Wilhelm Marr - linksdemokratischer "Vater des modernen Antisemitismus"

In Wie antisemtisch ist Asatru? (3)) erwähnte ich Wilhelm Marr, der den Begriff "Antisemitismus" prägte.
Marr ist eine Schlüsselfigur in der Entwicklung von religiös begründeten "Antijudaismus" - der nach heutigem Sprachgebrauch als "traditioneller Antisemitismus" bezeichnet werden müßte - zum "modernen Antisemitismus". Überraschenderderweise war Marr nicht rechtsextrem, er war nicht deutschnational, er war auch kein Nationalromantiker: Wilhelm Marr war ein profilierter linker Demokrat!

Der aus Magdeburg stammende "Commis" (Handlungsgehilfe, nach heutigem Sprachgebrauch kaufmännischer Angestellter) Wilhelm Marr ließ sich 1841 in Zürich nieder. Dort machte er die Bekanntschaft einiger deutscher republikanischer Oppositioneller, die in der Schweiz im Exil leben. Zu ihnen gehören Julius Fröbel, später einer der Gründer der Demokratischen Partei ist und 1848 Abgeordneter im Frankfurter Paulskirchen-Parlament wird, und der politische Dichter Georg Herwegh. Marr wurde politisch aktiv und trat für eine sozialistische Politik ein. Mit Wilhelm Weitling lernte Marr den ersten deutschen Theoretiker des Kommunismus kennen und wurde selbst Kommunist. Marr trat auch dem jungdeutschen (radikal demokratischen) "Léman-Geheimbund" ein. Er instrumentalisierte den Bund für sein persönliches Geltungsbedürfnis. Wenig später wandte sich Marr dem Anarchismus zu und gründete den geheimen "Schweizerischen Arbeiterbund". 1845 wurde er aus Lausanne ausgewiesen; aus Zürich war er schon einige Jahre zuvor ausgewiesen worden. Marr versuchte sich in zahlreichen deutschen Städten niederzulassen, wird jedoch aus allen ausgewiesen - durch die 1819 eingerichtete Mainzer Central-Untersuchungs-Commission waren sie über seine politische Aktivitäten im Bilde. (Es ist m. E. bezeichnend, dass ausgerechnet eine Überwachungsbehörde die am besten funktionierende gemeinsam Institution des politisch zersplitterten und ansonsten völlig einflußlosen "Deutschen Bundes" war.)
1846 erscheint seine Propagandaschrift "Das junge Deutschland in der Schweiz". Sie wird zu einem seiner erfolgreichsten Bücher - und zeigte offenbar bereits seine antiliberale Grundeinstellung.
Marr konnte sich in Hamburg - damals dem an wenigsten intoleranten deutschen Kleinstaat - niederlassen und betätigte sich dort als politischer Journalist und brachte das erfolgreiche satirische Blatt "Mephistopheles" heraus. Als extrem linker Anhängern der radikal-demokratischen Partei wurde er 1848 als Deputierter der Hamburger Constituante nach Frankfurt am Main entsandt.
Er polemisierte gegen das seiner Ansicht nach zu weiche Paulkirchenparlament und gegen die Judenemanzipation. Als einzigen Grund seine Abneigung gegen Juden führte er den Liberalismus an, der sich den jüdisch konnotierten Kapitalinteressen verschrieben habe. (Damit nahm er die bis heute wirkende "Tradition" des "linken" antikapitalistischen, Antisemitismus vorweg.)
Nach dem Scheitern der von ihm ersehnten demokratischen Republik wurde er zum energischen Befürworter eines deutschen Staates unter preußischer Hegemonie.
Marr bliebt politsch aktiv, war im Vorstand des „Demokratischen Vereins“ und seit 1861/62 Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft (dem Hamburger Landtag). Sein fortbestehender politischer Radikalismus und ein antisemitischer Beitrag im "Courier an der Weser" 1862, in dem er den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft, Gabriel Riesser, einen liberalen Juden und Vorkämpfer der Judenemanzipation, attackierte, führten zur Aufgabe seiner politischen Ämter.

Die politischen und gesellschaftliche Verhältnisse in Hamburg beeinflußten Maars Antisemitismus: Hamburg wurde von einer Kaufmannsoligarchie, die das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben völlig beherrschte, regiert. Nach dem Vorbild des benachbartem dänischen Altonas, das schon im 18. Jahrhundert völlige Religionsfreiheit kannte, war Hamburg im "Vormärz" Vorreiter der Judenemanzipation. Liberale Juden, wie Riesser oder der Bankier Salomon Heine, schafften den Aufstieg in die "Kaufmannsaristokratie". Marr warf "den Juden" (die meisten Hamburger Juden waren Kleinhändler oder Handwerker und keinesweg wohlhabend) vor, die Emanzipation zu missbrauchen, um sich wirtschaftliche und politische Machtpositionen innerhalb der Hamburger Kaufmannsoligarchie zu sichern. Nach dem Erreichen dieser Positionen hätten sie die demokratischen Ideale des Liberalismus verraten. (Also eine antisemitische Verschwörungstheorie für das Scheitern der "Märzrevolution" von 1848 und die ausbleibenden demokratischen Reformen in Hamburg.)

