Illuminismus Teil 2: Gelehrte zwischen den Welten

(Erster Teil: Die Illuminaten-Panik)
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunders wurden nicht nur die Grundlagen der Französischen Revolution, sondern auch die der industriellen Revolution gelegt. Im Vergleich zu früheren Zeitaltern war der Fortschritt von Wissenschaft und Technik rasant - tatsächlich war die Idee des "Fortschritts" vor dieser Zeit kaum verbreitet. Die "Enthüllungen unsichtbarer Kräfte" fesselten die Aufmerksamkeit der "gebildeten Stände". Schon die Gravitationstheorie Newtons muß sensationell gewirkt haben: eine durch den leeren Raum wirkende Kraft, die Erde und Himmel im Gleichgewicht hält - welch ein Gegensatz zu den anschaulichen naiv-mechanischen Modellen, die in der Frühaufklärung verbreitet waren (z. B. versuchte Descartes die Schwerkraft mit Wirbelbewegungen im Weltäther zu erklären). Die aristotelische "Phsyik des gesunden Menschenverstands" galt nicht mehr. Da war die neu entdeckte Elektrizität - gezähmte Blitze in Menschenhand! 1783 erhoben sich erstmals Menschen in einem Ballon vom Boden ab. Die Krafte, die solche Wunder ermöglichten, konnte man weder sehen, noch riechen, noch hören. Die Europäer dieser Zeit erlebten zum ersten Mal, dass Dinge, die man gestern noch ins Reich der Magie verwiesen hätten, heute Wirklichkeit wurden.
Je mehr Geheimnisse die Wissenschaft enthüllte, um so irritierter war ein Publikum, das mit den Gesangbüchern der Kirche, nicht aber mit Lehrbüchern der Physik und Chemie aufgewachsen war. Einerseits bewirkte die Wissenschaft "magische" Dinge, andererseits entvölkerte sie den Himmel von Engeln und Dämonen, und ließen die Menschen vor der kalten Leblosigkeit des Universums erschaudern. Auch die durch die Aufklärung kritisierten, als Machtapparate entlarvten, von anscheinend vernunftwidrigen Dogmen geprägten Kirchen boten immer weniger Halt. Jean-Jacques Rousseau bedauerte schon 1750 in seinem Diskurs über die Wissenschaften und Künste den Verlust der Harmonie zwischen Mensch und Natur.

Die Illuministen versuchten eine, wie wir heute sagen würden "ganzheitliche" Form der Erkenntnis zu finden, in der sich Weisheit und Wissenschaft miteinander versöhnen sollten. Sie forderten, dass zu Erforschung der Materie die mystische Erkenntnis, ein tiefes Verstehen des göttlichen Plans, wie sie es nannten, treten müsse. Durch mystische Erfahrungen sollten Wissenschaftler illuminiert, also erleuchtet werden; aus der Verbindung aus exakter Wissenschaft und mystischer Weisheit sollte die haute science, eine höhere Wissenschaft, entstehen. Der Schlüssel zur Erkenntnis der "Ganzheit" lag für die Illuministen im Menschen und seiner intuitiven Erkenntnisfähigkeit selbst. Sie suchten nach nicht weniger als den verborgenen Gesetzen des Lebens und der Seele, nach der kosmischen Harmonie.
Die Ähnlichkeit zwischen den Gedankengängen der Illuministen und denen des New Age der 1960-1980er Jahre ist manchmal verblüffend. Wie Teihard de Chardin oder Fritjof Capra versuchten sie den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Spritualität. Allerdings entwickelte sich das nicht mehr ganz neue New Age ziemlich schnell in Richtung einer von Harmoniesucht und einer gewissen Denkfaulheit geprägten Gebrauchs- und Konsum-Esoterik, und "Vordenker" wie Capra wendeten sich mit Grausen ab. Im 18. Jahrhundert bestand diese Gefahr nicht, obwohl es vor allem im vorrevolutionären Frankreich auch damals eine regelrechte Esoterik-Welle samt bizarrer kommerzieller Auswüchse gab. Astrologen, Schicksalsdeuter, Wunderheiler und Verkäufer von Talismanen und Amuletten gab es im Paris der 1780er Jahre gewissermaßen an jeder Straßenecke. Zauberer und Wahrsager waren im Alltag so tief verwurzelt, dass die Polizei auf sie als Spitzel noch lieber zugriff als auf die Priester. Wie bei vielen "New Age"-Esoterikern war die Beschäftigung mit dem Okkultismus oft eine Flucht vor einer scheinbar übermächtigen, als bedrückend empfundenen politischen und wirtschaftlichen Realität.

