"Systemverdrossenheit" und Angst

Über den Zustand des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland geschrieben haben schon viele - auch ich. Die wunden Punkte gut auf den Punkt gebracht haben nur wenige. Deshalb meine dringende Leseempfehlung für Systemverdrossenheit beim "Spiegelfechter".

Ich teile bestimmt nicht in jeder Hinsicht die politischen und ökonomischen Ansichten Jens Bergers. Vor allem die ökonomischen. Dazu habe ich doch zuviel Popper und zuviel Hayek gelesen ... Auch "gute Hirten", die die Schafe vor den Wölfen schützen, sind am Ende jene, die auch die Hammel zur Schlachtbank treiben. Wenn schon Schaf, dann nicht als braves Haustier.

Aber wenn er Sätze wie diese formuliert, dann könnte ich ihn küssen:
Da die Freiheit des Einen, die Unfreiheit des Anderen ist, sollte man im Klaren sein, wessen Freiheit der heutigen Politik eigentlich im Herzen liegt. „Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor neamands“ – sang einst Konstantin Wecker. Angst war aber schon immer ein Element der Politik – der Ängstige stellt weniger Fragen und lässt sich leichter regieren. Eine solche Politik steht im Widerspruch zum allgemeinen Freiheitsbegriff. Der Deutsche hat Angst – er hat Angst, seinen Job zu verlieren oder in das Heer der zahllosen „working poor“ abzugleiten; er hat Angst davor im Alter seinen Lebensstandard nicht mehr halten zu können; er hat Angst in einer immer schneller werdenden Welt abgehängt zu werden und er empfindet irreale Ängste vor virtuellen Gefahren, wie Terrorismus. Anstatt diese Ängste zu beseitigen, schürt die Politik diese Ängste durch den Abbau des Sozialstaates, einer Klientelpolitik für die kleine Schicht der Alpha-Menschen und sublim gestreuten Sozialdarwinismus – Survival of the fitest, wer nicht smart, mobil und ungebunden ist und seine persönlichen Ziele und Interessen den beruflichen Interessen unterordnet gehört in dieser Gesellschaft zu den Verlieren.
Wobei die Alpha-Menschen, geht man vom Sprachgebrauch der Verhaltensforschung aus, gar keine "Alpha-Tiere" sind. Ihren Platz an der Spitze haben sie weder aus eigener Kraft errungen, noch werden sie freiwillig von der "Herde" als "Leithammel" anerkannt.

Habe ich Angst? Ja, bestimmt. Welche Ängste das sind? Entschuldigung, strengste Privatsache!
Klaus (Gast) - 10. Jun, 12:28

Angst muss man nur vor jenen haben, die den Begriff der Freiheit vergewaltigen.

Der ganze Text des Herrn Berger ist ein Schmarren, der zitierte Teil ist keine Ausnahme. Schon der erste Satz "Da die Freiheit des Einen, die Unfreiheit des Anderen ist." wird weder belegt noch erklärt. Ich nehme an dem Autor schwebt etwas in der Richtung vor wie: Die Freiheit des Einen mit einer Million auf dem Konto, damit zu tun und zu lassen, was er will, ist natürlich die Unfreiheit des Anderen, der keine Million auf seinem Konto hat. Der Freiheitsbegriff wird weiter eingeschränkt, Freiheit sei, dass man keine Angst haben muss vor anderen Menschen. Als ob man Angst vor Pofalla, Kauder oder Heil haben müsste ... oder vor denen die Berger nicht aufführt, wie Lafontaine, Gysi oder Peters. Apropos "working poor": schon Barbara Ehrenreich hat sich schon gewundert warum jene "working poor" in den USA so unbekümmert durchs Leben gehen, obwohl ihr finanzieller Horizont nur zwei Wochen weit reicht. Die hirnlosen Bilder die da gezeichnet werden - Sozialdarwinismus, Survival of the fittest, Alpha-Menschen - nerven auch langsam ( und vermeintliche Richtigstellungen ebenso). Natürlich fehlt auch der Hinweis auf die vermeintliche Unterordnung von persönlichen Zielen gegenüber beruflichen Interessen nicht, wobei immer gerne jene verächtlich gemacht werden ("Anjatanja") die damit kein großes Problem haben, bzw. deren Ziele und Interessen nicht so divergieren.

Ach, Martin, das erinnert mich an einen deiner nervenden B.L.O.G-Kollegen und seinen nervenden Einwänden, die sich um den Begriff "Verantwortung" drehen :-)

MMarheinecke - 10. Jun, 13:51

Ja, Klaus, ich weiß ...

