Ich, der verhinderte Amokschütze

Gedanken zum Abschiedsbrief des "Amokschützen" Sebastian B: TP. "Ich will R.A.C.H.E".

Was es auf der politischen, gesellschaftlichen und "medien-technischen" Seite zu sagen gibt, dass haben andere schon gesagt.

Besonders treffend sagte es Jens Scholz, dem kann ich mich nur anschließen:
Der Junge war fertig. Und diesmal wars kein dummer Mensch, er hat alles aufgeschrieben, was er fühlte. Er hat zwei Jahre versucht, gehört zu werden. Die damals schon nicht stattgefundene Diskussion darüber, wie sehr Kinder in diesem Land unter Druck gesetzt werden findet auch diesmal nicht statt. Die Standardreaktion der üblichen Verdächtigen werden gesendet, die Computerspieler werden sich wieder dagegen wehren müssen, daß sie zum Sündenbock hochstilisiert werden und schon ist das eigentliche Thema wieder vergessen.
Weiterlesen:Das ist ja so ermüdend

Der Brief geht mir nahe. Das Gefühl aus lavierender Depression, ohnmächtigem Zorn, aber auch größenwahnsinnigen Rachephantasien kenne ich allzu gut.
Auch in hatte mal, vor über 20 Jahren, einen ähnlichen Abschiedsbrief geschrieben. Auf die genaue Situation, die mich dazu gebracht hat, gehe ich hier nicht ein; das ist zwar ein persönliches Blog, aber Details aus meinem Intimleben gehören nicht in Netz. Wichtig nur: ich war fix und alle, vieles im Leben haute nicht hin.
Wenn schon Selbstmord, dachte ich, dann kein Abgang mit Wimmern oder Röcheln, sondern mit "Knall". Wenn man schon verliert, dann wenigstens "im Kampf" sterben und ein paar von "Ihnen" Mitnehmen. Erweiterter Suzid, wie die meisten soganannten Amokläufe. Nein, Waffen hatte ich nicht. Aber ich wußte, wie man hochbrisante Sprengstoffe herstellt.

Es blieb - zum Glück - bei der Planung. Ich hatte nämlich Menschen die mich auffingen. Die mitbekamen, dass mit mir was nicht stimmte. Und mir nicht einfach sagten: "Reiß dich zusammen" oder "Akzpetiere gefälligst deine Lage" oder "Hör auf mit Deiner albernen Selbstinszenierung.". (Wobei - solche Sprüche gab es leider auch.) Die mir eine Alternative zum "erweiterten Suizid" aufzeigten. Die Menschen, die Sebastian B. fehlten.

Was ich auch zum Glück hatte, war eine etwas ausgegorenere Weltanschauung. Ein wenig mehr politisches Denken, ein paar Gedanken mehr über Ethik und Moral, ein bißchen mehr Einfühlung und Ein-Denken in andere Menschen. Deshalb stilisierte ich mich nicht zum "Einsamen Rächer", suchte keine Ersatz für fehlendes Selbstwertgefühl in eine matialischen Selbstdarstellung. Das war nicht mein Verdienst. Das verdanke unter anderem meiner Schule, meinen Lehrer. Ich hatte großes Glück mit meiner Schule. Weshalb sich mein Amoklauf auch nicht in der Schule abgespielt hätte. Sebastian B. hatte das Glück nicht. Nicht, dass seine Schule schlecht gewesen wäre. Der Fehler liegt "im System".

