wollte, hat Lars Fischer nämlich längst gemacht, und zwar prägnanter formuliert, als ich es getan hätte:
Unsere Gesellschaft will keine Zukunft, weil sie Angst vor ihr hat. Und deswegen hat sie auch keine.
Wobei zu ergänzen wäre, dass "unsere Gesellschaft" sich auf die "Entscheider" und "Meinungsmacher" in Politik, Wirtschaft und Journalismus bezieht. Die von Lars genannte Angst vor dem Internet ist nur ein Beispiel von vielen für diesen angstgetriebenen Konservatismus.

Ich nehme Kais Blogbeitrag statt dessen zum Anlass für ein paar Gedanken über Visionen. Nicht zum ersten Mal: "V" for "Vision"

Was sind "Visionen"? In diesem Kontext: "Innere Bilder", Vorstellungen, wie es sein könnte, Leitbilder.
Abzugrenzen von "Wunschträumen", die nicht einmal den Anschein erwecken, erreichbar zu sein, und von "Utopien" als ausgearbeitete Entwürfe von Gesellschaften, in denen Visionen verwirklicht wurden. (Oder, im Falle der "negativen Utopien", der Dystopien, als ausgearbeitete Entwürfe von Gesellschaften, in denen Befürchtungen wahr geworden sind.)

Utopien haben, wie Visionen, ihren Sinn. Solange jedenfalls sie nicht ins utopische Denken umschlagen. Utopisches Denken ist brandgefährlich, da es immer einen Zug ins Totalitäre hat. (Da bin ich voll und ganz bei Karl Popper.) "Utopisches Denken" ist die Vorstellung, die gesellschaftliche bzw. politische Zukunft planen zu können, ein Generalplan für eine perfekte Gesellschaft, mit der Vorstellung, dass sich alle nur bis ins Detail daran halten müssten, damit alles alles gut würde. Damit Utopien ins utopische Denken umschlagen, müssen zwei Dinge zur Utopie hinzukommen: eine Ideologie (am "besten" eine mit Unfehlbarkeitsanspruch) und die Vorstellung, die Utopie sei ohne Weiteres realisierbar, also eine "konkrete Utopie". Utopisches Denken (in diesem Sinne) ist Wunschdenken plus ideologischem Aktionismus und sollte nicht verwechselt werden mit dem Durchdenken von Alternativen, das mitunter auch "utopisches Denken" genannt wird.

Visionäre können mitunter lästig werden, vor allem dann, wenn wir ihre Visionen nicht teilen. Noch lästiger sind Pseudo-Visionäre, vor allem in der Politik, die jede politische Zielsetzung gleich zur "Zukunftsvision" aufblasen. Auf eine innerparteiliche Grundsatzdebatte in der SPD reagierte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt 1980 mit seinem gern missverstandenen sarkastischen Kommentar (auch ich hatte ihn missverstanden):
Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.
Dieser Spruch zielte, laut Schmidt, nicht, wie oft zu lesen ist (und wie ich in "V for Vision" irrtümlich annahm) auf den "politischen Visionär" und Amtsvorgänger Schmidts, Willy Brand, ab. Der knochenharte Pragmatiker Schmidt störte sich vielmehr am inflationären Gebrauch von Wörtern wie "Vision" oder "visionär" und erinnerte daran, dass "Vision" auch Sinnestäuschung bedeuten kann.
Ich kann Schmidt in dieser Hinsicht gut verstehen, auch wenn mir so manches an der schmidtschen Realpolitik und ihren bis heute spürbaren Auswirkungen nicht gefällt.
Einer der Gründe, wieso "keiner mehr an Visionen glaubt", dürfte der inflationäre Gebrauch des Begriffes sein. Manchmal ist "Vision" geradezu ein Euphemismus für "leeres Versprechen" oder "wage Hoffnung".

