Es ist so schön "Opfer" zu sein ...
Da das leidige Thema "deutsch-polnische Beziehungen" ein wenig aus den Schlagzeilen verschwunden ist, ist es vielleicht die richtige Zeit, den Blick auf die grundsätzlichen Fragen hinter diesen immer wieder aufbrandenden politischen Querelen zu richten.
Auffällig an den periodisch aufflammenden Streitereien sind zwei Tatsachen. Sie werden immer von Gruppen entfacht, deren Identität sich auf den Status "Opfer der Geschichte" stützt. Auf deutscher Seite waren das lange Zeit die Vertriebenenverbände, inzwischen verlagert sich die Rolle des Anspruchsstellers auf noch kleinere Sonderinteressenvereine, wie die sich die so nennende "Preußischen Treuhand".
Obwohl diese Gruppen in der Tat winzige Minderheiten sind, wird von polnischer Seite nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass diese Gruppen nur das aussprechen, was sich andere Deutsche nur nicht offen zu sagen trauen: Dass nämlich die Vertriebenen unschuldige Opfer einer Politik waren, die sie nicht zu verantworten hatten.
Der polnischen Seite steht historisch betrachtet weitaus mehr Recht zu, sich als "Opfer der Deutschen" zu sehen. Immerhin wurde Polen von Deutschland unter der Billigung der Mehrheit der Deutschen überfallen, annektiert, seine Städte zerstört, sein Industrie ausgeplündert, und seine "Intelligenz" und alle, die auch nur im Verdacht standen, Widerstand leisten zu können, rücksichtslos ermordet. Die deutschen Pläne sahen vor, einen Teil der Polen "einzudeutschen" - was weit über die "Germanisierung" alten Stils hinausging - den weitaus größeren Teil dauerhaft zu Versklaven und die "Unbrauchbaren" kurzerhand umzubringen. Ob auch diese Forderungen mehrheitsfähig gewesen wären, ist eine akademische Fragen; aus polnischer Sicht ist entscheidend, dass es diese Pläne gab - und es anscheinend niemanden gab, der dagegen Widerstand leistete. (Selbst die Verschwörer des 20. Juni 1944 wollten nicht auf Annektionen polnischen Territoriums völlig verzichten.) Aus polnischer Sicht sind die umgesiedelten Deutschen noch sehr gut weggekommen.
Dennoch ist die Instrumentalisierung eines - vermeintlichen und realen - Opferstatus durch die Kaczynski-Regierung nur als bizarr zu bezeichnen. Und einiges deutet darauf hin, dass der Status eines Opfers für Polen nicht weniger attraktiv ist, als für Deutsche - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Deutsche erhoffen sich vom "Opferstatus" (von materiellen Interessen kleine Sondergruppen abgesehen) eher eine "Erleichterung historischer Schuld", Polen eher "historische Gerechtigkeit" - was immer das im Einzelfall auch heißen mag.
Diskussionen, wer wirklich Opfer ist und wer nicht, sind ein müssiges Unterfangen - nicht nur wegen der "Opferkonkurrenz" - ("Wir haben aber mehr gelitten als Ihr!") - sonders auch, weil es zu Aufrechnungen dessen führen kann, was nicht aufgerechnet werden *kann*: Menschenleben, Kulturgüter, Schmerzen, verlorene Lebenszeit, Heimat, Identität, persönliche Integrität usw. von "Schuld" ganz abzusehen. Das sind alles Werte, die sich auf wirkliche, lebendige, individuelle Menschen beziehen, nur auf Menschen bezogen Sinn machen, auf "natürliche Personen", nicht auf abstrakte Konstrukte wie Nationalstaaten, Religionsgemeinschaften, "etnische Gruppen", juristische Personen wie Stiftungen usw..
Ich fürchte, wer mit "erbrachten Opfern" argumentiert, steht schon mit einen Bein in Kollektivschuld-Projektionen - und möglicherweise mit dem anderen in der für totalitäre Ideologien typischen Überhöhung des persönlichen "Opfers" zugunsten der "Gemeinschaft".
Nein, es ist keine sprachliche Schlamperei, wenn ich hier "Opfer" (z. B. im Sinne von "Kriegsopfer"), "Opfer" zugunsten einer Gemeinschaft (im Sinne von "Aufopferung") und Opfer als religiöse Praktik gleichsetze. Jedes "Opfer" wird - für etwas - erbracht, am einfachsten ist dieses "Gabe - Gegengabe"-Prinzip beim Dankopfer (bzw. christlich: der Votivgabe) zu sehen: ein Gott hat mir Gutes getan, also gebe ich ihm / ihr etwas als Gegengabe. (Bzw. entziehe es dem menschlichen Gebrauch.) Sicher, im Falle der Verkehrs- oder Verbrechensopfer ist "Opfer" längst auf eine übertragene Bedeutung reduziert, beim "Kriegsopfer" ist das aber schon fraglich: "Es geht nicht ohne Opfer!" - und wenn man sich einen "Opferstatus" zuschreibt, dann steht dahinter stets das Denken: ich habe etwa hingegeben, geopfert, dafür will ich Ausgleich. Die Analogie zum "Blutrachegedanken" ist naheliegend.
