Noch eine Begriffsklärung zum "Kampf der Kulturen"

In der Debatte um die angeblich islamfeindlichen Passagen im Vortrag Benedikts XVI. steht im Allgemeinen das Zitat eines mittelalterlichen Kaisers im Vordergrund. Allerdings ist für Aiman al Sawahiri, der allgemein als Vizechef von Al Qaeda gilt, etwas Anderes von zentraler Bedeutung:
netzeitung: Sawahiri beschimpft den Papst und Bush
"Dieser Hochstapler hat die rote Linie überschritten, als er sagte, dass sich der Islam nicht mit der Vernunft vereinbaren ließe», sagte Sawahiri. Er meinte damit offenbar jene Stelle in dem Vortrag Benedikts XVI., in der dieser über die islamische Lehre sagte, dass für diese «Gott absolut transzendent» sei. «Sein Wille ist (im Islam) an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit.»
Swahiri liefert damit ein gutes Beispiel für eine streng fundamentalistische Religionsauffassung - und bestätigt interessanterweise die Darstellung des Papstes. Swahiri fühlt sich beleidigt (oder gibt es zumindest vor), eben weil Gott seiner Auffassung nach an keine menschlichen Kategorien gebunden ist - sondern die transzendente Quelle aller Werte und Kategorien ist. Gott ist in fundamentalistischer Auffassung (auch christlich-fundamentalistischer übrigens) per Definion "absolut vernünftig", der Koran (oder die Bibel) nicht nur "göttlich inspiriert", sondern das Wort Gottes - in jedem Komma und jedem I-Tüpfelchen. Egal, wie unvernünftig das einem sterblichen Menschen auch erscheinen mag.

Die Weltsicht eines Fundis vom Kaliber Swahiri könnte man so wiedergeben:
"Egal, wie er auf sterbliche Menschen wirken mag, der Islam ist die unverfälschte Widergabe der absoluten Vernunft Gottes. Wer also behauptet, Gott wäre im Islam über die Kategorie der Vernunft erhaben, lästert Gott, den ER ist die Vernunft (die Liebe, der Frieden, die Gerechtigkeit).

Wenn ein Katholik vom "unerforschlichen Ratschluß Gottes" redet, dann meint er in aller Regel: "Was uns Menschen vielleicht unvernünftig erscheint oder ungerecht, das sieht aus der Perspektive der überlegenen Vernunft, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes ganz anders aus." Ein Fundamentalist meint damit: "Was Gott beschließt, das ist vernünftig, und damit Basta! Wer als Mensch an der Vernünftigkeit der Ratschlüsse Gottes auch nur eine Sekunde lang zweifelt, der lästert wider Gottes." Außerdem wird ein Fundamentalist darauf beharren, dass sich Gott klar, eindeutig und für alle Menschen verständlich offenbart hat. Wer diese klare Offenbarung nicht versteht, der ist eben böse, verstockt oder bestenfalls irregeleitet.

Einen guten Eindruck dieses Denkens bekommt man, wenn man versucht, mit Missionaren einer fundamentalistischen Sekte zu diskutieren. Wobei es völlig egal ist, ob besagte Sekte "christlich", "islamisch", "theosophisch",usw. ist. Selbst bei völlig abgespaceten UFO-Sekten läßt sich dieses Denkmuster wiederfinden. "Ashtar Sheran hat uns klare, unmissverständliche Botschaften übermittelt". Alien
(Es gibt sogar jemanden, der nach eigenen Angaben das "traditionelle germanische Heidentum" vertritt und auf fundamentalistische Weise "argumentiert". Womit er es im Laufe der Jahre geschafft hat, sich vom enfant terrible über die persona non grata zum unfreiwilligen Clown des deutschsprachigen Neuheidentums emporzuarbeiten. Das nur am Rande.) anbeten
Hinter Fundamentalismus aller Art steckt eine Weltsicht wie in diesem alten Witz: "Achtung, auf der A24, zwischen Börnsen und Geesthacht, kommt Ihnen ein Fahrzeug entgegen!" - "Wie bitte, ein Fahrzeug? Tausende!"

