Wie antisemitisch ist Asatru (2)

In den Raunächten, zwischen dem 22. Dezember und dem 2. Januar blogge ich Texte, die ich irgendwann einmal angefangen habe und die lange als halbfertige Entwürfe oder als Notiz herumlagen, aber auch Ergänzungen älterer Artikel. Das hier ist der lange überfällig zweite Teil eines Artikels.

Am Ende des ersten Teils Wie antisemitisch ist Asatru? schrieb ich:
Es stellt sich allerdings die Frage, ob die "alten Germanen" und die "Wikingern" fremden Kulturen im Allgemeinen und Juden im Besonderen feindlich gegenüber standen. Es also eine öriginär germanische Xenophobie und eine "alte Judenfeindschaft" gäbe.
Sollte das nicht der Fall gewesen sein, stellt sich damit die Frage, wie denn der Antisemitismus - historisch gesehen - in den germanischen Neopaganismus hineingeraten ist.
Zur ersten Frage:
Eine besondere Xenophobie, ganz zu schweigen von Rassimus, läßt sich bei germanischen Stämme nicht nachweisen. Entgegen einer im 19. und frühen 20. Jahrhundert gängigen Ausfassung läßt sich auch der Nationalismus nicht in auf die Stammesgesellschaften des Altertum zurückführen. Noch der von mir hoch geschätzte Karl Popper meinte in "Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde", dass der Nationalismus sich an unsere "Stammesinstinke" wenden würde, an unsere nostalgischen Wünsche, von der Last individueller Verantwortlichkeit befreit zu werden, die er durch kollektive oder Gruppenverantwortlichkeit zu ersetzen versucht. Allein: auf reale "Stammesinstinkte" kann diese bedauerliche Neigung zur nationalen Volkgemeinschaft nicht zurückgeführt werden. Der Grundirrtum sowohl der "Stammes-Nationalisten" wie ihrer Gegner lag in der Annahme, dass Stammesgemeinschaften durch Blutsverwandschaft zusammengehalten werden würden. Fremde blieben darum grundsätzlich ausgeschlossen.
Die neuere ethnologische und historische Forschung hat diese alte Annahme längst widerlegt: germanische Stämme definierten sich nicht über reale Blutsverwandtschaften, sondern spirituelle Bindungen. Kultur war das einzige, was die Stämme gemeinsam hatten. Und selbst das ist ein relativer Begriff. Denn der Gesamtheit der germanischen Stämme – also derjenigen Stämme mit germanischen Dialekten und Sitten – fehlte jedes Gemeinschaftsbewußtsein über den eigenen Stamm hinaus. Tatsächlich ist diese Haltung bei Stammeskulturen in aller Welt bis heute die Regel.
Der Grund in der Verwirrung lag darin, dass die Stämme offensichtlich behaupteten, Abstammungsgemeinschaften zu sein, es aber ebenso offensichtlich nicht waren.
Die Goten behaupteten, ihre Vorfahren seien aus dem heutige Schweden gekommen. In Wirklichkeit dürften die wenigsten späteren Eroberer Roms von Menschen aus dem heute noch "Götäland" genannten Landschaften abgestammt haben. Die Gotenwanderung ging von drei Auswandererschiffen aus - einer maximale Anzahl von etwa 100 Menschen. Sie siedelten sich zunächts im heutige Polen an, wanderten später in den pontischen Steppenraum, von dort aus um das Schwarze Meer herum in den Karpatenraum und an den Unterlauf der Donau. Dann kamen sie über Italien bis nach Spanien.
100 Jahre nach dem Aufbruch der drei Schiffe zählte der Stamm der "Wandergoten" schon mehrere tausend Köpfe. Eine derartige Massenvermehrung ist auf biologischem Wege nicht vorstellbar – sie konnte nur erreicht werden, indem ganze Sippen anderer Stämme und Kulturen in den Stamm der Goten aufgenommen wurden.
Stämme, auch und gerade die der Germanen, sind Personenverbandsgesellschaften; sie definierten sich nicht nach Territorien wie Staaten, sondern nach Zugehörigkeit zu Personen – und zu Göttern. Der Gedanke eines faktischen oder auch nur theoretischen "germanischen" Nationalstaates ist ein Widerspruch in sich: Mit Stammeskulturen ist buchstäblich kein Staat zu machen.
Erst in der Spätantike gab es erste "germanische" Staatenbildungen, zuerst auf dem Territorium des untergegangenen Weströmischen Reiches. Nationalstaaten waren sie nicht. Tatsächlich scheiterte die Staatsgründung der Langobarden in Italien daran, dass das Stammesdenken noch in der Köpfen der langobardischen Herrscher steckte. Selbst die mittelalterliche Königreiche Skandinaviens stülpten sich sozusagen über die vorhandenen Stammesgemeinschaften. Was die Normannen zu überaus erfolgreichen Staatengründern machte, war nicht ihr "Stammesnationalismus", sondern ihr politischer Pragmatismus, mühsam erworben in Staaten, die ständig Kompromisse mit dem vorhandenen Stammesdenken eingehen mußten.

