Besserwisserei aus gutem Grund: Was heißt "strukturell antisemitisch"?
Aus mehr oder weniger aktuellem Anlass schreibe ich ein wenig zum im bestimmten Kreisen viel verwendeten - und oft falsch verwendeten Begriff "struktureller Antisemitismus". Tatsächlich habe ich mich aus schon dabei ertappt, den Begriff falsch verwendet zu haben.
Also: "struktureller Antisemitismus" ist etwas anderes als "latenter", "verdeckter", "heimlicher" oder "getarnter" Antisemitismus. "Strukturell antisemitisch" heißt: einer bestimmten Anschauung oder Handlungsweise liegt eine gedankliche Struktur zugrunde, die dem Antisemitismus entspricht.
Verwirrt? Macht nichts, steigen wir mit einem einfacheren Beispiel ein. Dem "strukturellen Rassismus.
Rassismus geht davon aus, dass die "eigene Rasse" in irgendeiner Weise "hochwertiger" sei als andere "Rassen".
Strukturell rassistisch ist es, zwar auf den Begriff der rassischen Überlegenheit zu verzichten, aber troztdem die aus dem Rassismus bekannte Denkstruktur zu verwenden. Deutsche sind für einen "strukturellen Rassisten" nicht deshalb "Kanakern" überlegen, weil die "Kanaker" keine Weißen (Europäer, "Arier") sind, sondern weil die "Kanaker" nun mal aus einer "primitiven (mittelalterlichen, religiös fanatisierten, nomadischen, streng patriarchalischen, zerrütteten usw. ) Kultur" stammen und deshalb keine vollwertigen Mitmenschen sein können. (Für "Kanaker" kann eine beliebige Einwanderergruppe oder Minderheit eingesetzt werden.)
Diese Form des "struktuellen Rassismus" kann man auch "Kulturalismus" nennen, wenn man Wert auf passend beschriftete Schubladen legt.
Anderes Beispiel: die Pseudowissenschaft "Metagenetik" (in der von McNallen begründeten Form) entspricht in ihrer Struktur der älteren "Blut und Boden"-Lehre, verwendet aber ein modernes und auf den ersten Blick wissenschaftlich-neutrales Vokabular. Weil ein "Metagenetiker" aber in exakt den selben Bahnen argumentiert wie ein "Blut und Boden"-Theoretiker, und weil die Lehre von "Blut und Boden" eindeutig rassistisch ist, kann man mit Fug und Recht die "Metagenetik" als strukturell rassistisch bezeichnen. Zugleich ist sie ein Beispiel für "verdeckten Rassismus".
Der Antisemitismus teilt Merkmale des Rassismus, ist aber ein Sonderfall: Kein Antisemit würde auf die Idee kommen, etwa Juden nach dem üblichen rassistischen Muster als faul oder dumm zu bezeichnen. Tatsächlich trauten Antisemiten wie Wilhelm Marr, Jörg Lanz "von Liebenfels" und sogar Adolf Hitler "den Juden" einige geradezu "übermenschliche" Fähigkeiten zu. Stattdessen gelten Juden dem Antisemiten als zwar schlau, intelligent, geduldig, sogar gebildet usw. - aber dabei immer auch als feige und hinterhältig, als gierig und verlogen.
Allesamt Attribute, die für den Antisemiten klar machen, dass Juden typischerweise eher im Hintergrund die Fäden ziehen und davor zurückschrecken, sich selber die Finger schmutzig machen.
Eine für Demagogen sehr praktische Methode. Denn dies ermöglicht es beliebige Fehlschläge darauf zu schieben, dass die Juden die Sache heimlich sabotiert hätten. So geschehen z. B. nach dem für Deutschland verlorenem ersten Weltkrieg. "Die Roten" hätten an "der Heimatfront" Verrat an den heldenhaft kämpfenden deutschen Soldaten geübt, ihnen "den Dolch in den Rücken gestoßen". Und weil die "Roten" nun mal verhetzte, aber im Grunde gutwillige "deutsche Arbeiter" waren, müssen die wahren Drahtzieher der schändlichen Niederlage "die Juden" gewesen sein - man weiß ja, denen kann man alles zutrauen ...
Bei der Weltwirtschaftskrise wiederholte sich das üble Spiel, und für die Nazis waren die Juden an allem, aber wirklich allem Schuld, was einem aufrechten Nazi nicht in den Kram passte.