Ja, und dann gibt es noch die Vision in der ursprünglichen, der religiösen oder besser vielleicht spirituellen Bedeutung.
Ich gebe zu: ich kenne so etwas aus eigener Erfahrung. Nicht nur das: ich suche absichtlich und bewusst nach Visionen.
Sicherlich kann man "Gesichter" oder "Erscheinungen" als Trugwahrnehmung bzw. (Pseudo-)Halluzination hinweg rationalisieren. Anderseits erwiesen sich so viele meiner Visionen als bedeutsam, dass die durchaus plausible Hypothese, da würde mir bloß irgend ein Teil meines Gehirn einen Streich spielen, mich nicht so recht überzeugen vermag. Eher überzeugt mich schon die Jungsche Archetypenlehre, bei all ihren Unzulänglichkeiten.

Eine brauchbare Umschreibung für solche Vorgänge stammt von Daniel Pinchbeck (neuerdings wegen des Films 2012 Time for Chance im Gespräch). Pinchbeck stellt sich das Gehirn wie eine Art Radio vor. Von den vielen Informationen, die unser Gehirn erreichen, kommt nur der Teil in unserem Bewusstsein an, der der "eingestellten Frequenz" entspricht (bitte nicht im Sinne der berüchtigten "Schwingungsebenen" bestimmter "Eso-Leuchten" verstehen, alles ist nur eine Metapher für die komplexen Vorgänge, die in unserem Denkapparat ablaufen).Normalerweise empfangen wir den Sender "Konsensrealität" bzw. "Alltägliche Wirklichkeit" - vergleichbar mit einem regionalen Musik- und Informationssender (aber einem, den praktisch jeder hört).
Psychodelische, d. h. bewusstseinserweiternde, Drogen ersetzen laut Pinchbeck das Serotonin und andere Neurotransmitter durch Psilocybin, Ibogain, Dimethyltriptamin usw. und verstellen damit den "Empfänger". Auf einmal bekommt man völlig neue "Sender" hinein, die das Gegenstück zu avantgardistischem Jazz oder tibetischer Folklore bringen - oder Informationsender, die uns Dinge wissen lassen, die uns normalerweise entgehen.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass das Denken und Empfinden mehr oder minder unbeeinflusst bleibt. Das Bewusstsein ist hellwach. Das unterscheidet die Wirkungen psychedelischer Drogen z. B. von der von Alkohol oder Heroin.

Meiner Erfahrung nach lässt sich auch ohne Drogen ein "anderes Programm" einstellen - etwa durch schamanistische Techniken (wobei Schamanismus und Drogengebrauch keine Gegensätze sind).

Das Wort "verrückt" als umgangssprachliche Bezeichnung für "psychotisch" trifft in Pinchbecks Metapher unerwartet genau zu: in einer Psychose ist der "Empfänger" sozusagen dauerhaft verstellt - "Radio Alltägliche Wirkllichkeit" bekommt man einfach nicht mehr rein. Drogeninduzierte Psychosen, "auf dem Trip hängenbleiben", wären in diesem Bild etwa so, dass der "Regler" am "Empfänger" mit so viel Kraft verstellt wurde, dass er sich verklemmt hat. Wenn der "Empfänger" sowieso schon wackelig ist (latente Psychose) kann selbst eine "weiche Droge" wie THC (Hauptwirkstoff im Haschisch) "verrückt machen".

Ich will das Bild nicht überstrapazieren, etwa durch mehr oder weniger geistreiche Wortspiele mit "Vision" und "Television". Es dürfte aber etwas klarer geworden sein, wieso Visionen nicht immer und nicht zwangsläufig Irrsinn oder Trugbild sind. (Aber manchmal sind sie es eben doch!)
Allerdings darf, entgegen dem, was vor allem in der zeitgenössischen Esoterik und von manchen religiösen Mystikern gelehrt wird, der kritische Verstand nicht völlig vernachlässigt werden. Es könnte ja sein, dass der tolle Sender, auf dem wir ungeahnte neue Informationen empfangen, ein Propagandasender ist. Oder - anderes Bild - wir im "spirituellen Internet" auf eine "Verschwörungstheoretikerseite" gestoßen sind.
Oder dass die Informationen vielleicht richtig und wichtig sind, aber uns schlicht überfordern - so, wie ein Grundschüler mit einem langen Text aus der "Wikipedia" überfordert wäre.

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