Ich stelle mir vor, was gewesen wäre, wenn ich meinen ebenso dummen wie verzweifelten Plan in die Tat umgesetzt hätte. Schlagzeilen hätte ich mit Sicherheit gemacht. Und bestimmt hätte es üblichen Politikersprüche und Journalisten-"Weisheiten" gegeben, hätten die üblichen Fachleute ihre üblichen Ansichten vertreten. "Ego-Shooter" gab es noch nicht, damals waren Horrorvideos der große Verderber der Jugend. Das ich gar kein so großer Fan von Horrorstreifen war, wäre egal gewesen - wichtig wäre nur: ich habe nachweislich mal so was gesehen.
Irgend eine Patentursache hätte man bestimmt gefunden. Science-Fiction- und Fantasy-Fan? "Ja, dahin führt diese Realitätsflucht!" - Kontakte zur Hausbesetzerszene? "Da sieht man es mal wieder, diese Chaoten machen junge Leute zu Selbstmordbombern!" Vermutlich wäre selbst meine damalige Vorliebe für Räucherstäbchen, germanische, keltische und antike Mythologie, meine "Kraftwerk"-Platten, meine Romanversuche, meine bescheidenen politischen Aktivitäten, also kurz: alles was auch nur ein bißchen "auffällig" ist, thematisiert worden. Ob man mich damals der links- oder der rechtsextremen "Szene" zugeordnet hätte, wäre reiner Zufall gewesen. Hauptsache nur: ich wäre "Außenseiter" gewesen. Gut angepaßte, gebildete und nicht völlig erfolglose junge Leute laufen nicht Amok. Tun sie es dann doch, dann müssen sie doch irgend einer finsteren Subkultur zugehört haben! Ach, sieh' da, ein Pentagramm! Klar, der junge Mann war Satanist (zumindest hätte das in der BILD so gestanden).

Entschuldigt bitte, dass ich mich hier ausheule. Und das ich Mitgefühl für einen "Killer" zeige. Mit etwas weniger Glück hätte nämlich ich damals ein "Killer" sein können.

Auch lesenswert, zu politischen "Diskussion": Sven Scholz: The Return of the Volksschädling
und Medienvermeidung 2
Und bei Cynx, zum "Sinn", den es macht, die pösen, pösen Ego ShooterKilerspiele "endlich zu verbieten": Schmalspurdenken
Nirvanagirl - 23. Nov, 15:12

Du sprichst mir aus der Seele. Ich denke, selbst wenn man bei jemandem der " Amok läuft" nichts von den Dingen finden würde die du erwähnt hast, also Horror Videos, PC Spiele etc. , würde man ihn als völlig unnormal hinstellen, weil er "zu normal" ist. Das Problem ist unsere Gesellschaft die so egozentrisch geworden ist das kaum einer einen Hilferuf wahrnimmt. Und die wenigsten die einen erkennen sind mutig genug ihre Hilfe anzubieten.

Chat Atkins (Gast) - 23. Nov, 17:37

Das Problem liegt im Etikett "Amokschütze", das ihm jetzt aufgeklebt wird, als sei er nie auch etwas anderes gewesen. Er ist Amok gelaufen, das ist richtig, ich will das hier auch keineswegs gutheißen. Vorher aber war er etliche Jahre auch noch ganz etwas anderes gewesen, "Sohn", "Schüler", "Freund" - was weiß denn ich. Solche Einwort-Etiketten aber - "Mörder", "Selbstmordattentäter", auch "Lügner", die an den so bezeichneten Menschen dann pappen, meinethalben auch "Politiker" - die haben die Eigenschaft, dass sie Menschen auf einen einzigen Aspekt reduzieren, dass sie fortan so fest kleben wie Schifferscheiße - und oft genug den Menschen noch ruinieren, wenn er sich diese Reduktion seiner Person nämlich zu eigen macht und der Aufschrift auf dem Etikett nacheifert.

distelfliege - 23. Nov, 18:35

Mein Verständnis

..hält sich in Grenzen.

Und ich hab auch kein Verständnis für deine damaligen Gedanken.
Nicht, weil ich es nicht kopfmässig möchte. Ich möchte sicher niemand zum Feindbild machen. Ich verstehe es deshalb nicht, weil ich alle diese Gedanken aus dem Abschiedsbrief kenne, BIS AUF EINEN: Daß man andere Menschen dafür bestraft, "mitnimmt", tötet.
Das folgende z.b. verstehe ich nicht, kann ich nicht verstehen:
"1. Ich ging nicht nur in eine klasse, nein, ich ging auf die ganze Schule. Die Menschen die sich auf der Schule befinden, sind in keinem Falle unschuldig! Niemand ist das! In deren Köpfen läuft das selbe Programm welches auch bei den früheren Jahrgängen lief! Ich bin der Virus der diese Programme zerstören will, es ist völlig irrelewand wo ich da anfange."

