Der Zweck heiligt die Mittel - wirklich?

Gestern berichteten fast alle Massenmedien über einen erfolgreichen "Schlag gegen Kinderpornographie". Nun ist die Herstellung von "Kinderpornographie" (allein dieses Wort ist ein obzöner Euphemismus - "sexuell motivierte Folter wehrloser Kinder" beschreibt den Sachverhalt vielleicht besser) ein besonders scheußliches Verbrechen, das es ohne zahlungskräftige "Konsumenten" nicht gäbe. Von daher begrüße ich es, wenn nicht allein die "Hersteller" und die "Händler", sondern auch die "Käufer" unnachsichtig verfolgt werden.

Das ist das Eine. Das andere: heiligt der gute Zweck wirklich alle Mittel? Denn um den Kunden einer Kinderpornoseite auf die Spur zu kommen, sollen Fahnder aus Sachsen-Anhalt offensichtlich die Kontobewegungen aller (!) Inhaber deutscher Kreditkarten überprüft haben! Wir sind alle verdächtigt.

Ich hoffe sehr, dass SpOn (die Quelle) da wieder mal etwas falsch verstanden hat. Wie Udo schrieb: Warten wir die Pressekonferenz ab. Vielleicht sind ja auch Journalisten dort, die kritische Fragen stellen.

Unser Rechtssystem beruht auf einem Kompromiss zwischen "optimalem Fahndungs- und Präventionserfolg" und den Persönlichkeitsrechten des Einzelen, vor allem seiner Privatsphäre. Besonders schwere Straftaten rechtfertigen Eingriffe in diese Persönlichkeitsrechte. Bis vor einigen Jahren lag die Schwelle, ab der dieser Eingriffe zulässig sind, in Deutschland recht hoch. Seitdem wird sie systematisch abgesetzt. Das Motiv: Angst.

Schon vor über 10 Jahre wurde der Begriff der "Vier Infokalyptische Reiter" geprägt. Das Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" ist reine Theorie, wenn ein Eingriff in die Privatsphäre mit der Verfolgung und Verhütung folgender Straftaten begründet wird. Schon mit dem bloßen Hinweis auf mit den "vier infokalyptischen Reitern” verbundene Delikte lassen sich offensichtlich alle Rechte mühelos aushebeln.
Die Vier Infokalyptischen Reiter sind, aufsteigend nach "Wirksamkeit": organisierte Kriminalität (”Mafia”), Rechtsextremismus, Kinderpornographie, und vor allem Terrorismus.
Bei "Kinderpornografie" ist die Empörung so groß ist, dass jeder, der gegen überzogene Schnüffeleien und Generalverdächtigungen aufmuckt, in den moralisch vernichtenten Verdacht gerät, sich zum "Komplizen" zu machen.

Es ist geradezu gespenstisch, wie geräuscharm Maßnahmen, die eindeutig in Richtung Polizeistaat gehen, getragen von einer Welle öffentlicher Angst - und motiviert durch die Ängste unserer Politiker - durchgewunken werden:
Videoüberwachung ganzer Straßenzüge, Pässe mit biometrischen Merkmalen, automatischer Kennzeichenanalyse auf Autobahnen, Vorratsdatenspeicherung von Telekomunikationsdaten - u.s.w..

Nachtrag, nach der Pressekonferenz:
Auf SpOn war (mal wieder) kein Verlaß: es gab keine Rasterfahndung gegen alle Kreditkarteninhaber. tagesschau.de: Kinderpornos in Internet: zahlreiche Geständnisse.
Nach Angaben des Landesbeauftragten für Datenschutz in Sachsen-Anhalt, Harald von Bose, konzentrierte sich die Fahndung auf einen Kreis "bestimmter Verdächtiger". Es sei nicht darum gegangen, sämtliche Finanztransaktionen aller deutschen Kreditkarteninhaber zu überprüfen. Man habe vielmehr die Namen eines ganz bestimmten Personenkreises herausfinden wollen. Eine Datenkontrolle bei allen 22 Millionen deutschen Kreditkartenbesitzern sei mit dem vorhandenen Personal technisch nicht möglich, so Bose.

Polizei und Staatsanwaltschaft selbst hatten keinen Zugriff auf die Kundendaten. Nach dem Ermittlungsrecht sei dieses Verfahren grundsätzlich erlaubt, sagte der stellvertretende Datenschutzbeauftragte Schleswig-Holsteins, Johann Bizer.
Trotzdem hinterläßt die Aktion "Mikado" einen seltsamen Nachgeschmack. Mir war bisher nicht bewußt, dass fast täglich ähnliche Anfragen der Staatsanwaltschaft an Finanzdienstleister eingehen, zum Beispiel in Betrugsfällen, und das die Dienstleister zur Mithilfe bei Ermittlungen gesetzlich verpflichtet sind. Das Risiko, "aus Versehen" in Verdacht zu geraten, erscheint mir beachtlich zu sein. Zumal es bei solche Ermittlungen nicht unbedingt um "Schwerkriminalität" gehen muß.

Nachtrag 10.01
Udo Vetter ist der - m. E. berechtigten - Ansicht, dass "Mikado" zumindest unverhältnismäßig, wahrscheinlich sogar rechtswidrig ist und hat deshalb beim zuständigen Amtsgericht Halle Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Staatsanwaltschaft gestellt: mikado.

Der "dicke Hund" bei "Mikado":
Die Staatsanwaltschaft hat den Datenabgleich zwar nicht selbst durchgeführt. Jedoch hat sie den angeschriebenen Unternehmen in der Anfrage mitgeteilt, diese machten sich gegebenenfalls strafbar, wenn sie nicht mitwirkten.

Hierdurch hat die Staatsanwaltschaft die Kreditkartenfirmen über ihre Mitwirkungspflicht fehlerhaft informiert. Tatsächlich besteht die Verpflichtung zur Datenherausgabe nach § 98a StPO nur bei richterlicher Anordnung (§ 98b Abs. 1 S. 1 StPO), die hier gar nicht eingeholt worden war; Gefahr im Verzug lag offensichtlich nicht vor.

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