Hinter diesem Hintergrund ist auch klar, was der "Vize" des Terrornetzwerks Al Qaeda meint, wenn er über den Papst sagt:
Dieser Mensch mit paradoxen Ansichten tut so, als hätte er vergessen, dass sein Christentum von einem gesunden Verstand nicht begriffen werden kann.
Klar, denn einen "gesunden Verstand" hat nur der, der genau das Selbe glaubt, was Swahiri glaubt. ;-)

Noch eine notwendige Anmerkung: die wenigsten Fundamentalisten sind gewaltbereit - die, die es sind, sind aber schlimm genug. Davon abgesehen bin ich der Ansicht, dass sich jede Religionsgemeinschaft ihre Fanatiker und religiös Verdrehten selbst kümmern muß. (Hierzu, in der Sagnagelschmiede: Self fulfilling prophecies).

Ich bin außerdem der Ansicht, dass der religiöse Fundamentalismus für "Hassprediger" und Al Queda-Terroristen nur den Charakter einer Rechtfertigungsideologie hat - in den mir bekannten Hasspredigten und Äußerungen radikaler Islamisten steht nämlich eindeutig die Politik im Vordergrund, die "Religion" beschränkt sich auf einige Phrasen.
Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass die Attentäter vom 11 September 2001 keine "islamischen Fundamentalisten" waren. Eher politische Fanatiker mit einem dem islamischen Fundamentalismus entlehnten "Betäubungsspritze für aufkommende Skrupel": "Wenn wir dabei Unschuldige töten, wird Gott die Seinen schon erkennen und ihnen den Weg ins Paradies bahnen."
Hellblazer - 2. Okt, 13:06

Tja, wie sich die angeblich ach so gegensätzlichen Kulturen da doch gleichen... :-)

Chat Atkins - 2. Okt, 15:15

Wenn ich an Gottes Transzendenz glaube, dass er in seiner Weisheit alle anderen Kategorien überwölbe, dann ist selbstverständlich auch alle Vernunft "in Gott". Es ist genau wie mit den fundamentalistischen Bibelauslegern in den USA und anderswo: Alles Vernünftige steht schon in der Heiligen Schrift - und was dort nicht steht, das kann deshalb nicht vernünftig sein, weil Gott es nicht gesagt hat. Der klassische Zirkelschluss aller Demagogen - ob religiös oder bloß verrückt.

Im Grunde ist dies jene orthodoxe Denkblockade, gegen die alle Aufklärer seit Voltaire gekämpft haben: Außer Gott sei nichts (denkbar). Mit unserem windelweichen Toleranzgebarme und Verständnisgeflehe werden wir übrigens gar nichts erreichen: Uns steht meines Erachtens ein (geistiger) Kampf bevor wie schon einmal gegen die "Mullahs des Christentums" im 18. Jahrhundert. Aber auch wir haben Bücher - und die sind viel stärker als der Koran, und mehr von dieser Welt noch dazu.

Diesmal geht es nicht gegen christliche Hexenverbrenner, sondern gegen Figuren, die außer Koransuren, deren staubbedeckten Auslegungen und ihrer Kanzelrednerkunst, um ungebildete Leute aufzuhetzen, in ihrem Leben noch nichts "Vernünftiges" gelernt haben. Außer vielleicht der Nutzung des Internet (was wiederum zeigt, wie einfach das Internet doch ist).

In dieser Auseinandersetzung wird dann selbstverständlich auch Blut fließen - weniger übrigens "durch uns", das meiste "zwischen ihnen" (einen Vorgeschmack geben Bagdad, Somalia, Darfur oder der Gaza-Streifen derzeit). So, wie sich die europäische Aufklärung als "religiös-ideologische Ermüdungserscheinung" betrachten lässt, so muss die islamische Welt sich auch erst in endlosen Kämpfen "ermüden". Das wird dauern.

Ideologische Kämpfe sind immer die blutigsten überhaupt. Davor dürfen wir aber nicht zurückzucken. Falsche Ideologien (gibt es richtige?) müssen radikal bekämpft werden. Um "zu Kreuze zu kriechen", dazu sind wir inzwischen zu "vernünftig" im Sinne unserer Vernunft. Oder etwa nicht? ...

Hellblazer - 2. Okt, 19:10

Ja. Tod allen Fanatikern! Alle an die Wand! TOOOD! Erschießen! Alle! Sofort!
Chat Atkins - 2. Okt, 22:32

Krakeel ist noch kein Argument.