Die Selbststilisierung zum "Opfer" ist wohl deshalb so beliebt, weil sie *wirksam* ist. (Sogar im Umfeld der Einführung der oktroierten EU-Verfassung, die nicht "Verfassung" genannt wird, weil sie auf sauber-demokratischem Wege wohl nicht durchsetzbar ist. Ich spiele auf die Spielchen den Kaczynski-Brüder an. Die zumindest innenpolitisch sehr gut funktionieren.)
Wenden wir uns der deutschen Seite zu, der es heute kaum noch um die Revision der Oder-Neiße-Linie oder materielle "Entschädigungen" geht - sondern um eine "Erleichterung von historischer Schuld".
Seit der deutschen Vereinigung ist es in Deutschland erkennbar "schick" geworden, sich als Mitglied oder "Erbe" einer "Opfergesellschaft" zu sehen. Während gegenüber den wahren NS-Opfern nach wie vor und nicht nur von den "üblichen Verdächtigen" im rechtsextremen Lager immer noch einen "Schlußstrich" fordern, wenden sich die Deutschen selbst zu. Es sieht manchmal so aus, als ob alle auf einmal Opfer Hitlers gewesen sein wollen. Die Vertriebenen sollen, so der Titel einer ZDF-Produktion, Hitlers letzte Opfer gewesen sein. (Eine historisch problematische Aussage, nicht nur wegen der überdurchschnittlich breiten Unterstützung, die die Nazis in den Ostgebieten genossen.)
Es hat zahlreiche deutsche Opfer gegeben, kein Zweifel. Im Bombenkrieg starben 600.000 Deutsche, und nach modernen Schätzungen starben 500.000 bis 600.000 Menschen bei der Umsiedlung und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa.
Sind diese Toten Opfer der Allierten, Opfer des NS-Regimes oder "selber schuld", also gar keine Opfer? In "antideutschen" Kreisen macht man sich die Antwort leicht - Deutsche waren Täter, und Täter können keine Opfer sein. Auf der "übergeordneten" historische Ebene ist es ebenso klar: ohne den von Deutschland entfesselten Krieg wären diese Menschen nicht gestorben. Damit dürfte die Frage nach der "Schuld" - die meiner Ansicht nach ohnehin überflüssig und für eine pragmatische Problemlösung äußerst kontraproduktiv sind - hinreichend beantwortet sein.
Die Ursache, weshalb die Opferzahlen auch auf Deutscher Seite sehr hoch waren, liegt ebenfalls auf deutscher Seite: das NS-Regime sorgte für eine Vermischung von Militär und Zivilem (Stichwort „Heimatfront“), so dass eine Unterscheidung oft schwer bis unmöglich war. Auf dem Schiff „Wilhelm Gustloff“ befanden sich zum Beispiel nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Militärpersonal. Vom Kriegsrecht her gesehen, war die Torpedierung durch ein sowjetisches U-Boot also durchaus legitim.
Die Ursache dafür, dass Deutsche dazu neigen, die deutschen Toten des Bombenkrieges als "Opfer der Allierten" zu sehen, also eine Schuldzuweisung zur eigenen moralischen Entlastung vornehmen, liegt in der Zeit des untergehenden "Großdeutschen Reiches".
Der Bombenkrieg bestätigte die Schuldgefühle der Deutschen und spielte Goebbels' Propaganda unbeabsichtigt in die Karten. Viele Deutsche wussten (oder ahnten wenigstens) welche Verbrechen Deutsche begangen hatten. In den Luftangriffen erkannten sie den Willen zur gewaltigen Vergeltung. Diese Erkenntnis führte bei vielen zu einem blinden Weitermachen, um bloß nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Nach dem Ende des Krieges kippte die Haltung um, aber der Bombenkrieg wurde nach wie vor, wie auch die Vertreibung, (historisch gesehen falsch) als "vollzogene Rache" der "Anderen" gesehen. Oder auch als kollektive Strafe für "im deutschem Namen" begangenen Verbrechen.
Erst dieser Irrtum ermöglicht die ersehnte "historische Entlastung". Die "Strafe" blieb den meisten für die Verbrechen Verantwortlichen - den Nazis, ihren Helfern und ihren Nutznießern - erspart. So wie von einer "allierten Rache" an Deutschland keine Rede sein konnte.
Auffällig an den periodisch aufflammenden Streitereien sind zwei Tatsachen. Sie werden immer von Gruppen entfacht, deren Identität sich auf den Status "Opfer der Geschichte" stützt. Auf deutscher Seite waren das lange Zeit die Vertriebenenverbände, inzwischen verlagert sich die Rolle des Anspruchsstellers auf noch kleinere Sonderinteressenvereine, wie die sich die so nennende "Preußischen Treuhand".
Obwohl diese Gruppen in der Tat winzige Minderheiten sind, wird von polnischer Seite nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass diese Gruppen nur das aussprechen, was sich andere Deutsche nur nicht offen zu sagen trauen: Dass nämlich die Vertriebenen unschuldige Opfer einer Politik waren, die sie nicht zu verantworten hatten.
Der polnischen Seite steht historisch betrachtet weitaus mehr Recht zu, sich als "Opfer der Deutschen" zu sehen. Immerhin wurde Polen von Deutschland unter der Billigung der Mehrheit der Deutschen überfallen, annektiert, seine Städte zerstört, sein Industrie ausgeplündert, und seine "Intelligenz" und alle, die auch nur im Verdacht standen, Widerstand leisten zu können, rücksichtslos ermordet. Die deutschen Pläne sahen vor, einen Teil der Polen "einzudeutschen" - was weit über die "Germanisierung" alten Stils hinausging - den weitaus größeren Teil dauerhaft zu Versklaven und die "Unbrauchbaren" kurzerhand umzubringen. Ob auch diese Forderungen mehrheitsfähig gewesen wären, ist eine akademische Fragen; aus polnischer Sicht ist entscheidend, dass es diese Pläne gab - und es anscheinend niemanden gab, der dagegen Widerstand leistete. (Selbst die Verschwörer des 20. Juni 1944 wollten nicht auf Annektionen polnischen Territoriums völlig verzichten.) Aus polnischer Sicht sind die umgesiedelten Deutschen noch sehr gut weggekommen.
Dennoch ist die Instrumentalisierung eines - vermeintlichen und realen - Opferstatus durch die Kaczynski-Regierung nur als bizarr zu bezeichnen. Und einiges deutet darauf hin, dass der Status eines Opfers für Polen nicht weniger attraktiv ist, als für Deutsche - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Deutsche erhoffen sich vom "Opferstatus" (von materiellen Interessen kleine Sondergruppen abgesehen) eher eine "Erleichterung historischer Schuld", Polen eher "historische Gerechtigkeit" - was immer das im Einzelfall auch heißen mag.
Diskussionen, wer wirklich Opfer ist und wer nicht, sind ein müssiges Unterfangen - nicht nur wegen der "Opferkonkurrenz" - ("Wir haben aber mehr gelitten als Ihr!") - sonders auch, weil es zu Aufrechnungen dessen führen kann, was nicht aufgerechnet werden *kann*: Menschenleben, Kulturgüter, Schmerzen, verlorene Lebenszeit, Heimat, Identität, persönliche Integrität usw. von "Schuld" ganz abzusehen. Das sind alles Werte, die sich auf wirkliche, lebendige, individuelle Menschen beziehen, nur auf Menschen bezogen Sinn machen, auf "natürliche Personen", nicht auf abstrakte Konstrukte wie Nationalstaaten, Religionsgemeinschaften, "etnische Gruppen", juristische Personen wie Stiftungen usw..
Ich fürchte, wer mit "erbrachten Opfern" argumentiert, steht schon mit einen Bein in Kollektivschuld-Projektionen - und möglicherweise mit dem anderen in der für totalitäre Ideologien typischen Überhöhung des persönlichen "Opfers" zugunsten der "Gemeinschaft".
Nein, es ist keine sprachliche Schlamperei, wenn ich hier "Opfer" (z. B. im Sinne von "Kriegsopfer"), "Opfer" zugunsten einer Gemeinschaft (im Sinne von "Aufopferung") und Opfer als religiöse Praktik gleichsetze. Jedes "Opfer" wird - für etwas - erbracht, am einfachsten ist dieses "Gabe - Gegengabe"-Prinzip beim Dankopfer (bzw. christlich: der Votivgabe) zu sehen: ein Gott hat mir Gutes getan, also gebe ich ihm / ihr etwas als Gegengabe. (Bzw. entziehe es dem menschlichen Gebrauch.) Sicher, im Falle der Verkehrs- oder Verbrechensopfer ist "Opfer" längst auf eine übertragene Bedeutung reduziert, beim "Kriegsopfer" ist das aber schon fraglich: "Es geht nicht ohne Opfer!" - und wenn man sich einen "Opferstatus" zuschreibt, dann steht dahinter stets das Denken: ich habe etwa hingegeben, geopfert, dafür will ich Ausgleich. Die Analogie zum "Blutrachegedanken" ist naheliegend.