Daraus ergibt sich: Es gab sicherlich ein stetes Mißtrauen gegenüber "Stammesfremden". Insofern gab es auch so etwas wie Fremdenfeindlichkeit. War ein "Fremder" aber erst einmal in den Stamm integriert (besser wohl: adoptiert), dann gehörte er ohne
"Wenn" und "Aber" dazu. Soziale Ausgrenzung von Teilen der Gemeinschaft ist historisch belegbar das "ungermanischste", was man sich überhaupt vorstellen kann.

Eine "instinktive Abneigung" gegen Juden konnte sich bei den "alten Germanen" der Römerzeit schon deshalb nicht entwickeln, weil die vereinzelten Juden unter der ethnisch bunt gemischten "römischen" Bevölkerung von außen gesehen keine abgegrenzte Sondergruppe waren. Schlimmstenfalls war ein Jude für einen rechtsrheinischen Germanen nur ein weiterer "komischer Fremder mit seltsamen Sitten", wie alle "Römer", egal, ob sie ursprünglich aus Italien, Spanien, vom Balkan, aus Nordafrika oder welchen Teil des Imperium Romanum auch immer sie stammten.

Ab der Völkerwanderungszeit änderte sich das Bild. Für die bereits hristianisierten Germanen bildeten die "andersgläubigen" Juden eine abgrenzbare Minderheit. Dennoch und trotz der antijüdischen Tendenzen des Christentums weisen die Chroniken und archäologische Funde aus, dass es keine ausgeprägte Judenfeindschaft gab. Erst mit den Kreuzzügen wurde der Antijudaismus gewaltätig, schlug in etwas um, was man mit Fug und Recht "Frühantisemitismus" nennen kann. Das hat aber mit der längst verschwundenen germanische Stammesgesellschaft oder auch nur einer besonderen germanischen Mentalität nichts zu tun.

Anders die Situation im heidnischen Nordeuropa. Hier standen sich jüdische Fernkaufleute und germanische Händler gegenüber. "Freundschaft" oder "Feindschaft" wird davon abgehangen haben, ob der jeweilige jüdische Händler Konkurrent oder Geschäftspartner war. Der Hauptgrund des Neides und der Mißgunst christlicher Kaufleute auf "die Juden" fehlte in heidníscher Zeit noch: das christliche Verbot des Geldverleihs gegen Zinsen. Das lag übrigens nicht daran, dass im frühen Mittelalter im Norden vor allem Tauschhandel getrieben worden wäre. Fränkische, oströmische und arabische Münzen waren im Umlauf, es gab schon vor der Wikingerzeit Ansätze einer "einheimischen" Münzprägung und auch das Hacksilber war kein Tauschgut, sondern eine "Kurrant-Währung": bezahlt wurde mit einer abgewogenen Menge Silber. Mißmutig berichteten christliche Chronisten, dass die religiöse Haltung der Kaufleute aus dem Norden vom geschäftliche Opportunismus bestimmt wurde. Waren zu einem Markt oder einer Messe nur christliche Kaufleute zugelassen, ließen sich die geschäftlich interessierten Nordländer eben kurzerhand taufen - zumal es üblicherweise ein Taufhemd als kostenlose Zugabe gab. (Es ist der Ausspruch eines friesischen Händlers überliefert, der sich über die schlechte Qualität seines Taufhemdes beklagte. Bei keiner seiner vorangegangenen Taufen hätte man ihm so ein grobes Hemd angedreht.) Es könnte durchaus sein, dass für manche an Geldgeschäften interessierte nordischen Kaufleute eine Konversion zum jüdischen Glauben eine interessante Alternative zur christlichen Taufe gewesen sein mag.

Damit dürfte klar sein, dass Antisemiten sich nicht auf die "alten Germanen" berufen können, jedenfalls nicht ohne erhebliche Geschichtsklittierungen.

Der Frage, wie denn dann der Antisemitismus ins germanische Neu-Heidentum geriet, versuche ich im nächsten Teil zu beantworten. Teil 3

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