MMarheinecke - 2. Okt, 22:56

Stimmt auffällig! Aber in diesem Zusammenhang:
Ideologische Kämpfe sind immer die blutigsten überhaupt. Davor dürfen wir aber nicht zurückzucken. Falsche Ideologien (gibt es richtige?) müssen radikal bekämpft werden.
ist Svens Polemik angemessen. Bei allem Verständnis für Deine Position - mir ist die Rhetorik zu kriegerisch.
George Orwell warnte aufgrund seiner Erfahrungen im spanischen Bürgerkrieg, inm 2. Weltkrieg und im "kalten Krieg" gegen die UdSSR, davor, dass sich demokratische Gesellschaften, die sich im Kampf gegen totalitäre, gewaltätige Gesellschaften befinden, dazu neigen, selbst totalitäre und gewaltätige Züge anzunehmen. Diese Gefahr sehe ich auch bei der Auseinandersetzung des "Westens" mit dem totalitären, gewaltätigen Islamismus.
Chat Atkins - 3. Okt, 01:09

Vermutlich hast du recht. Das folgt aus einer gewissen Dynamik - Dinge schaukeln sich auf. Man zieht dann nicht mehr zurück, sondern attackiert seinerseits. Vermutlich ist das falsch - aber unwillkürlich. Ist so'n Reflex. Theatralisch sehr gut einsetzbar, die Leute gehen ja mit ...

Chat Atkins - 3. Okt, 09:12

Zur Illustration dessen, dass ideologische Kämpfe immer die blutigsten sind, ein paar Beispiele:

- englische Revolution unter Cromwell (Puritaner gg. Staatskirche / ein Meer von Blut, Hobbes' Leviathan war die Folge)
- französische Revolution (Royalisten gegen Republikaner / "la terreur" tränkte dabei wortwörtlich alle Ackerfurchen mit Blut, wie es in der frz. Nationalhymne so schön heißt)
- Mao Ze Dong (Einparteiendiktatur, der gute Mann ist mit seinem großen Sprung nach vorn für geschätzte 70 Mio. Leichen verantwortlich)
- Nationalsozialismus (biologischer Rassenwahn - Folgen bekannt)
- Heilige Inquisition und Hexenwahn
- Kreuzzüge
- russ. Bürgerkrieg
- Pol Pot
usw.

In allen Kriegen dagegen, wo es nur um "Gebiet" oder "Erbfolge" ging, saß man quasi abends schon wieder beisammen ...

Ich sage ja nicht, dass ich es gut finde, dass solche Auseinandersetzungen besonders blutig sind. Ich bin nur Realist und sage: Sie werden unausweichlich besonders blutig sein. Vor allem für, die mitten drin stecken. Und das sind nach Lage der Dinge die Muslime selbst.

MMarheinecke - 3. Okt, 11:11

Ideologische Kämpfe

sind unbestreitbar blutiger als Kämpfe um ökonomische Interessen. Wobei jeder der von Dir genannten Kämpfe ohne massive ökonomische Gründe vom Zaun gebrochen worden wäre, und ohne ökonomische Interessen hätten anhalten können.
Mir fällt außerdem auf, dass Du sehr unterschiedliche Konflickte zusammenstelltst.
Ich wage mal zu behaupten, dass die französische Revolutionskriege und der russische Bürgerkrieg vor allem aufgrund ökonomischer Interessen so eskalierten - und in Falle des russisschen Bürgerkrieges wurde die meisten Opfer nicht erschossen, sondern sind schlicht verhungert - elementar ökonomischer geht es kaum noch. Bei Maos "großen Sprung nach vorn" gab er "nur" wenige 10.000 durch unmittelbare Gewaltanwendung Ermordete - die Millionen Opfer sind einfach verhungert oder an Seuchen krepiert (weshalb sie von Mao-Apologeten bis heute nicht als Mordopfer gewertet werden.)

Die Heilige Inquisition und den "Hexenwahn" würde ich weitgehend getrennt voneinander betrachten - in Spanien, wo die Inquisition am stärksten war, hörte die Hexenverfolgung am frühesten auf. Hingegen war sie im Heiligen römischen Reich (deutscher Nation) am heftigsten - gleichermaßen in protestestantischen wie katholischen Gebieten. Ich habe vor einigen Jahren mal etwas darüber geschrieben: Die Erfindung des Hexereideliktes - auch hier. Außerdem kann man sie selbst auf dem Höhepunkt der Verfolgung nicht als "Kampf" bezeichnen. (Hierzu verweise ich auch auf die Wikipedia, trotz einiger Mängel: Hexenverfolgung.)

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