"ein bißchen mehr Einfühlung und Ein-Denken in andere Menschen" hattest du, schreibst du. Na zum Glück!
"Seit meinem 6. Lebensjahr wurde ich von euch allen verarscht! Nun müsst ihr dafür bezahlen!" schrieb er. Scheiße! Es kotzt mich wirklich an! Woher nehmen Leute wie er, oder sollte ich lieber sagen, Jungen und Männer wie er, das Recht, weils ihnen Scheisse geht, Andere wie Scheisse zu behandeln?? Warum nehme ich mir nicht das Recht heraus, andere Menschen zu verachten? Warum nehme ich mich in die Pflicht, andere Menschen zu verstehen und Mitgefühl für deren Situation zu haben?

Soll ich mich mal für ne Minute in die Lage eines Sebastian B. reinversetzen? Soll ich mal Verständnis haben für seine Gedanken? Gut, habe ich mal kurz - hier das Ergebnis:

Scheiß Testosteron!
Ich legte euch am liebsten alle um!
Euch Scheißmänner allesamt! Schon bevor mir Titten gewachsen sind, wurde mir erzählt ich sei ein Mensch und ihr habt mich nicht wie einen behandelt! Ich mache euch fertig dafür! Es ist egal wo ich damit anfange!

....
schockierend?

Jo, sicher. Und hiermit kehre ich wieder in meinen Normalzustand zurück, in welchem ich trotz patriarchaler Zustände in einem Mann einen Menschen sehe, der genauso wie ich in Strukturen steckt und genausowenig wie ich verdient hat, exemplarisch für die Strukturen hingerichtet, gequält, oder verletzt zu werden!
Dieses Verständnisgeseier fürs "im Kampf sterben" irgendwie.. abstossend. Es stösst mich ab.

Sven (Gast) - 23. Nov, 18:45

"Verstehen" heißt nicht, es gut zu heißen oder auch "nur" zu entschuldigen. "Verstehen" heißt, die Gründe in den tieferen Schichten zu sehen. Im Mit- und Gegeneinander eines sozialen Umfeldes und der eigenen Interaktion mit diesem. Ein Grund ist keine Entschuldigung. Aber u.U. eine Aufgabenstellung.

Dein "kleiner Ausbruch" zeigt mir: du verstehst es auch. Aber - und da sind wir alle einer Meinung, denke ich - du findest es trotzdem Scheiße. Die Tat. Und ich sehe da keinen Widerspruch.
distelfliege - 23. Nov, 18:58

Hi Sven,

Ich verstehe es, so Gedanken kurz zu haben, aber wenn ich einem anderen Menschenwesen gegenüberstehe und diesem in die Augen seh und die Gedanken sind immer noch da, und ich nehme eine Waffe und ziele... ich hatte im Leben schon Gelegenheiten zu einer relativ harmlosen Rache ohne Personenschäden gehabt und diese (bereu ich nicht) nicht genutzt.

Hm. Tja.
MMarheinecke - 23. Nov, 20:49

Hi Distel

Ich habe kein "Verständnis" im Sinne von Mitleid mit Ihm. So wenig, wie ich Verständnis mit dem habe, was ich damals dachte, fühlte, plante. Im Zorn. Und Aufgrund meiner psychischen Disposition. Die nichts entschuldigt.
Nachdem ich meiner Hass auf "Sie" überwunden hatte, gab es nur noch einen, den ich legitimerweise hassen durfte: mich selbst. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich will nur sagen: Ich hatte unverschämtes Glück.

