Neidinge - was ein altgermanischer Begriff mit dem Überwachungsstaat zu tun hat

Wenn ich mir die Argumentation diverser Innenminister und der ihnen zuarbeitenden / sie beeinflussenden Sicherheitsexperten ansehe, und Artikel zu einschlägigen Themen in der Presse nachlese, dann stelle ich fest, dass es für viele politische Entscheider zwei Kategorien der Kriminalität gibt: "normale" Kriminalität und "Sonderverbrechen". Für "Sonderverbrecher" gelten "normale" Bürgerrechte nicht - Innenminister Schäuble stellt sogar die Unschuldsvermutung zur Disposition.
Interessanterweise kommen diese politischen Entscheider damit bei großen Teilen der Bevölkerung durch. Warum?

Die "Sonderverbrechen", die Einschnitte in Bürgerrechte nach sich ziehen, sind derzeit in Deutschland (in abnehmender Reihenfolge der "Schrecklichkeit") Terrorismus, Sexualdelikte gegen Kinder, mit einigem Abstatand organisierte Kriminalität und - mit deutlichem Abstand und längst nicht bei allen politischen Entscheidern - rechtsextreme Straftaten. Dass es sich um besonders verabscheuenswürdige Delikte handelt, die energisch bekämpft werden müssen, bestreite ich nicht. Dass für die Bekämpfung dieser Delikte Bürgerrechte eingeschränkt werden müssen, bestreite ich hingegen sehr.

Was unterscheidet einen Terroristen von einem "normalen" Mörder, oder einen "Kinderschänder" von einem "normalen" Sexualstraftäter und einen Sexualstraftäter von, sagen wir mal, einem Dieb?

Ich beschäftige mich intensiv mit der Gesellschaft der vorchristlichen Germanen. Dabei stieß ich auf den Begriff "Neiding".

Der Neiding (althochdeutsch nidding, altnordisch níðing) war bei den
Germanen ein besonders boshafter Mensch, der sich durch seinen nid(d) (anord. níð) außerhalb der menschlichen Gesellschaft stellte. "Neid" leitet sich von "nid" ab, allerdings mit stark abgeschwächter Bedeutung - nid bedeutet außer (verzehrendem) Neid soviel wie Bosheit, Arglist, Heimtücke. Eine "Neidingstat" führte zur Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft, ein Neidung wird für friedlos erklärt (angelsächsisch ûtlah [engl. outlaw], mittelniederdeutsch uutlagh, nordisch utlagr). Friedlosigkeit bedeutet die Feindschaft allen Volkes. Niemand darf ihn unterstützen, beherbergen und nähren. Er ist vogelfrei und muß im Walde Schutz, gleich dem Wolfe und wird deshalb auch "varc", "vearg", "varg" genannt. Der Friedlose gilt als für das Recht tot, seine Frau (oder ihr Mann) rechtlich als verwitwet und seine Kinder als Waisen, sein Hab und Gut wird entweder durch die Sippe eingezogen oder wird zerstört.

Auf die mythologischen Bedeutungen von Neiding, z. B. der damit verbundenen Bessesenheits- und Werwolfvorstellunge gehe ich hier nicht ein; dass führt zu weit. Wichtiger ist, dass die Art eines Verbrechens und die Art und Weise der Ausführung darüber entscheid, ob jemand ein "Normalstraftäter" oder ein Neiding war.

Ein Beispiel: tötete jemand einen Menschen absichtlich, dann war das nicht in jedem Fall "Mord": außer, wie heute noch, bei Tötung im Affekt (Totschlag) und in Selbstverteidigung galten Tötungen aus Rache, im Duell oder nach massiver Provokation nicht als "Mord". Mord wird heimlich, unter Ausschluss des Volkes bzw. der Sippe, und vorsätzlich, planvoll, verübt. "Einfacher" Mord, etwa mit einer Stichwaffe auf offener Straße, ist keine "Neidingstat", Giftmord oder Ermordung eines Hilfslosen dagegen ist eine - "Arglist".

Auch die Anwendung von Schadenzauber galt als Neidingstat, was z. B. auch in den frühneuzeitlichen Hexereivorstellungen in abgewandelter Form weiterlebte. (Es gibt nach germanischen Vorstellung zwei Arten der Zauberei oder Magie, Seidr [Seiðr] und
Galdr - Seidr wird meist in der Abgeschiedenheit ausgeübt, weshalb ein Seidrtreibender leicht des Schadenzaubers bzw. des Nid verdächtig werden konnte. Tatsächlich waren im Hochmittelalter Seidr und Schadenzauber nahezu gleichbedeutend.)