Typisch für die Illuministen war es, ähnlich den gelehrten Romantikern im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts, in alten Überlieferungen neue Bedeutungen zu erkennen. Manchmal erschlossen sich dabei neue historische Erkenntnisse, manchmal tiefe Einsichten, häufig aber auch nur (aus heutiger Sicht) abenteuerliche Um-Interpretationen und wilde Spekulationen. Ein Beispiel ist die "Wiederentdeckung" des Tarots durch den französische Universal-Gelehrten, königlichen Zensor und begeisterten Illuministen Antoine Court de Gébelin. Er "erkannte", dass die Trumpfkarten des in der italienische Renaissance entstandenen Kartenspiels Tarot (oder Tarock) "in Wirklichkeit" ein tiefes Mysterium altägyptischen Ursprungs war. In einer Mischung aus mystischer Schau, Analogieschlüssen (weil einige der Karten eine gewisse Ähnlichkeit zu ägyptischen Motiven hatten), dem bescheidenen ägyptologischen Wissen seiner Zeit, einer Schwäche für Allegorien und kühner Spekulation wurden die bunten Spielkarten zur bildhaften Niederschrift des altägyptischen "Buches Thot", einer Initationsschrift einer Mysterienreligion. Als aktiver Freimauerer war Court de Gébelin überdies mit Initiationsriten und Symbolen mit tieferer Bedeutung bestens vertraut, er "entdeckte" wohl im für ihm Neuen eben das, was er kannte. Sine "Entdeckungen" wurden in einem okkultismus-verrückten kulturellen Umfeld begeistert aufgegriffen. Schon bald baute der "Berufsesoteriker" Étteilla das "Buch Thot" in seine Bücher über die Kunst aus Spielkarten wahrzusagen ein. Auch wenn der geschäftstüchtige Étteilla mit illuminierten Weisheitslehren und Wegen zur edlen Selbsterkenntnis wenig am Hut hatte, wurde er so zum Begründer des esoterischen Tarots. Er schuf auch das erste speziell für Kartomantie gestaltete Tarot-Blatt. Vor ihm und Court de Gébelin hatte die Kartomantie übrigens ein ähnliches Ansehen wie Kaffeesatzlesen oder Bleigiessen gehabt.

Court de Gébelin war bei all dem kein versponnener Außenseiter, sondern ein seriöser und angesehener Gelehrter. Das war bei Illuministen nicht ungewöhnlich, auch Johann Georg Forster, einer der führenden Naturwissenschaftler seiner Zeit, war Anhänger des Illuminismus und beschäftigte sich ernsthaft mit der alten Geheimwissenschaft Alchemie. (Darin war er quasi ein Nachfolger der Physikers, Mathematikers und Alchemisten Isaac Newton, der ohne seinen Hang zur Zahlenmystik und zur "natürlichen Magie" möglicherweise nicht auf seine Gravitationsgesetze gekommen wäre, oder des Berufsastrologen, Sternenmystikers und Astronomen Johannes Kepler.)

Damit wären wir wieder beim Thema Verschwörungstheorien. Nicht nur, weil Forster wenig später als Anhänger der Französischen Revolution und selber Revolutionär (in Mainz) in Erscheinung trat. Als Freimauerer gehörte er nicht nur der Kasseler Loge "Zum goldenen Löwen" an, er stand auch mit der berühmten Pariser Loge "Neuf Soeurs" in Verbindung, der "Loge der Philosophen". Court de Gébelin gehörte dieser Loge an und war ihr Schriftführer, die bekanntesten Logenbrüder der "Neuf Soeurs" waren Benjamin Franklin und Voltaire.
Nun war Court de Gébelin glühender Anhänger des Messmerismus, einem Heilverfahren, das angeblich auf "animalischen Magnetismus" beruhen sollte, in Wirklichkeit aber eine Form der Hypnose war. Eine vom König eingesetzte Kommision angesehener Wissenschaftler, darunter der Chemiker Lavoisier und der Universalgelehrte Franklin, erklärte nach langwierigen Untersuchungen, dass es den animalischen Magnetismus offensichtlich nicht gab, folglich der Messmerismus ohne wissenschaftliche Grundlage sei.
Verschwörungstheoretikern kam es "verdächtig" vor, dass sowohl die erbittersten Streiter gegen vermeindlichen Aberglauben und Esoterik wie die eifrigsten Esoteriker Freimaurer waren - schlimmer noch, der Messmer-Gegner Franklin und der Messmer-Unterstützer Court de Gébelin waren hochrangie Brüder der selben Loge! Das roch für sie nach für "das dumme Volk" inszenierten Scheingegensätzen. Es kam ihnen ja auch merkwürdig vor, dass ausgerechnet der Radialaufklärer und Gründer des Illuminatenordens Adam Weishaupt Court de Gébelins Werke ins Deutsche übersetzte. Genau so merkwürdig übrigens, wie die enge "Zusammenarbeit" von Royalisten wie Lavoisier und Court de Gébelin und Revolutionären wie Franklin oder Forster, Männer, die "normalerweise" doch erbitterte Feinde gewesen seien müßten.

Der dritte und letzte Teil dieser Reihe geht auf den Illuminismus im 19. Jahrhundert ein.
che2001 (Gast) - 21. Jul, 17:00

Ja, und es wurde sogar gemutmaßt, George Washington und Adam Weishaupt seien ein und dieselbe Person. Im Haus Weishaupts habe ich übrigens schon mal genächtigt.

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