Was hilft gegen Amokläufer und potenzielle Amokläufer, zu denen ich damals vielleicht geworden wäre?
1. Weniger Druck. Nicht zu verwechseln mit "weniger (Selbst-)Disziplin" oder "weniger Pflichten". Was mir damals zu schaffen gemacht hat, war das ständige Gefühl, dass jeder Fehler mir die "Chancen im Leben" verderben könnte. Mit ´ner "1" stehen alle Chancen offen, mit ´ner "6" kannst du dich gleich begraben lassen. Das Dumme ist nur, dass man als Schüler spätestens nach der Grundschulzeit merkt, dass eine "1" einem noch lange nicht alle Chancen eröffnet (die, die es nicht merken, nennt man "Streber"). Eine "6" ist hingegen eine reale Bedrohung: ab in die "Restschule", du "Versager". Ja, so lernt man in der Schule fürs Leben! Denn im Beruf ist es im großen und ganzen genau so: Erfolge zählen wenig, wer Fehler macht, fliegt. Generell gilt das Schema: Erfolge, in der Schule oder sonstwo, die an Freude am Tun, aus Vergnügen, erreicht werden, zählen nicht viel: Nur der hart erarbeitete, unter ständiger Selbstüberwindung erreichte Erfolg zählt etwas. Siegertypen sind eben hart, hart zu anderen, noch härter zu sich selbst.
2. Ein intaktes soziales Netzwerk. Egal, wie man es nennt. Menschen, die Hilferufe erkennen, bevor es zu spät ist. Die einen Menschen sehen, nicht nur einen auf seine Eigenschaften reduzierten "Schulversager", "Außenseiter" - oder "Amokschützen".
3. Das Ende der Schuldzuweisungen. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, weil "man" mir die Schuld an meinen Problemen selbst gab: "Selber schuld, hättest Du doch ..." - Ich verwies meine Probleme an "sie", und die Schuldzuweisung wurde zum Hass. Ich gab mir auch selbst Schuld, und das Gefühl, selber Schuld zu sein, wurde zum Selbsthass. Das ist es auch, was mich an der Diskussion so stört: diese ständigen Schuldzuweisungen. Irgendjemand, irgendetwas muß ja Schuld sein. Notfalls die Computerspiele.
4. Bildung. Bildung im Sinne von verstandenem (nicht nur auswendig gelerntem) Wissen, Bildung auch im Sinne von, altmodisch ausgedrückt, Herzensbildung. Von letzterem hatte ich nicht viel, aber das hat mich davon abgehalten, mich in ein geschlossenes Hass-System reinzusteigern oder in "den Anderen" nicht mehr den Menschen, sondern nur den "Schurken" zu sehen. Bildung im Sinne von (politischem) Wissen hielt mich von fixen Ideen, Verschwörungstheorien, Selbst-Stilisierung zum "einsamen Rächer" ab.
Woran es in unseren Schulen, auch unseren Hochschulen fehlt, ist Bildung. Die Schule ist zur Berufsvorbereitung (für die "Gewinnern") zum Ausleseinstrument und Disziplinierungsanstalt (für die "Verlierer"I geworden, Der Fehler liegt im System, mit ein paar Sozialarbeitern und Sozialpädagogen mehr ist es nicht getan.
distelfliege - 24. Nov, 01:34

Hi Martin,

>>Ich habe kein "Verständnis" im Sinne von Mitleid mit Ihm.

Wieso nicht? Ich mein, schließlich lebte er, wie sehr viele von uns das getan haben, in einer Scheißsituation in einer Leistungsgesellschaft in der der Begriff "menschlicher Abfall" durchaus existiert.
Ich habe in diesem Punkt Mitleid mit ihm.

