Kreativ?
Bezeichnenderweise benutzt das Adjektiv "kreativ" niemand, der über van Gogh oder Dürer schreibt.Diese Behauptung fand ich in einer Leseprobe aus "Schöner Denken", einem satirischen Lexikon über die Phrasen und Floskeln mit denen Politiker und Medienleute die Welt erklären.
Wenn ich mich aufmerksam umhöre, dann kann ich ihr nicht widersprechen.
"Kreativ" ist seit mindestens 30 Jahren eine ständig eingeforderte Qualität, vor allem in Stellenanzeigen. Was darauf schließen läßt, dass Kreativität ein gesuchtes, wahrscheinlich sogar ein knappes "Gut" ist.
Dem steht eine häufig zu beobachtende tiefe Verachtung für "kreative Spinner" gegenüber. Die stören mit ihren verrückten Ideen nur den geregelten Arbeitsablauf. Ihnen wird sogar in "kreativen" Branchen wie z. B. dem Fernsehen bestenfalls "Narrenfreiheit" eingeräumt.
"Kreativ" bedeutet an sich nichts weniger als "schöpferisch". Die Fähigkeit, Neues zu schaffen. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist von dieser anspruchsvollen Bedeutung wenig zu merken. Allzu oft ist nämlich Kreativität ein
Synonym für Ideenlosigkeit. Kreativ ist Collagen-Schnipseln im Manager-Workshop, Töpfern in der Toskana und Fingerfarben-Kunst in der Krabbelgruppe. Hauptsache, alle stehen im Kreis und loben das kreativen Potenzial des Erzeugers.("Schöner Denken")
Woher kommt diese Kluft zwischen herem Anspruch und schnöder Wirklichkeit? Einmal sicherlich aus der inflationären Verwendung des Begriffs. Es gibt meiner Ansicht nach aber auch tiefere Ursachen.
Es fängt schon damit an, dass es zwei Arten von schöpferischem Denken gibt: die operationale und die expressive Kreativität.
Die expressive Kreativität
Man findet sie zum Beispiel in der Kunst. Wer expressiv kreativ ist, bringt originärer Ideen, Visionen und Werke hervor. Expressive Kreativität ist das Rüstzeug von Malern und Bildhauern, Schriftstellern und Komponisten. Das Dumme ist nur: Diese Art von Schöpfungskraft ist nicht zu erlernen, jedenfalls nicht durch Lernen im Sinne einer Ausbildung. Sie kann, was das Berufsleben angeht, allenfalls entdeckt, gefördert und selbstverständlich leider auch unterdrückt werden.
Die Verachtung für "kreative Spinner" kommt daher, dass expressiv kreative Menschen dazu neigen, ausgesprochen eigenwillig zu sein. Hingegen erfordert das moderne Arbeitsleben eher den unversell einsetzbaren, disziplinierten, plichtbewußten, nirgendwo aneckenden und gegebenenfalls austauschbaren Mitarbeiter. Hinzu kommt das klassische Dilemma der "kreativen" Branchen: die originellen Einfälle werden nach Auftragslage benötigt, wohingegen expressiv kreatives Schaffen praktisch nie auf Kommando abrufbar ist. Das kann aber z. B. eine Werbeagentur oder ein Designer niemals zugeben, eher werden im Grunde einfallslose oder auf Krampf "originelle" Ergebnisse schöngeredet. So wie im "Kreativitäts-Workshop" oder in der Töpfergruppe.
Die operationale Kreativität
Das ist die Fähigkeit, Wissen zur Lösung von Aufgaben einzusetzen, Fakten intelligent zu verknüpfen und Intuition mit Logik zu kombinieren. Die Fähigkeit, unvorhergesehene Probleme zu bewältigen: "Da lassen Sie sich mal was einfallen!". Entprechend gefragt ist diese stark von der Ausbildung abhängige Fähigkeit im Berufsleben, und entsprechend hoch ist die gesellschaftliche Wertschätzung.
Nur in sehr wenige Berufen ist expressive Kreativität gefragt. Operationelle Kreativität wird dagegen in sehr vielen Berufen verlangt. (Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass in den allermeisten beruflichen Positionen überhaupt keine Kreativität gefordert wird. Arbeiten heißt fast immer, Anweisungen und Vorgaben möglichst exakt einzuhalten.)
Aber auch die operationale Kreativität ist oft nur ein Euphememismus für Einfallslosigkeit. Inflationsbedingt, weil oft versucht wird, planlose Improvisation als "kreativen Problemlösungsansatz" zu verkaufen. Und strukturbedingt, weil operative Kreativität letzten Endes eine konservative Fähigkeit, die Fähigkeit zur Reparatur des Bestehenden, ist.
Oft werden diese beiden Arten der Kreativität verwechselt, wenn z. B. in einer Stellenanzeige "operationelle Kreativität" gefragt ist, aber der Eindruck entsteht, hier würde ein expressiv kreativer "Künstlertyp" gesucht.
Übrigens setzt expressive Kreativtät operationelle Kreativität im erheblichen Maße vorraus. Das steckt hinter dem bekannten Ausspruch, eine originelle Schöpfung (Erfindung, Musikstück, Roman, was auch immer) sei ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration.
Die Frage, weshalb niemand die Kreativität eines anerkannten Künstlers lobt, ist leicht zu beantworten: (expressive) Kreativität ist Grundvoraussetzung für jede Kunst, die diesen Namen verdient, so wie die Pinselführung beim Maler oder die Kenntnis der Grammatik für einen Schriftsteller. In Grunde ist es fast eine Beleidigung, einen Künstler "kreativ" zu nennen. Sogar einen Amateur.
Selbst wenn "Oh, alles selbst gemalt? Du bist aber kreativ!" kein Euphemismus für "Du eitler Kerl hängst überall deine stümperhaften Gemälde auf!" sein sollte.
MMarheinecke - Sonntag, 21. Januar 2007
Hmmmmm...
"Ich will mal kreativ sein" = anderes Wort für Beschäftigungstherapie.
"Echte Kreativität" im Sinne von Kunst hat für mich mehr zu tun mit der Kommunikation mit der Sphäre des Heiligen, vielleicht auch des dämonischen, auf jeden Fall der "anderen Seite der Wirklichkeit".