Aufklärung ist immer riskant

Eine Freundin schrieb, dass die die "Gesellschaft" allmählich die Kaffeekränzchen der Etablierten auf dem Gipfel der Macht - ökonomisch, politisch, kulturell - nicht mehr halb so ernst nimmt wie die das gerne hätten oder sich einbilden!

Eine richtige, aber zweischneidige Erkenntnis. Denn diese misstrauische Haltung gegenüber die Etablierten "da oben" gefährdet unter Umständen die Demokratie:
Sie haben auch die Einstellung zur Demokratie untersucht. Was ist dabei herausgekommen?

Das Resultat war 2003 erschreckend. Es gibt eine Demokratieentleerung bei gleichzeitigem "Weiter so". Unser Ergebnis war: Das Publikum traut keinem mehr: weder Unternehmern noch sozialen Bewegungen, Medien oder Politik.
Aus einem taz-Interview mit Prof. Wilhelm Heitmeyer zu den Ergebnissen der "Deutschen Zustände 2006", seiner Studie über "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit": "Religion ist die letzte Ressource" Unbedingt Lesen! Zu dieser Studie und auch unbedingt lesenswert, bei sagichdoch: Was ist das los in diesem Land?
Heitmeyer sieht, wie ich, durch dieses "Grundmisstrauen" gegen etablierte Eliten und etablierte Werte humane Substanz gefährdet.
Dabei ist es um diese Eliten und Werte nicht unbedingt schade, es kann jederzeit neue Eliten und jederzeit neue Anerkennungsquellen und Solidaritäten geben. Bewegung, ständiger Wandel, davon lebt eine Demokratie.
Das Fatale ist aber:
Was den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Solidarität angeht, müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass immer weniger daran glauben.
.
Nicht "nur" das Vertrauen in Institutionen geht verloren, sondern auch das Vertrauen gegenüber dem Mitmenschen. Bei jeder Freundlichkeit, bei jeder Hilfe, bei jeder unerwarteten Chance bohrt die Frage im Hinterkopf: "Für umsonst machen die das bestimmt nicht, was haben sie wirklich im Schilde?"
Allem, was nicht ohne größeren Auswand als "faires Tauschgeschäft zum gegenseitigen Nutzen" erkennbar ist, wird tendenziell mißtraut. "Die machen das doch nur, weil ... (hier irgend einen möglichst schäbigen "wirklichen Grund" einsetzen)."

Und dieses Mißtrauen ergibt sich - leider - aus der Lebenserfahrung. Gerade dann, wenn großspurig an "Solidarität" appeliert wird, ist die Gefahr groß, über den Tisch gezogen zu werden. Dieses Mißtrauen geht einher mit dem üblen Gefühl, dass mein Engagement, meine Arbeit, meine schöpferische Energie nur Rohstoff sind und nicht in meinem Sinne gebraucht werden. Wer sich für etwas engagiert, ist der Dumme. Vielleicht nicht im Taubenzüchterverein oder in der Kneipenmannschaft, aber bestimmt in der Politik. Außerdem gilt: "Alles, was ich sage, wird gegen mich verwendet werden".

Diese Mißtrauen betrifft auch Prof. Heitmeyer selbst. Er geht - im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaftler - das Risiko, dass seine Aussagen mißbraucht werden, ein.
(...) Ich muss damit rechnen, dass die NPD den Befund, dass viele Migrantenjugendliche keine Ausbildung absolvieren, für ihre Propaganda benutzt. Soll ich deshalb diese Tendenz verschweigen? Aufklärung ist immer riskant.
Das ist der mögliche, aber riskante Weg aus dem Dilemma: Aufklärung.

Die Lebenserfahrung lehrt uns - oder zumindest diejenigen unter uns, die mit offenen Augen durchs Leben gehen - neben einem in Maßen durchaus gesunden Mißtrauen auch etwas anderes: Es ist offensichtlich sehr schwierig, Menschen zu instrumentalisieren, deren Wissen, Erfahrungen und Ideale mit dem Ziel dieser Instrumentalisierung nicht vereinbar sind. Wer z. B. eine simple "der Zweck heiligt die Mittel"-"Ethik" ablehnt, kann nur solange instrumentalisiert werden, bis er durchschaut, dass sein Gegenüber nach diesem fragwürdigen Grundsatz zu handeln bereit ist, bereit, über die sprichwörtlichen Leichen zu gehen. Noch einfacher ist es bei den Erfahrungen und dem Wissen: wer Bescheid weiß, läßt sich nicht so leicht belügen wie der Naive.

Ein Problem sowohl mit unseren "Kaffeekränzchen der Etablierten" wie mit vielen, sehr vielen Untertanen Staatsbürgern: sie sind in Fantasiewelten gefangen, in mentaler Isolation.
Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über "Killerspiele". Das sie mitunter zum Realitätsverlust führen können, ist seit langem lang und breit diskutiert worden. Wer sich in der Fantasiewelt eines Computerspiels verliert, dem muß geholfen werden. Allerdings geht der Realitätsverlust selten so weit, dass jemand in der Realität genau so handelt wie in der virtuellen Welt. Selbst bei "Amokläufern" ist das nicht der Fall.

Computerspiele führen interessanterweise vor allem bei Politikern (und Journalisten) zum Realitätsverlust, die sie gar nicht kennen.

Neben den offenbar gängigen Schlüsselqualifikationen für "Führungspositionen" bzw. das Mitmachen bei den Kaffeekränzchen der Etablierten, also Denkfaulheit, Realitätsferne und fachlicher wie sozialer Ahnungslosigkeit, leben solche Politiker vor allem deshalb in virtuellen Welten, weil sie "Experten" vertrauen, die zu Ergebnisse kommen, die bestens zur Vorurteilstruktur dieser in der Regel erz-autoritären Politiker (und Medienschaffenden) passen.

Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und der Psychiater und Sachbuchautor Manfred Spitzer gehören zu den aggressivsten Kritikern angeblich agressiv machender Computerspiele. Es steht der begründete Verdacht im Raum, dass die Beiden nicht an Aufklärung zum Thema Mediengewalt interessiert sind, sondern vermutlich an Fördergeldern. Da sind Horrorszenarien und simple Patentlösungen, die den bekannten Vorlieben bekannter Politiker entsprechen, durchaus hilfreich. (Siehe auch in TrashQueens Vault: Spitz, Spitzer... - bitte lesen! Unbedingt!)

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