Die Sachen die er in seinem Abschiedsbrief beschreibt, kenn ich genauso. (Außer daß ich nie Suizidgedanken hatte) Nur hab ich die Leut damals z.b. nicht "Jocks" (oder Jonks?) genannt sondern "Holzklötze". Komischerweise habe ich auf die "Holzklötze" nie einen Haß gehabt, sondern es machte mich traurig daß in ihrem Leben und in ihrem sozialen Umgang eine Komponente zu fehlen schien, ohne die mir das Leben nicht wirklich so lebenswert erschienen wäre.

Ich hatte damals einen besten Freund, welcher mal so Gedanken äusserte von wegen "sich umlegen und andere mitnehmen" - beides hörte ich mir damals an von meinem besten Kumpel und wusste nicht was ich ihm als guten Freund nun angesichts solcher Äusserungen gegenüber empfinden sollte.

Heute bin ich wahrscheinlich emotional eher so drauf, daß ich schon vorsichtig werde wenn ich merke, daß mein Gegenüber Gedanken hat die mit dem kaputtmachen Anderer zu tun haben. Bei allem Verständnis für die Situation in der wir uns befinden - aber ich habe keine Lust das Opfer von irgendwem zu werden, nur weil der ein Opfer der Umstände ist.

Dabei sei gesagt daß mir das nur bei einem männlichen Gegenüber so geht. Vielleicht bin ich so konditioniert daß von Frauen mir gegenüber keine Gewalthandlung erwarte, ein Geschlechterstereotyp in meinem Kopf, wobei die Statistik mir da einigermassen recht gibt.

Deine damals ähnliche Situation und Denkweise versetzt dich dafür heute in die Lage, dir konstruktiv zu überlegen, was gegen sowas hilft, während mir da irgendwie nischt zu einfällt. Ich denke, ich könnte jemandem auch gar keine Hilfestellung geben der so denkt, dazu bräuchts dann eben Menschen (höchstwahrscheinlich statistisch gesehen männlichen Geschlechts), die solche Ansätze selbst überwunden haben und wissen wie man das macht.
MMarheinecke - 25. Nov, 03:49

Interessanter Widerspruch

Zuerst schrieb ich, ich hätte Mitgefühl für einen "Killer", dann "ich hätte kein Verständnis im Sinne von Mitleid" mit ihm.
Mh. Haarspalterisch könnte ich sagen, Mitgefühl und Mitleid seien zwei unterschiedliche Dinge, aber das ist es nicht.

Tatsächlich hätte ich besser statt "Mitgefühl" "Empathie" schreiben sollen. Ich kann mich in Bastian B. gut einfühlen. Erschreckend gut. Und: er ist kein Opfer der Umstände. Ich wäre es auch nicht gewesen.
Mal einen vielleicht unpassenden Vergleich: nach der "Nacht von Soligen" (Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus, mehre Tote) erlebte ich ein Reihe junger türkische Männer in zornig-agressiver Rachestimmung. Ich konnte ihre Stimmung sehr gut verstehen. Aber wenn sie ihre Wut an jemandem ausgelassen hätten, der zufällig kurze Haare hatte, und den sie dann als vermeindlichen "Nazi" die Messer zwischen die Rippen gestoßen hätten, dafür hätte ich nicht das geringste Verständnis aufgebracht. Es hätte mir sogar am "Verständnis" gefehlt, wenn sie einen "echten" Nazi niedergestochen hätten. Hab was gegen Lynchjustiz, grundsätztlich.

"Mitleid" habe ich nicht. Am wenigsten mit dem unreifen, Rachephantasien ausbrütenden jungen Kerl, das ich damals war. Und auch nicht mit anderen jungen Kerls, die so drauf sind (oder schlimmer!) als ich damals war. Wenn ich so etwa mitbekäme, ich würde Hilfe anbieten. Aber auch ganz klar sagen: "Was Du da vorhast, das ist ganz großer Scheiß. Und ich kann nur hoffen, dass, wenn Du es wirklich durchziehst, rechtzeitig abgeknallt wirst. Aber gegen Scheiße, in der Du bis Unterkante Oberlippe stehst, da müssen wir was machen." Etwas ähnliches hatte jemand mir tatsächlich gesagt. Wobei: ob ich ernst gemacht hätte, wäre bei meiner psychischen Konstitution fraglich gewesen. Zum "erweiterten Suizid" hätte mir schlicht der Mumm gefehlt. Allerdings ist die Illusion fatal, zu meinen, jemand, der von so was erzählt, würde es sowieso nicht machen.

