Warum Ausschwitz? - Gunnar Heinsohn glaubt es zu wissen

"Der Holocaust gilt als unerklärbar, ist es aber nicht" schreibt Gunnar Heinsohn im Tagesspiegel: Warum Auschwitz?

Heinsohns nicht neuer Ansatz ist, dass Hitler die Juden vernichten wollte, um ihre Ethik zu vernichten.
Heinsohns Versuch einer kurzen Antwort ist problematisch. Weil es (wieder einmal) ein auf Hitler zentrierter Ansatz ist, der vielleicht erklären könnte, wie seine Ideologie (allenfalls noch die einiger ganz harter Nazis) funktioniert haben könnte. Offen bleibt, wieso Millionen Deutsche und ihre kollaborierenden europäischen Helfershelfer "sein" sehr abstraktes Programm zur Ausrottung der Juden zwecks Ausrottung ihrer Ethik umsetzten.

Auch aus anderen Gründen ist der Ansatz problematisch.
Hitler wollte die archaischen Stammespraktiken des Infantizids und der Völkervernichtung wiederherstellen und dafür das Volk des Tötungsverbotes der Zehn Gebote auslöschen. Bald nach dem Ersten Weltkrieg hatte er das Judentum als Verursacher für die ethische Überwindung dieser uralten Tötungssitten identifiziert. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Krieg von 1914–18 schob er auf „religiöse Prinzipien“. Sie seien allein von deutscher Seite eingehalten worden, wodurch der Wille zum bedingungslosen Töten für den Sieg „zersetzt“ worden sei. Diese Analyse erstellte Hitler ohne persönlichen Hass auf Juden, er war frei von „Radau-Antisemitismus“.
Zuerst wäre zu Fragen, ob Infantizid und Völkervernichtung tatsächlich archaische Stammespraktiken waren, dann, ob Hitler und wie er denkende Vernichtungsideologen wirklich meinten, dass archaische Stammespraktiken auch Infantizit und Völkervernichtung umfassen. Die erste Frage läßt sich aus ethnologischer, archäologischer und althistorischer Sicht klar verneinen: Infantizit - Kindesmord - war und ist in Stammesgesellschaften eine verzweifelt Notmaßnahme. Das vielzitierte Sparta, in dem kranke oder schwächliche Neugeborene getötet wurden, war längst keine archaische Stammesgemeinschaft mehr, sondern ein hoch entwickelter autoritärer Staat. Völkervernichtung ist auch etwas, dass erst auf relativ "hohem" Entwicklungsstand eines Staates denkbar ist. Es stimmt zwar, dass Stammesgesellschaften dazu neigen, den Begriff "Mensch" auf das eigene Volk zu beschränken, für einen Völkermord bedarf es aber einer darüber hinausgehenden Ideologie, in der "die Anderen" als tödlichen Bedrohung erscheinen, die nur durch ihre totale Vernichtung gebannt werden kann - und es geht nicht ohne straffe und disziplinierte Organisation, wenn wirklich ganze Völker ausgerottet werden und nicht "nur" etwa die Einwohner eines Dorfes "spontan" ermordet werden sollen.
Ob Hitler glaubte, dass "in grrrauärr Voorrzeitt" wirklich solche rücksichtlosen Sitten geherrscht hätten, kann ich nicht beantworten. Klar ist, dass seine Vorstellung von einer "gesunden Volksgemeinschaft" die brutale Ausrottung von "lebensunwertem Leben" und "Volksschädlingen" umfasste. Er projezierte seine grauenvolle Utopie auf die "alten Germanen", auf das antike Sparta, auf das Rom der Expansionszeit, auf das Stauferreich und auf eine sagenhafte "nordische" Urzivilisation - wobei er historische Tatsachen nach gutdünken ignorierte oder verzerrte.

Klar beantworten läßt sich auch, dass Hitler das Gewissen für eine "jüdische Erfindung" hielt, und glaubte, Deutschland hätte den erste Weltkrieg verloren, weil es "zu weich" gewesen wäre. Er sah in den zehn Geboten tatsächlich "zersetzenden jüdischen Ungeist". Wichtig ist aber auch, dass er der Ansicht war, dass "die Juden" insgeheim auch "völkisch" dachten und sich selbst nicht an die von ihnen "erfundenen" moralischen Gebote hielten, dieses "Gift" aber in allerlei Verkleidungen - christliche Ethik, Humanismus, Menschenrechte, Demokratie usw. - unter anderen Völkern ausstreuten, um ihre Kampfkraft zu schwächen.
Es ging ihm um die Vernichtung der "jüdischen Rasse" und des "jüdisch verseuchten" Denkens. Hitler hatte vor dem 1. Weltkrieg anscheinend wirklich keinen persönlichen Hass gegen Juden, vielleicht auch später nicht, aber viele Nazis, sogar in hohen Funktionen, waren primitive Judenhasser und "Radau-Antisemiten", man denke z. B. an Julius Streicher. Auch wenn Streicher Hitler persönlich zu vulgär war - er ließ ihn gewähren. Es diente ja dem "guten" Zweck der Judenvernichtung.