Nun ist diese Methode durchaus auch ohne Juden möglich. Das Großunternehmen XY-AG geht also nicht deswegen in den Konkurs - und einige tausend Arbeitsplätze flöten - weil die Konkurrenz am Markt einfach besser wäre, oder die Unternehmensleitung schwere Fehler gemacht hätte, oder die Rahmenbedingungen nicht günstig waren - oder, was auch vorkommt, ein Konkurrent schlicht weniger Skrupel z. B. bei Betriebverlagerungen in Billiglohnländer gehabt hätte usw. - oder, meistens, viele dieser Faktoren zusammen - sondern deswegen, weil eine kleine Handvoll gieriger Manager oder skrupelloser Investment-"Heuschrecken" (gern Ausländer, gern in New York, London, Hongkong oder Singapur sitzend) sich bereichern wollten.
Die Vorstellung, dass ein "kerngesundes Unternehmen" durch die "Machenschaften" fieser "Drahtzieher" mutwillig "gegen die Wand gefahren" wird, damit sich ein paar "kriminelle Manager" oder "geldgeile Heuschrecken" bereichern können, entspricht in ihrer "Erzählstruktur" einer klassischen antisemitischen Verschwörungstheorie. Das macht das Ganze "strukturell antisemitisch" - auch wenn niemand "die Abzocker" oder "die Heuschrecken" für Juden hält oder absichtlich mit "den Juden" gleichsetzt.
Wenn man z. B. der NPD "strukturellen Antisemitismus" nachsagt, ist das falsch - weil die NPDler typischerweise "echte" Antisemiten sind, die ihre Gesinnung aber mehr oder weniger geschickt tarnen. (Aber die NDP hat, um die Verwirrung komplett zu machen, sehr wohl "antisemitische Strukturen" - z. B. internes antisemitisches Schulungsmaterial, ihre Propaganda enthält antisemitische Deutungsmuster für Krisen, ihre Funktionäre haben haufenweise antisemitische Vorurteile und Klischees und verbreiten diese usw. usw. .)
Daher ist es auch kein Grund zur Empörung, wenn demographische Studien z. B. ergeben, rund 40 % aller Deutschen hätten ein "strukturell antisemitisches Weltbild". Viele der Befragten haben keine oder nur wenige antijüdische Vorurteile - aber sie denken z. B. in den Bahnen ursprünglich antisemitischer Verschwörungstheorien.
Antizionisten können sowohl strukturelle wie uneingestandene Antisemiten sein - im ersten Falle wird die Rolle, die traditionell "den Juden" zugeschrieben wird, einfach auf eine Untergruppe der Juden, eben die Zionisten, beschränkt. Im zweiten Falle ist der "Antizionist" einfach ein Antisemit, der sich nicht gerne Antisemit nennen lässt.
Und wer das mit der Struktur kapiert hat, der begreift auch, wieso ich manche Antifas für "strukturell faschistoid" halte.
Also: "struktureller Antisemitismus" ist etwas anderes als "latenter", "verdeckter", "heimlicher" oder "getarnter" Antisemitismus. "Strukturell antisemitisch" heißt: einer bestimmten Anschauung oder Handlungsweise liegt eine gedankliche Struktur zugrunde, die dem Antisemitismus entspricht.
Verwirrt? Macht nichts, steigen wir mit einem einfacheren Beispiel ein. Dem "strukturellen Rassismus.
Rassismus geht davon aus, dass die "eigene Rasse" in irgendeiner Weise "hochwertiger" sei als andere "Rassen".
Strukturell rassistisch ist es, zwar auf den Begriff der rassischen Überlegenheit zu verzichten, aber troztdem die aus dem Rassismus bekannte Denkstruktur zu verwenden. Deutsche sind für einen "strukturellen Rassisten" nicht deshalb "Kanakern" überlegen, weil die "Kanaker" keine Weißen (Europäer, "Arier") sind, sondern weil die "Kanaker" nun mal aus einer "primitiven (mittelalterlichen, religiös fanatisierten, nomadischen, streng patriarchalischen, zerrütteten usw. ) Kultur" stammen und deshalb keine vollwertigen Mitmenschen sein können. (Für "Kanaker" kann eine beliebige Einwanderergruppe oder Minderheit eingesetzt werden.)
Diese Form des "struktuellen Rassismus" kann man auch "Kulturalismus" nennen, wenn man Wert auf passend beschriftete Schubladen legt.