Die Selbststilisierung zum "Opfer" ist wohl deshalb so beliebt, weil sie *wirksam* ist. (Sogar im Umfeld der Einführung der oktroierten EU-Verfassung, die nicht "Verfassung" genannt wird, weil sie auf sauber-demokratischem Wege wohl nicht durchsetzbar ist. Ich spiele auf die Spielchen den Kaczynski-Brüder an. Die zumindest innenpolitisch sehr gut funktionieren.)
Wenden wir uns der deutschen Seite zu, der es heute kaum noch um die Revision der Oder-Neiße-Linie oder materielle "Entschädigungen" geht - sondern um eine "Erleichterung von historischer Schuld".
Seit der deutschen Vereinigung ist es in Deutschland erkennbar "schick" geworden, sich als Mitglied oder "Erbe" einer "Opfergesellschaft" zu sehen. Während gegenüber den wahren NS-Opfern nach wie vor und nicht nur von den "üblichen Verdächtigen" im rechtsextremen Lager immer noch einen "Schlußstrich" fordern, wenden sich die Deutschen selbst zu. Es sieht manchmal so aus, als ob alle auf einmal Opfer Hitlers gewesen sein wollen. Die Vertriebenen sollen, so der Titel einer ZDF-Produktion, Hitlers letzte Opfer gewesen sein. (Eine historisch problematische Aussage, nicht nur wegen der überdurchschnittlich breiten Unterstützung, die die Nazis in den Ostgebieten genossen.)
Es hat zahlreiche deutsche Opfer gegeben, kein Zweifel. Im Bombenkrieg starben 600.000 Deutsche, und nach modernen Schätzungen starben 500.000 bis 600.000 Menschen bei der Umsiedlung und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa.
Sind diese Toten Opfer der Allierten, Opfer des NS-Regimes oder "selber schuld", also gar keine Opfer? In "antideutschen" Kreisen macht man sich die Antwort leicht - Deutsche waren Täter, und Täter können keine Opfer sein. Auf der "übergeordneten" historische Ebene ist es ebenso klar: ohne den von Deutschland entfesselten Krieg wären diese Menschen nicht gestorben. Damit dürfte die Frage nach der "Schuld" - die meiner Ansicht nach ohnehin überflüssig und für eine pragmatische Problemlösung äußerst kontraproduktiv sind - hinreichend beantwortet sein.
Die Ursache, weshalb die Opferzahlen auch auf Deutscher Seite sehr hoch waren, liegt ebenfalls auf deutscher Seite: das NS-Regime sorgte für eine Vermischung von Militär und Zivilem (Stichwort „Heimatfront“), so dass eine Unterscheidung oft schwer bis unmöglich war. Auf dem Schiff „Wilhelm Gustloff“ befanden sich zum Beispiel nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Militärpersonal. Vom Kriegsrecht her gesehen, war die Torpedierung durch ein sowjetisches U-Boot also durchaus legitim.
Die Ursache dafür, dass Deutsche dazu neigen, die deutschen Toten des Bombenkrieges als "Opfer der Allierten" zu sehen, also eine Schuldzuweisung zur eigenen moralischen Entlastung vornehmen, liegt in der Zeit des untergehenden "Großdeutschen Reiches".
Der Bombenkrieg bestätigte die Schuldgefühle der Deutschen und spielte Goebbels' Propaganda unbeabsichtigt in die Karten. Viele Deutsche wussten (oder ahnten wenigstens) welche Verbrechen Deutsche begangen hatten. In den Luftangriffen erkannten sie den Willen zur gewaltigen Vergeltung. Diese Erkenntnis führte bei vielen zu einem blinden Weitermachen, um bloß nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Nach dem Ende des Krieges kippte die Haltung um, aber der Bombenkrieg wurde nach wie vor, wie auch die Vertreibung, (historisch gesehen falsch) als "vollzogene Rache" der "Anderen" gesehen. Oder auch als kollektive Strafe für "im deutschem Namen" begangenen Verbrechen.
Erst dieser Irrtum ermöglicht die ersehnte "historische Entlastung". Die "Strafe" blieb den meisten für die Verbrechen Verantwortlichen - den Nazis, ihren Helfern und ihren Nutznießern - erspart. So wie von einer "allierten Rache" an Deutschland keine Rede sein konnte.
MMarheinecke - Mittwoch, 18. Juli 2007
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