Das ich so draufkam, dass hängt garantiert auch mit dem Sexuellen zusammen - Details zu privat, sorry. Mit Sicherheit auch mit dem erweiterten Männlichkeitswahn. Ich war bestimmt kein "Macho", aber das komische Gefühl, dass eine gewaltsame Lösung die "aufrechtere", ehrlichere, "sauberere" Lösung wäre, die kam nicht von ungefahr (und bestimmt nicht aus Gewaltfilmen). Hinzu kam, dass ich Kriegsdienstverweigerer war und es langsam satt hatte, einen auf Extrem-Pazifist zu machen. Ich hatte viel gegen's Militär, und fand den Gedanken daran, Menschen zu erschießen, die ich nicht kenne, wirklich abstoßend. Was ich nie sagte: bei etlichen Menschen, die ich kannte, wäre mit das Erschießen sehr leicht gefallen. Ist heute bei einigen noch so.
Ich bin sicher nicht das Holz, aus dem man "gute" Soldaten schnitzt, aber unter Umständen hätte ich einen brauchbaren Krieger abgegeben.
MomoRules (Gast) - 23. Nov, 19:14

Ich finde das überhaupt nicht abstoßend, aber noch nicht mal im Ansatz - das ist einfach nur verdammt ehrlich, das oben von Martin Geschriebene.

Und, nix für ungut, wenn sich mal jemand mit Zorn, Wut, heroischen Fantasien, dem Nicht-Umgehen-Können mit den Emotionen, die entstehen angesichts all diesen ganz alltäglichen Zurückweisungen und Abwertungen auf allen Daseinsebenen, die in Abstufungen alle erleben, diesen ganzen Zuschreibungen von Klischees, dem Zwang zur Lüge, zum emotionalen Stereotyp, zur Anpassung, wenn sich mal jemand auseinandersetzt mit den psychischen Reaktionen jener, die genau diese Anpassungsleistung nicht vollziehen können, anstatt sie durch Dämonisierung de facto zu ignorieren und somit Personen zu negieren, wenn sich also mal jemand offen damit auseinandersetzt, dann ist's wahrscheinlich nix anderes als die Ehrlichkeit selbst, die abstößt. Weil an die kein Schwein mehr gewohnt ist.

Zudem diese ganze Anti-X-Versteher-Rhetorik allerorten auch gewirkt zu haben scheint. Natürlich stimmt genau das, was Sven schreibt, völlig richtig: Etwas verstehen und etwas rechtfertigen sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe, aber gäbe es mal wieder etwas mehr Versteher, wäre vielleicht auch ein bißchen weniger von dem da, was dann in der Tat überhaupt nicht mehr zu rechtfertigen ist.

Dieses Basis-Gefühl des einfach-nur-so-angenommen-werdens, einfach, weil man eben ist, morgens aufwacht und Bedürfnisse hat und Andere anlächeln kann, die dann hoffentlich zurücklächeln, das wurde dem Jungen doch offenkundig nicht zuteil. Man kann doch nicht Frustation diskreditieren. Die Tat gehört diskreditiert, klar, klar. Aber dieser System-Imperativ: "Fügt euch in eure Frustration, es herrscht Mangel, aber an dem ist jeder selbst schuld!" nervt. Nein, das ist kein Plädoyer gegen Verantwortung. Aber gegen Zumutungen, die doch in Wahrheit kein Schwein aushält.

Und wenn man gegen die Versteher wettert, dann sorgt man einfach nur dafür, daß genau diese wechselseitige Bejahung, die Basis des Miteinanders sein muß, die prinzipielle Bejahung des Anderen, dieser Kultur noch endgültig ausgetrieben wird, und der Amoklauf, so verwerflich er ist, ja, ja, auf jeden Fall, ist doch genau dafür ein Symptom.