Die entscheidenden - und über den konkreten Fall Hitlers hinnausweisende - Punkte sind die "der Zweck heiligt jedes Mittel" "Ethik", das Machtdenken, in dem Symphatie, Rücksicht, Gewissen nur als Hindernis zu begreifen sind, und die paranoiden Verschwörungsängste, die sich unzufälligerweise auf die "tradionell" verhaßten Juden konzentrierten.

Je länger der Nationalsozialismus vorbei ist, desto stärker wird er bekämpft. Nützlicher ist es allemal, sich auf die "modernen" Erben der alten Nazis zu konzentrieren, auf deren Antisemitismus, deren Ideologie, deren brutale Machtphantasien, um neues Unheil zu vermeiden. Es kommt darauf an, Menschenrechte und Demokratie zu schützen, Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen
Rayson (Gast) - 28. Jan, 19:47

Es scheint mir die Voraussetzung eines erfolgreichen Antisemitismus zu sein, nicht zu kompliziert zu werden. Und kennzeichnend für die Gnadenlosigkeit des NS-Regimes ist vielleicht weniger "der Zweck heiligt die Mittel", denn diese Formulierung setzt im Grunde schon Skrupel voraus...

MMarheinecke - 28. Jan, 20:50

Auch viele Nazis hatten ein schlechtes Gewissen

Weshalb es auch innerlich ganz logisch ist, der irrwitzigen Vorstellung Hitlers, das Gewissen sein eine jüdische Erfindung, glauben zu schenken. Mir drängt sich das Bild eines Soldaten bei einer Gefangenenerschießung auf: "Mein schlechtes Gewissen haben mir nur diese verdammten Juden eingeredet" - Er überwindet "heroisch" seinen "inneren Schweinehund" ("inneren Juden") und drückt ab. Genau so betrachte ich die "der Zweck heiligt die Mittel" Gnadenlosigkeit - das eigentliche Ziel des "3. Reiches" war die "Befreiung der Erde von den Juden" - der 2. Weltkrieg "nur" das Mitel zum Zweck, sogar der "Endsieg" war nachweislich gegenüber dem Völkermord von nachrangiger Bedeutung.

Klar, Leute vom Schlage eines Streicher oder - ganz andere Ausrichtung - eines Eichmanns hatte keine Skrupel (und Eichmann wohl auch keinen Hass). Ob Hitler welche hatte, hat er nicht verraten. Aber die Art und Weise, in der sich Mittäter wie Speer oder einige Wehrmachtsgeneräle wortreich über ihren Anteil am ultimativen Verbrechen hinweglogen, deutet m. E. auf ein grottenschlechtes Gewissen hin.
T. Albert (Gast) - 29. Jan, 20:41

Aber könnte das von Bedeutung sein, ob die "schlechte Gewissen" hatten? Ich glaub`sowieso eher, dass die einfach ihre miese Haut retten wollten.Funktionelle Gewissen. - Heinsohns Argument finde ich unterkomplex und sprachlich merkwürdig: "Diese Analyse erstellte Hitler ohne persönlichen Hass auf Juden, er war frei von „Radau-Antisemitismus“."- Soso. Doch eine Art Idealist. Wer war denn "Radau-Antisemit?"

MMarheinecke - 29. Jan, 21:13

Unterkomplex ist typisch Heinsohn

Monokausale "Patenterklärungen" ziehen sich quer durch die populären Werke dieses Sozialwissenschaftlers. Egal, ob es um die Hexenverfolgung, zur Entstehung des Monotheismus oder des Terrorismus geht. Die "einfachen" Erklärungen schränken den Wert seiner Erkennisse stark ein, macht ihn andererseits talkshowtauglilch.

"Radau-Antisemit" ist es Ausdruck Maars, der sich als "aufgeklärter", "wissenschaftlicher" Antisemit sah, mit der sich vom gefühlsmäßig begründeten, auf leicht durchschaubare Klischees und Vorurteile zugrückgreifenden und oft spontan und unüberlegt gewältätigen "Vulgärantisemitismus" abgrenzte.
Hitler sah sich ähnlich wie Maar als aufgeklärter und kühler Analytiker des "Weltjudentums", er hielt sich wohl wirklich für einen poliltischen Denker einzigartigen Ranges. Als pragmatischer Machtmensch fand er aber "bohnenstrohdumme" Raudau-Antisemiten nützlich - solange er sie unter seiner Kontrolle hatte. Julius Streicher wurde insgeheim von Hitler (und mehr noch von Goebbels) ob seiner vulgären Art und der Primitivität seiner Haßpropaganda verachtetet, der "Stürmer"-Herausgeber war aber unentbehrlich, um die "Radau-Antisemiten", die "Straße" für die "Drecksarbeit" der direkten Gewaltanwendung gegen Juden zu mobilisieren.

Zu den NS-Tätern, die wie Speer ihre miese Haut retteten: Menschen ohne Gewissen sind definitionsgemäß Soziophathen, also in gewisser Hinsicht psychisch krank. Das paßt eventuell zum gefühlskalten und zur Einfühlung in andere Menschen unfähigen Eichmann, aber z. B. zu Speer paßt es einfach nicht (zu Hitler zum Teil, aber er war wahrscheinlich nicht der Mann ohne Skrupel, als der er sich gerne hinstellte). Speer belog nicht "nur" andere, er belog sich meines Erachtens auch selbst.

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