Anderes Beispiel: die Pseudowissenschaft "Metagenetik" (in der von McNallen begründeten Form) entspricht in ihrer Struktur der älteren "Blut und Boden"-Lehre, verwendet aber ein modernes und auf den ersten Blick wissenschaftlich-neutrales Vokabular. Weil ein "Metagenetiker" aber in exakt den selben Bahnen argumentiert wie ein "Blut und Boden"-Theoretiker, und weil die Lehre von "Blut und Boden" eindeutig rassistisch ist, kann man mit Fug und Recht die "Metagenetik" als strukturell rassistisch bezeichnen. Zugleich ist sie ein Beispiel für "verdeckten Rassismus".
Der Antisemitismus teilt Merkmale des Rassismus, ist aber ein Sonderfall: Kein Antisemit würde auf die Idee kommen, etwa Juden nach dem üblichen rassistischen Muster als faul oder dumm zu bezeichnen. Tatsächlich trauten Antisemiten wie Wilhelm Marr, Jörg Lanz "von Liebenfels" und sogar Adolf Hitler "den Juden" einige geradezu "übermenschliche" Fähigkeiten zu. Stattdessen gelten Juden dem Antisemiten als zwar schlau, intelligent, geduldig, sogar gebildet usw. - aber dabei immer auch als feige und hinterhältig, als gierig und verlogen.
Allesamt Attribute, die für den Antisemiten klar machen, dass Juden typischerweise eher im Hintergrund die Fäden ziehen und davor zurückschrecken, sich selber die Finger schmutzig machen.
Eine für Demagogen sehr praktische Methode. Denn dies ermöglicht es beliebige Fehlschläge darauf zu schieben, dass die Juden die Sache heimlich sabotiert hätten. So geschehen z. B. nach dem für Deutschland verlorenem ersten Weltkrieg. "Die Roten" hätten an "der Heimatfront" Verrat an den heldenhaft kämpfenden deutschen Soldaten geübt, ihnen "den Dolch in den Rücken gestoßen". Und weil die "Roten" nun mal verhetzte, aber im Grunde gutwillige "deutsche Arbeiter" waren, müssen die wahren Drahtzieher der schändlichen Niederlage "die Juden" gewesen sein - man weiß ja, denen kann man alles zutrauen ...
Bei der Weltwirtschaftskrise wiederholte sich das üble Spiel, und für die Nazis waren die Juden an allem, aber wirklich allem Schuld, was einem aufrechten Nazi nicht in den Kram passte.
Nun ist diese Methode durchaus auch ohne Juden möglich. Das Großunternehmen XY-AG geht also nicht deswegen in den Konkurs - und einige tausend Arbeitsplätze flöten - weil die Konkurrenz am Markt einfach besser wäre, oder die Unternehmensleitung schwere Fehler gemacht hätte, oder die Rahmenbedingungen nicht günstig waren - oder, was auch vorkommt, ein Konkurrent schlicht weniger Skrupel z. B. bei Betriebverlagerungen in Billiglohnländer gehabt hätte usw. - oder, meistens, viele dieser Faktoren zusammen - sondern deswegen, weil eine kleine Handvoll gieriger Manager oder skrupelloser Investment-"Heuschrecken" (gern Ausländer, gern in New York, London, Hongkong oder Singapur sitzend) sich bereichern wollten.
Die Vorstellung, dass ein "kerngesundes Unternehmen" durch die "Machenschaften" fieser "Drahtzieher" mutwillig "gegen die Wand gefahren" wird, damit sich ein paar "kriminelle Manager" oder "geldgeile Heuschrecken" bereichern können, entspricht in ihrer "Erzählstruktur" einer klassischen antisemitischen Verschwörungstheorie. Das macht das Ganze "strukturell antisemitisch" - auch wenn niemand "die Abzocker" oder "die Heuschrecken" für Juden hält oder absichtlich mit "den Juden" gleichsetzt.
Wenn man z. B. der NPD "strukturellen Antisemitismus" nachsagt, ist das falsch - weil die NPDler typischerweise "echte" Antisemiten sind, die ihre Gesinnung aber mehr oder weniger geschickt tarnen. (Aber die NDP hat, um die Verwirrung komplett zu machen, sehr wohl "antisemitische Strukturen" - z. B. internes antisemitisches Schulungsmaterial, ihre Propaganda enthält antisemitische Deutungsmuster für Krisen, ihre Funktionäre haben haufenweise antisemitische Vorurteile und Klischees und verbreiten diese usw. usw. .)
Daher ist es auch kein Grund zur Empörung, wenn demographische Studien z. B. ergeben, rund 40 % aller Deutschen hätten ein "strukturell antisemitisches Weltbild". Viele der Befragten haben keine oder nur wenige antijüdische Vorurteile - aber sie denken z. B. in den Bahnen ursprünglich antisemitischer Verschwörungstheorien.