Sven (Gast) - 23. Nov, 21:22

Eben. Das eine ist die Tat. Das andere aber ist ein Mensch. Und bleibt einer. Einer, der etwas unverständliches getan hat, weil er sich nicht verstanden sah. Und sich wahrscheinlich nicht mal selbst verstehen konnte. Weil er (und die um ihn rum) das nice gelernt haben, mangels Gelegenheit oder mangels Verständnis.

Ich verstehe den Menschen. Seine Tat bleibt indiskutabel. Aber der Mensch muss diskutabel bleiben dürfen. Immer. Denn genau das macht das soziale Tier "Mensch" zum Menschen. Wem Verständnis verweigert wird, dem wird sein Mensch-Sein verweigert. Und das kann ihn zu un-menschlichen Dingen leiten.

Furcht führt zu Wut, Wut zu Hass, ....
Sven (Gast) - 23. Nov, 21:23

(da ist irgendwo ein "c" wo's nicht hingehört...) :-)
distelfliege - 24. Nov, 01:54

Hm..

>>wenn sich also mal jemand offen damit auseinandersetzt, dann ist's wahrscheinlich nix anderes als die Ehrlichkeit selbst, die abstößt.

Nö, falsch getippt.
Ehrlichkeit find ich mutig, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich diese Amokläuferhaltung nicht nachvollziehen kann und daß es mich emotional abstösst, wenn man es als "menschlich" ansieht, wenn Menschen Frustration und Ohnmacht in Gewalt und Zerstörung gegen andere umwandeln.

>>Zudem diese ganze Anti-X-Versteher-Rhetorik allerorten auch gewirkt zu haben scheint.

Ich hab bislang keine Ahnung wovon du sprichst. Mein Medienkonsum hält sich arg in Grenzen.

>>aber gäbe es mal wieder etwas mehr Versteher, wäre vielleicht auch ein bißchen weniger von dem da, was dann in der Tat überhaupt nicht mehr zu rechtfertigen ist.

Du hast sogar recht.

Yo Jungs, kann ich mal net anders so sagen: Für Männer scheint das einfacher zu verstehen zu sein - mag sozialisationsbedingt so sein, ne.. D.h. ihr habt die besseren Vorraussetzungen zum Verstehen, dann macht wat draus - Umwandlung von Opfergefühlen in Aggression gegen andere ist statistisch gesehen ein Männerproblem, und daher wäre es am logischsten wenn sich die "Versteher" dann auch aus der erfahrungskompetenten männlich sozialisierten Bevölkerung rekrutieren lassen würden.

Ich fänds jedenfalls klasse. Ich mein nur mal so, das wär doch traumhaft, wenn es mehr Versteher gäbe. Dann müssten viel weniger Frauen die Punchingbälle für unverstandene Gewalttäter spielen. Apropos: diese Punchingbälle brauchen auch Versteherinnen, die ham nämlich auch ein echtes Problem.
Sven (Gast) - 27. Nov, 12:27

Ich halte es für möglich, dass es da rollenspezifische Unterschiede im Umgang mit Phänomenen gibt, egal, ob die nun "natürlich" seien oder weil man das zur "Rolle" passend "gelernt" hat.