Nun mal gaaaanz ruhig: Der Ausspruch "die Freiheit des Einen ist die Unfreiheit des Anderen" stammt schon aus dem 18. Jahrhundert und bedeutet: je größer die Freiheit der "Mächtigen" (Regierung, Berhörde Konzernvorstand usw. ) ist, nach belieben zu handeln, desto kleiner ist die Freiheit des "Untertanen" sein Leben zu gestalten.
Der Ausspruch "Freiheit heißt, keine Angst zu haben" ist keine Einschränkung des Freiheitsbegriffes, auch wenn die Grammatik der hochdeutschen Fassung des Ausspruchs diese Interpretation möglich erscheinen lässt. Der Ausspruch bedeutet: "Wer Angst hat, ist nicht frei". Ein Strafgefangener, der nicht mehr von Ängsten geplagt wird, genießt zwar eine größere "innere Freiheit" als vorher, er bleibt aber nach wie vor gefangen.
Jene "working poor", die es ja nicht nur in den USA gibt, die unbekümmert durchs Leben gehen, setzen meines Erachtens die Prioritäten im Leben anders, als der (statistische) Durchschnittsdeutsche, der sehr auf Sozialstatus, materiellen Lebensstandard und materielle Absicherung fixiert ist. Ich kenne Kleinstverdiener, die ganz locker und entpannt durchs Leben gehen, solange es fürs Essen und das Dach übern Kopf reicht. Ein Typ Mensch, der gern als "Leistungsverweigerer" beschimpft wird - oder, wenn er zwischendurch mal arbeitslos ist, als "Sozialschmarotzer". Ich kenne aber auch "working poor", die ständig in Angst vor Obdachlosigkeit leben oder zwei oder mehrere schlecht bezahlte Jobs ausüben müssen, damit es "reicht", und sich dabei buchstäblich kaputt schuften.
Da Dich Richtigstellungen zur Hierachien usw. nerven, erspare ich mir sie. Abgesehen davon, dass "Anja-Tanja" eine extrem oberflächliche Arbeitnehmerin karikiert, die es z. B. erstmal gar nicht merken würde, wenn berufliche und persönliche Interessen auf Kollisionskurs liegen - bis zum knallenden Zusammenstoß.
Klaus (Gast) - 10. Jun, 16:01

Lieber Martin

Die Erklärung mit dem 18. Jahrhundert ist ja ganz nett und Herr Berger hat dies vielleicht auch gemeint, aber diese Erklärung macht es nicht besser. Ok, der Begriff Freiheit ist unscharf und hier hätte man auch genauso schreiben können "die Macht des Einen ist die Ohnmacht des Anderen". Ich glaube aber Macht ist ein Nullsummenspiel, während Freiheit - wie ich sie verstehe - kein Nullsummenspiel ist. Sie ist vielleicht nicht unbegrenzt steiger- bzw. ausweitbar, denn es gilt ja immer noch "die Freiheit um sich zu schlagen hört da auf wo die Nase des anderen beginnt". Ja, Angela Merkel ist sicher mächtiger als ich, aber hat sie auch mehr Freiheit?

Dank der Wissenschaften, dem Erfindungsgeist und dem Unternehmergeist haben sich die Freiheitsgrade der Menschheit drastisch vergrößert, und daher können sich manche besonders leistungsfähige Menschen sich *Möglichkeiten* erarbeiten, die weit über dem liegen was der Durchschnittsbürger erreichen kann, auch in einem freiheitlichen System. Ist es gleich Unfreiheit wenn es 99,99999% der Menschen es sich nicht leisten können ein Flug zur ISS zu buchen? Ich halte die Gleichsetzung von Freiheit mit den Machtansprüchen einstiger Fürsten, Könige und Kaiser für unredlich.

Zu Angst vs. Freiheit: Es ist nicht die Grammatik, die mich glauben lässt, dass der Autor einen eingeschränkten Freiheitsbegriff pflegt, sondern das unter-dem-Tisch-fallen aller übrigen Facetten von Freiheit in jenem Beitrag. Allerdings ist Angst auch nicht per se etwas schlechtes, sondern hält uns gelegentlich davon ab Fehler zu wiederholen (Ich habe da so meine Erfahrungen gemacht, gerade mit der Angst vor Verlust der Wohnung, wie liebend gern würde ich meinen jetzigen Job hinschmeißen egal mit welchen Konsequenzen, aber ich erinnere mich zu gut an meine Angstschreie von denen ich selber wach geworden bin)

Auch interessant: Die Anjatanja als Strohfrau die zu blöd ist den Kollisionskurs zu erkennen ...

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