Antizionisten können sowohl strukturelle wie uneingestandene Antisemiten sein - im ersten Falle wird die Rolle, die traditionell "den Juden" zugeschrieben wird, einfach auf eine Untergruppe der Juden, eben die Zionisten, beschränkt. Im zweiten Falle ist der "Antizionist" einfach ein Antisemit, der sich nicht gerne Antisemit nennen lässt.
Und wer das mit der Struktur kapiert hat, der begreift auch, wieso ich manche Antifas für "strukturell faschistoid" halte.
MMarheinecke - Mittwoch, 6. Juni 2007
Hmjjjjjjaaaaaa neeeeeeeein...
Dein Beispiel vom strukturellen Rassismus - das würde ich eher als getarnten Rassismus ansehen. Kulturalismus seh ich auch als eine neue, rhetorisch entschärfte Rassismusvariante an, aber es ist noch ganz normaler, bekannter Rassismus.
Weil: er betrifft genau die selben Menschen, die vom altbekannten Rassismus auch schon betroffen waren, nur mit halt nem neuen Mäntelchen, und andere Sprache/Kultur ist für Kulturalisten noch lange kein Grund, jemand auszuschliessen - es ist nach wie vor "Rasse", ansonsten müsste man die Friesen z.b. auch wegen anderer Sprache/Kultur a la Kulturalismus mit Vorurteilen eindecken. Das geschieht aber nicht.
Oder ich habs nicht wirklich verstanden, was du meintest... *g*
Was den strukturellen Antisemitismus angeht, da habe ich das Beispiel, denk ich mal - verstanden. Wieder was gelernt.
In diesem Fall ist meine Ansicht zu dem Begriff "struktureller Antisemitismus": Der Begriff ist sehr unglücklich gewählt, weil ich finde, daß man damit sehr, sehr vieles in die Kategorie "Antisemitismus" packen könnte, und damit der Begriff des "echten Antisemitismus" verwässert wird.
Ich bring auch mal ein Beispiel: Leute, die alle und alles für Faschos halten, oder Leute, die bei allem möglichen gleich Antisemitismus schreien (ich denk da mal an die lieben Antideutschen) machens am Ende unmöglich, noch einen klaren Begriff zu haben, was Antisemitismus überhaupt ist. Also, wenn einen der Türsteher mit einem Fremdgetränk nicht in die Disko reinlässt und er deswegen ein Antisemit ist, (obwohl man selbst mitnichten Jude ist) dann wird irgendwann der Antisemitismusbegriff absurd.
Und was das Ergebnis der Studie angeht, und die Empörung: Ein so schwieriger Begriff, der sich aufs Erste nun mal nach "Antisemitismus" anhört, und nach weiter nix, ist da sicher auch mit dran schuld, wenn sich empört wird, wer weiß denn schon, daß damit jetzt nicht gemeint ist, dass man Vorurteile gegen Juden hätte, sondern daß gemeint ist, daß man Vorurteile hat, die vor allem gegen Juden gehegt werden, nur daß man die halt nicht gegen Juden hegt?
Das mit der Struktur stimmt natürlich, daß es bisweilen ähnliche Strukturen gibt die verschiedenen Denkweisen zugrunde liegen, oder die gleiche Struktur. In dem Sinne sind manche Antifas auch strukturell faschistoid, wobei - was ist "faschistoid". Faschistenähnlich? Oder "Wie Faschisten"? Dann kannst du dir das "strukturell" fast sparen. Es wäre durch das "-oid" schon mit drin.
Du hast es schon verstanden
Zurück zum Thema: ich finde auch, dass der Begriff "struktureller Antisemitismus" sehr unglücklich gewählt ist. Auch ich benutze ihn regelmäßig falsch.
Ja, strukturell faschistoid ist, in mancher Hinsicht, doppelt gemoppelt. In anderer wieder nicht - aber das wird mir zu haarspalterisch und zu theoretisch.
Ja, gut getroffen
Was nicht heißt, dass ich diese Anti-McDonald-Proteste für zielführend oder sinnvoll halte. Der wirksamste Prostest gegen "McDoof" ist immer noch: einfach nicht dort essen. Zwingt einen ja keiner. Bei uns im Stadtteil hat neulich der MacDonalds dichtgemacht - mangels Kundschaft. (Absehen davon, dass der "stille Kaufboykott" keine wirklich antiamerikanischen Trittbrettfahrer mobilisiert.)