Es wäre ein kühne (und wahrscheinlich unzutreffende) Annahme, dass die germanische Neiding-Vorstellung einen direkten Einfluß auf die heutige deutsche Mentalität hätten.
Aber die Vorstellung, dass bestimmte Verbrechen Menschen zu Un-Menschen, zu Vargen, machen, scheint in der Öffentlichkeit weit verbreitet zu sein.

Für eine Stammesgesellschaft, in der praktisch jeder jeden kannte und jeder auf jeden angewiesen war, war der Neiding und seine Friedlosigkeit noch eine praktikable "Rechtskonstruktion" des Volksrechtes. Schon in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft war das nicht mehr der Fall: wer "Neiding" war, bestimmten in solchen Gesellschaften die Autoritäten - auch "unsoldatisches" Verhalten, zunehmend auch "unmännliche" Verhaltensweise, in christlichen Zeiten auch "sündiges" Verhalten - galten von nun an als "nid". Im Zuge der zunehmenden Obrigkeitsstaatsbildung Irgendwann waren dann "gesellschaftsfeindliche" und "staatfeindliche" Aktivitäten "Neidtaten". Wie schon erwähnt, spielten auch bei der Hexenverfolgung defomierte Neidings-Vorstellungen eine große Rolle. Und Schwule werden bis in die Gegenwart mit Vorurteilen konfrontiert, die durchaus dem alten Neiding-Begriff ähneln.

Weil die Idee, eine bestimmte Art "Superverbrechen" müsse einen Menschen "friedlos" machen, analog der Neidungs-Vorstellung in einer anonymen Massengesellschaft mit gut funktionieremden Desinformationsapparat nur Un-Heil anrichten kann, darf sie bei der Strafverfolgung keine, aber wirklich keine, Rolle spielen.
Es darf keine Abstriche von den Grundsätzen der Humanität, des Rechtsstaates, der rechtlichen Gleichheit aller Menschen, der grundsätzliche Gleichbehandlung aller Delikte, geben. Und erst recht keine Einschränkungen der Menschen- und Bürgerrechte - für niemanden!
Wir sind nun einmal keine Stammesgesellschaft mehr.

Auf spirituellem Gebiet und dem der persönliche Ehre sehe ich das allerdings anders. Da sehe ich Nazis schon mal als arge Varge und mache schon einen Unterschied zwischen einem "normalen" und einen "heimtückischen" Verbrechen. Aber das ist Sache der Moral - und Moral sollte nicht Gegenstand des Strafrechtes sein!
Sven (Gast) - 19. Apr, 22:33

Man kann die Rechtlosigkeit in germanischen Kulturen auch anders interpretieren. Erstmal, indem man das Recht an sich als eine Art "Besitzstand" begreift, dann, indem man diesen "Status" aus dem Komplex der "Gut und Böse"-Polarisation löst, und wenn man sich dann noch klarmacht, dass dieser Status in der Verantwortung des "Besitzers" liegt. Ein Rechtloser war niemand, dem man "das Recht" aberkannt oder abgenommen hätte, sondern jemand, der sich selbst außerhalb des Rechts (und damit des menschlichen Miteinanders) begeben hat. Sozusagen freiwillig. Ein Neiding wird nicht ausgestoßen sondern "geht". Drum ist er ja dann auch "gestorben" für's restliche Sozialgefüge.

Ich hatte da mal was im alten Gjallarhorn drüber geschrieben, Anlass war damals die Mafia bzw. der Bürgermeister von Palermo (wars der Bürgermeister?), der dieses Prinzip schön erklärt hatte - wart mal, ich such dir mal die Links.

Ah, hier der Gjallarhornartikel, und hier die Diskussion dazu im Froum

MMarheinecke - 19. Apr, 23:22

Ja, das macht Sinn, auch wenn ich in meinem Artikel der heute wohl üblichen Interpretatation der Friedlosigkeit aus "Ausstoß aus der Gemeinschaft bei Aberkennung aller Rechte" folge. Allerdings: von selber gemerkt, dass sie sich außerhalb des Gesetzes gestellt hätten, haben wohl die wenigsten Neidinge. Deshalb die Verbannung nach Thingbeschluß.

Moralisch ist die Idee, ein Neiding hätte sich selbst außerhalb des Rechts gestellt, schlüssig und einleuchtend. Aber fürs das Strafrecht - und darum geht es - taugt auch diese Sichtweise nicht. Ich bleibe dabei, dass moralische Überzeugungen nicht Sache der Strafrechts sein dürfen (leider sind sie es immer wieder, was besonders beim Sexualstrafrecht deutlich wird).
Übrigens: Aus meiner Sicht ist Schäuble ein Neiding am Grundgesetz.
Sven (Gast) - 21. Apr, 09:29

Eben, ich denke, dass das mit heutigen Interpretationen schlecht gemischt werden kann, da ein "Neiding" nur in einem Rechts-Verständnis (bzw. kompletten Weltbild und Selbstverständnis) Sinn macht - ein Kernpunkt dieses Weltbildes ist eben jenes "er macht es selbst" - eine "Verbannung" auf dem Thing ist in einem solchen Kontext nicht ein "Urteil" sondern eine reine "Feststellung". Das "Recht" jedes Menschen war in diesem Verständnis nicht angreifbar von anderen - niemand konnte jemandem "sein" Recht wegnehmen. Wir haben eine solche Vorstellung heute eigentlich nur noch beim Urheberecht - um das zu verlieren muss ich auch erstmal eine Weile tot sein. Wenn ich also keins habe bin ich schon ein Weilchen tot. So ähnlich ist die "Logik" mit dem Recht und dem Rechtlosen, der sozial "tot" ist - denn würde er noch "leben" dann hätte er ja auch "Recht" (z.B. an. rettR) ;-)

Das heutige Strafrecht hat mit solcherlei Weltbildern, Vorstellungen o.ä. nichts zu tun.

Ja, insoweit ist es schwierg, nur einen kleinen Teilaspekt davon seitens unserer Politiker und Gesellschaft "beibehalten" zu sehen, denn das eine passt nicht zum anderen und umgekehrt. Und wer das eine dennoch im Kontext des anderen vertritt kommt am Ende auf seltsame, wenn nicht gefährliche Gedanken. Da gebe ich dir völlig recht.
Sven (Gast) - 21. Apr, 09:31

(oben soll es natürlich "in seinem Rechts-Verständnis" heißen...)
Sven (Gast) - 21. Apr, 11:51

(was mit dem aktuellen Kontext passiert, wenn man Prinzipien aus einem anderen Kontext ohne den Hintergrund dazu (alos ohne die Anpassung der damit verknüpften Paradigmen) überträgt beschreibt Prantl in dem von dir verlickten Artikel ja auch sehr schön)
T. Albert (Gast) - 21. Apr, 11:02

@Martin, das ist ja interessant!
Ich frage mich aber, ob die "moralische Logik" , die jemanden zum Neiding macht, bezügl. der Terroristen wirklich so gemeint ist, oder ob hier nicht was ganz anderes passiert, nämlich eine permanente Anerkennung des Politischen und Militärischen, während man offiziell so tut, als existiere daran keine Teilhabe. Wenn Staaten einen Krieg gegen den Terror ausrufen, dann ist das eine Anerkennung der Terroristen ja zumindest als Kombattanten,- was intelligenterweise eine RAF-Dauerforderung war, auch die Anerkennung und Behandlung als Kriegsgefangene entsprechend Genfer Konvention, Haager Landkriegsordnung usw.
- das heisst, die Terroristen werden nicht einfach wie andere Straftäter mit juristischen Mitteln verfolgt. (Im Falle RAF schon.) Stattdessen dreht man die Sache um und passt die Zivilgesellschaft und ihre Rechtssysteme mitsamt Kriegsrecht einem Begriff von Krieg und seinen Teilnehmern an, der von Exekutiven immer neu definiert wird; irgendwann werden wir uns die Augen reiben vor Erstaunen, dass wir mitgemeint sind. Schon aus sprachlichen Gründen hätte es diesen "Krieg gegen den Terror" nie geben dürfen. Die Terroristen werden eben nicht als Neidinge behandelt, und als Objekte normaler Strafverfolgung auch nicht.
- Das wäre mein Einwand.

MMarheinecke - 22. Apr, 00:14

Ich sehe da eine historische Abfolge

Denn die "militärische Ethik" ist m. E. eine hierachisch verzerrte Stammesethik. Was sich z. B. am Begriff der "Ehre" ablesen läßt. Auch das militärische Feinbilddenken läßt sich auf die
bei Stammesgesellschaften beobachtete Trennung zwischen "Wir" (der Stamm, die Heilsgemeinschaft, die Rechtsgemeinschaft) und "die Anderen" (Fremde, Friedlose) zurückführen - allerdings in erstarrter Form - in Stammesgesellschaften ist die Abgrenzung zu "den Anderen" sehr flexibel, im militärischen Denken eine starre Vorgabe - spontane Verbrüderungen zwischen "feindlichen" Soldaten kommen vor, werden aber ungern gesehen.
So gesehen besteht kein Widerspruch zwischen unseren Aussagen.

Du hast Recht - die Militarisierung des "Anti-Terror-Kampfes" ist der entscheinden Fehler der derzeitigen Politik, der z. B. gegen die RAF, gegen die Brigada Rosso oder auch gegen die ETA nicht unterlaufen ist (gegen die IRA schon - aber da war lange Zeit der Überganz zwischen Bürgerkrieg und Terrorismus fließend - wie übrigens in weitaus stärkerem Maße im Irak.

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