"Ungleichheit fördert Gewalt" - nicht ganz überraschend ...

... aber ganz gut, es noch einmal von wissenschaftlicher Seite bestätigt zu bekommen.
Pressemitteilung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Ungleichheit fördert Gewalt.

In dem grade erschienenen Buch "Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität. Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950-2000" sind die Ergebnisse eines gleichnamigen Projektes zusammengefasst. Die beiden Soziologen Helmut Thome und Christoph Birkel stellen darin fest, dass die Gewaltkriminalität in Deutschland, England und Schweden wie in fast allen ökonomisch hoch entwickelten Ländern in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts deutlich angestiegen ist, nachdem sich seit Beginn der Neuzeit die individuelle Gewaltanwendung stark rückläufig entwickelt hatte.

Allerdings taugen ihre Ergebnisse wohl nicht als Propaganda-Futter für kontroll-besessene Politiker - obwohl auch sie der Ansicht sind, dass die derzeit stabilen oder sinkenden Raten bei einigen wichtigen Arten von Gewaltverbrechen (z.B. Raub) nur bedingt Anlass zur Entwarnung seien. Bis in die 1990er Jahre hätte es einen erheblichen Anstieg gegeben und vor dem Hintergrund dieses hohen Niveaus müsse man die erfreuliche Entwicklung der letzten Jahre sehen. (Die Freunde polizeistaatlicher "Lösungen" und des "harten Durchgreifens" neigen bekanntlich dazu, den Rückgang überhaupt nicht wahrzunehmen.)

Wenn Thome feststellt: "Der ökonomische und soziale Strukturwandel hat zum Anstieg der Gewaltkriminalität wesentlich beigetragen" und klagt: "Ökonomischer Erfolg zählte mehr und mehr, die soziale Ungleichheit wurde größer, gemeinschaftsbildende Milieus lösten sich auf und alte Wertorientierungen wurden in Frage gestellt", dann klingt das allerdings verdächtig nach den konservativ-"linken" Feuilleton-Litaneien, nach denen im Zweifel immer die Globalisierung, der Abbau des Primats der Polikt gegenüber der Wirtschaft und die Vereinzelung des Menschen am zunehmenden Egoismus schuld sei, der dann zwangläufig kriminell machen würde.

Vielleicht trügt dieser Eindruck, denn Thome und Birkel wählten einen differenzierten Erklärungsansatz für den Anstieg der Gewaltkriminalität, der an Emile Durkheim anknüft. Eine gängige These macht die "die Individualisierung" für den Anstieg der Gewaltkriminalität verantwortlich; die Autoren unterscheiden hingegen zwischen einem (pazifizierenden) "kooperativen" und einem (gewaltaffinen) "desintegrativen" Individualismus.

"Das von uns entwickelte Erklärungsschema ist beim Verständnis nicht nur des Anstiegs der Gewaltkriminalität in der Vergangenheit, sondern auch von aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und Wirtschaft hilfreich und erlaubt es, ihre gesellschaftlichen Folgen einzuschätzen", erläutert Christoph Birkel. So sei die aktuell diskutierte Verbesserung der öffentlichen Kinderbetreuung als eine Stärkung des "kooperativen Individualismus" zu interpretieren und als solche dem sozialen Zusammenhalt förderlich. (Wobei mir nicht ganz klar ist, ob er das erzieherisch, bezogen auf die Kinder, meint, oder darauf, dass Eltern sich mit ihren Problemen nicht allein gelassen fühlen.)
"Weitere Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen und Kontrollen für Empfänger von Arbeitslosengeld II würden hingegen die gesellschaftliche Entwicklungstendenz in Richtung eines 'desintegrativen Individualismus' beschleunigen und wären mit hohen Nebenkosten in Form von unmittelbaren Kontrollkosten, aber zum Beispiel auch einer Verringerung des sozialen Kapitals verbunden."

Die Autoren sind sich einig: Um die Bereitschaft zur Gewaltkriminalität zu senken, müssten Solidarstrukturen neu aufgebaut werden. "Wir benötigen kooperative Strukturen. Aber natürlich ist es nicht nur die Aufgabe des Staates, sie zu schaffen. Bürger aller sozialer Schichten müssen sich dafür engagieren."

Ich bin der Ansicht, dass die notwendigen neuen kooperativen Strukturen nicht nur "nicht allein" Aufgabe des Staates sind, sondern dass sie ergänzend, alternativ und oft sogar gegen "den Staat" aufgebaut werden müssen. Zum Beispiel: mehr Angebote (!) zur Kinderbetreuung, aber bitte ohne staatlich kontrollierte Zurichtung der Kinder und ohne obrigkeitsstaatliche Eingriffe in die Erziehung. Es muß auch immer Alternativen zu staatlichen und quasi-staatlichen Krippen, Kindergärten, Kindertagesstätten geben - so viele, wie möglich und mit so viel Selbstverwaltung und Mitbestimmung der Elten wie möglich.

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