Ich warne allerdings davor, über die Diskussion über diese "Methoden" die Diskussion über die Ursachen (an die man über das "Nachvollziehen", also das "Verstehen" dessen, der da etwas "sichtbar" machte) rankommt, zu vergessen. Es ist IMO völlig wurscht, ob soziale und gesellschaftliche Defizite, verlernte gesellschaftliche Standarts etc. pp. von einem mit einem äßeren, von einem anderen "sozialverträglicher" mit einem "inneren" Amoklauf beantwortet werden, denn was dem einen sein Amoklauf, das ist der anderen ihre sozialverträgliche Entsorgung am Strick im Wald oder mit Schlaftabletten. Das, was "dahinter" steckt, keinen Zugang zu Gesellschaft zu finden, keine Handlungsalternativen angeboten bekomen für den Umgang mit Frust, Enttäuschung und vermeintlichem (gesellschaftlich definierten) oder realen "Versagen" etc., das ist IMO wichtig. Und da, auch in der Frage "Was kann man tun, um eine (wie auch immer, aber in jedem Falle irgendwie) destruktive Reaktion auf diese "Umstände" zu verhindern, und zwar "positiv" zu verhindern, mit Perspektiven und "Zuversicht", nicht (wie heute üblich) mit noch mehr Druck und Sanktionsankündigung, da liegt der Hase im Pfeffer, da liegt die Aufgabe und das ist das, was IMO "Wichtig" ist - und wovon man sich nicht ablenken sollte, mit Fragen nach Klischees, Rollen, "Details"o.ä.

Distel, das mag wirklich so sein mit den Geschlechtern wie du das siehst, aber ich denke, es ist am Ende wurscht, ob jemand "männlich" oder "weiblich" auf etwas reagiert, am Ende ist irgendjemand oder irgendetwas tot oder kaputt. Das passiert selten so "real" wie in einem solchen Amoklauf, meist sind es Zukünfte, Familenverhältnisse, Psychen, Potentiale etc. pp., die durch diese gesellschaftlichen Unfähigkeiten draufgehen. Das "Wie" ist da eher hinderlich, weil es einen von der Frage "warum" ablenken kann. Oder besser von der "Was können wir beitragen, dass nicht mehr so viele Menschen an der Gesellschaft verzweifeln" - egal wie diese Verzweiflung hier oder dort zum Ausdruck kommt, mal "offensichtlich gewalttätig", gegen andere gar und nicht "nur" gegen sich selbst, oder nicht so offensichtlich, durch diverse "innere Tode" - die durchaus auch andere "mitnehmen" können, siehe Phänomene wie Co-Abhängigkeiten, tradierte Missbrauchsmuster auf Kinder, die selbst nie missbraucht wurden, sich aber so verhalten, weil sie es von missbrauchten Eltern beigebracht bekamen etc. pp. - Gewalt muss nicht immer sichtbar sein, aber ich glaube, gerade jemandem, der sich mit Rollenzwängen auseinandergesetzt hat wie du muss ich das ja nicht erzählen, drum lass ich das jetzt einfach mal so stehen :-)
MomoRules (Gast) - 24. Nov, 09:17

@Distelfliege:

Kurz Meta-Kommunikation: Allergisch reagiere ich darauf, wenn jemand sich öffnet - Martin - und dann jemand kommt und sagt: Mich stößt ab, was Du zeigst.

Und, um die Geschlechterdebatte anzuheizen und zurück zu provozieren: Das ist typisch Frau. Weil die in Anderen rumpfuschen wollen: Zeig Dich, bitte ständig, ich sag Dir dann, ob Du richtig tickst oder nicht und bewahre mir somit mein schon historisch begründetes Bewertungsmonopol.

In solchen Konstellation könnte man glatt Amok laufen und wenn man das erlebt, dann ist das auch eine Gewalterfahrung. Nur eben keine körperliche. Männer können Andere einfach besser akzeptieren und so lassen, wie sie sind - zumindest jene im unmittelbaren Umfeld, darüber hinaus allzu oft auch nicht.

Gestern stand dazu ein großartiger Artikel von Katharina Rutschky in der FR, den stelle ich heute mal online ...

distelfliege - 24. Nov, 09:32

Ok

Zur Kenntnis genommen, wobei ich dazusagen muß daß ich Martins Geschreibsel insgesamt sehr schätze und Martin finde ich auch nicht abstossend.

Allerdings noch was an dich: zu diesem Thema "In solchen Konstellationen könnte man glatt Amok laufen" zu schreiben is schon der pure Zynismus, wa?

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