Über den Einfluß Marrs persönliche Lebensverhältnisse auf die Entstehung seines Antisemitismus kann ich wenig sagen. Es fällt aber auf, dass Marr in erster Ehe Georgine Johanna Bertha Callenbach heiratet, deren Vater sich vom Judentum abgewandt hatte. Nach der Scheidung heitatete er Helene Sophia Emma Maria Behrend, eine Jüdin aus einer Familie der Hamburger "besseren Gesellschaft", die schon im Jahr der Hochzeit starb. Er heiratet darauf Jenny Therese Kornick, geschiedene Zschimmer, die einen jüdischen Elternteil hatte. Erst seine vierte Frau, Clara Maria Kelch aus eine Hamburger Arbeiterfamilie war (wahrscheinlich) "Nichtjüdin" im Sinne des von Marr vertretenen Rassenantisemistismus. Marr, der einige Zeit in Mittelamerika lebte, war auch rassistisch gegenüber "Indios", "Neger" und "Mulatten" und hielt die für Lateinamerika typische "Rassenvermischung" für verhängnisvoll.

Den Begriff "Antisemitismus" in seiner heutige Bedeutung prägte Marr in seiner 1879 erschienenen Propagandaschrift "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum - Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet".

Marr grenzte sich in seinen Schriften von der traditionellen religiösen Judenfeindschaft ab und behauptete, dass die Juden eine fremde, parasitäre "Rasse" seien, die erfolgreich die Ausbeutung der "Germanische Völker", vor allem der Deutschen, betreibe. Diesen Paradigmenwechsel von Religion zu "Rasse" verdeutlichte Marr dadurch, das er den Begriff "Antisemitismus“ prägte. Marr wußte sehr wohl, dass auch z. B. Araber, gegen die er nichts hatte, Semiten waren. Er verwies darauf, dass die einzigen Semiten, die in Europa Fuß gefaßt hätten, Juden seien. Da auch assimilierte und sogar getaufte Juden seiner Ansicht nach "jüdisch" blieben, suchte er nach einem passenden Begriff für solche "Rassejuden". Er fand ihn in "(europäische) Semiten".
Marr stellte als erster antijüdischer politischer Autor die Juden nicht den Christen, sondern den "Germanen" gegenüber. Er behauptete, es gebe seit über 1800 Jahren einen kulturellen Krieg zwischen beiden "Rassen". Dieser sei mit der Judenemanzipation zugunsten der Juden entschieden worden. Die Deutschen selber hätten den Juden mit der Märzrevolution von 1848 zu ihrem Sieg verholfen, indem sie deren liberale Ideen übernommen hätten. Auch Deutschlands Konkurrenten in Europa, Frankreich und Großbritannien, würden von Juden beherrscht. Er schloss mit einer kulturpessimistischen Aussicht: Den Juden gehöre die Zukunft, das Germanentum sei zum Aussterben verurteilt. Finis Germaniae! Vae victis! (Das Ende Germaniens! Wehe den Besiegten!)
Marr formulierte schon damals die Verschwörungstherie vom alle
Staaten Europas durchdringenden und "zersetzendem" Weltjudentums. Gegen die heimliche Herrscher, das Weltjudentum, gründete er die "Antisemitenliga".

Marr und seine "linke" Antisemitenliga konnten sich unter den mehrheitlich doch eher völkisch-nationalistisch und antidemokratisch gesonnenen "rechten" Antisemiten nicht durchsetzen. Allerdings wurde seine rassistisch begründete Verschwörungstheorie geradezu begeistert von ihnen aufgenommen - vermutlich, weil sie "modern" und "wissenschaftlich" wirkte.

Wilhelm Marr - Biographie

Wikipedia: Wilhelm Marr,
Antisemitenliga,
Antisemtismus bis 1945
Pileatus (Gast) - 21. Jan, 09:31

Sehr interessant, war mir so bisher nicht bekannt. Es bestätigt aber meine Einschätzung, wonach der moderne Antisemitismus dem Antiliberalismus entspringt. Der Artikel wirft auch ein interessantes Licht auf die Genese des Nationalsozialismus: Dieser war ja eben gerade nicht Ausdruck konservativen Denkens, sondern zeigt in vielen Punkten einen starken "linken" Einschlag.

Liebe Grüsse

P.

MMarheinecke - 21. Jan, 12:01

"Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls"

(Ist von Bebel, glaube ich.) Wenn Du unter "links" "gefühlsmäßig antikapitalistisch" verstehst, kann ich Dir recht geben. Wobei es der ideologische Trick der Nazis und ihren Vorläufer und Nachfolger war, zwischen einem "bösen" "raffenden Kapital" (beherrscht von Juden und "Gesinnungsjuden"/"weißen Juden") und einem "guten" "schaffenden" Kapital zu unterscheiden. Wer zum "raffenden" und wer zum "schaffenden" Kapital gehörte, wurde bei den Nazis nach taktisch-opportunistischen Gesichtspunkten unterschieden.
Ich stimme Dir völlig darin zu, dass moderne Antisemitismus - wie übrigens schon der ältere, traditionelle Antijudaismus - Ausdruck eines zutiefst antiliberalen Denkens ist, das allerdings sehr wohl konservativ sein kann.
Marr selbst war, als linker Antisemit, unter den mehrheitlich eher gesellschaftlich konservativen und stark nationalistischen Antisemiten des späten 19. Jahrhunderts, weitgehend isoliert. Obwohl auch er offensichtlich von starken Überfremdungs und Unterwanderungsängsten getrieben wurde.

Trackback URL:
https://martinm.twoday.net/stories/2837007/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 7045 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren