Schlechtachten

Auf meiner Blogrunde habe ich auch wieder mal bei "Dr.Dean" vorbeigeschaut. Es hat sich durchaus gelohnt: Glanzpunkte des Bloggens - Lobbycontrol und Was ist los mit unseren Wirtschaftssachverständigen?
Interessant ist aber auch die Diskussion bei Statler, der da - wie zu erwarten - etwas anderer Meinung als Dr. Dean ist: Vorsicht: Sachverständige wollen Arbeitslose aushungern.

Es ist wahr, und darin stimme ich Dean zu, die "Wirtschaftsweisen" (jedenfall 4 von 5) geben ein Gutachten ab, bei dem mich schlicht das kalte Kotzen überfällt - FR-aktuell:"Fünf Weise" für Sozialkürzungen und von heute auf tagesschau.de: Streit um ALG II Kürzungen geht weiter.
Die "Wirtschaftsweise" raten darin dem Vernehmen nach allen ca. zwei Millionen Langzeitarbeitslosen die Leistungen um 30 Prozent zu streichen, um "bis zu" (also höchstens!) 350 000 neue Jobs für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose zu schaffen. Der dicke Hammer dabei ist, dass ALG II dem Existenzminimum entspricht! Das zu kürzen wäre glatt verfassungwiedrig - weshalb ich mir das
159-seitige Gutachten der Sachverständigenrates mal runtergeladen habe:
Arbeitslosengeld II reformieren - Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell. Das Gutachten ist übrigens ein "wunderschönes" Beispiel für eine Kombination aus "Lobbysprech" und der, nun ja, typischen Gutachtersprache, Marke "Satzbau wie ein Drahtverhau", das nur am Rande.
Wenn ich es richtig verstanden habe, soll das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent (also tatsächlich weit unter das Existenzminimum) gekürzt werden, um den Anreiz zur Annahme einer Arbeit zu erhöhen. (Womit wir wieder mal bei der "Faulenzer"- und "Missbraucher" Debatte wären.) Der volle ALG-II-Regelsatz von 345 Euro soll grundsätzlich an eine Tätigkeit geknüpft sein - entweder in einem gering bezahlten regulären Job am ersten Arbeitsmarkt oder in einer "Arbeitsgelegenheit", etwa im gemeinnützigen Bereich. (Das wäre, wenn ich es recht sehe, ein dritter Arbeitsmarkt.) Nur wenn ALG-II-Empfängern überhaupt keine Beschäftigung angeboten werden kann, sollen sie weiterhin den vollen Regelsatz erhalten, auch wenn sie keine Tätigkeit ausüben. Also wie gehabt - wieder mal mehr "Druck" auf angebliche Faulenzer. Aber knapp an der Verfassungswidrigkeit und damit am Papierkorb vorbeigerauscht. (Wobei sich unweigerlich die Frage stellt, wie verfassungsgemäß denn eine "zur Strafe" für "Drückebergerei" unter das Existenzminimum reduziertes ALG II wäre.) Für die "Weisen" hege ich in der Tat Hass - es fällt mir schwer, ihnen gegenüber gerecht zu bleiben.
Ein echter Aufreger der Güteklasse A - und ein hervoragendes Beipiel, wie weit die "Raumstation Reichstag" von der Erde entfernt ist - was für die Befürworter, aber leider auch für manche Gegner des Gutachtens gilt. Längst ist die Argumentation durch Polit-Marketing (danke Momo!) ersetzt. Und auch für Journalisten und einige Blogger. Womit ich nicht Dr. Dean meine, der ist, wie ich, schlicht sauer - vielleicht zu sauer, um sich um Details zu kümmern. Es ist verdammt anstrengend, bei diesem Thema nicht zu explodieren und nachzusehen, was wirklich im Gutachten steht - wobei es mir schwerfällt, es zu verstehen - in doppelter Bedeutung.

Es ist außerdem widerlich, wie sehr die Ausagen des Gutachtens in den Medien weichgespült werden. Bloß keine Aufregung über ein bißchen Theaterdonner von den Gewerkschaften hinaus! Ja, das Fernsehen hat die Leute gut gezähmt! (Wahrscheinlich hätte wir ohne das Fernsehen längst den Volksaufstand - und mit "Fernsehen" meine ich nicht nur das Unterschichten-Betäubungs-Seicht-Programm am Nachmittag und frühen Abend.)
Wie das geht kann man z. B. bei Lobby Conrol nachsehen: Sabina Christiansen - Schaubühne der Einflußreichen und Meinungsmacher

Noch eine Anmerkung, zu einem Kommentar von "Telegehirn":
Vielleicht radikalisiert das einmal die Massen und sie merken dann, daß von den Etatisten nur Unheil, Not und Armut kommen.
Ich bin auch scharfer Kritiker der Staatsgläubigkeit, allerdings finde ich die Marktgläubigkeit gewisser Liberaler und gewisser Libertärer genau so widerlich. Beides sind ideologisch verengte Sichtweisen. Wie übrigens auch dieser Spruch. Weiter:
Wenn es zu Hungeraufständen und einem Anschwellen der Kriminalität kommt, dann ist die soziale Revolution auch nicht mehr weit. Aber wie ich "meine" Deutschen kenne, würden sie auch so eine Maßnahme begrüssen und stillschweigend schlucken oder radikale Etatisten wie NPD,WASG, SED-PDS wählen.
Da muß ich dem "antideutschen" und "libertären" Telegehirn leider recht geben. Die "Gefahr" einer sozialen Revolution ist in Deutschland gering, nicht nur, weil die Deutschen so eine komische Mentalität hätten (wobei der deutsche Glauben an "Vater Staat" / "Volksgemeinschaft" und die Untertanen-Mentalität ja nicht von Himmel gefallen ist), sondern weil es seit den Bauernkriegen deutsche "Mächtige" nichts so fürchten wie Revolten und entsprechend eine in Jahrhunderten perfektionierte "anti-revolutionäre" Staatskunst entwickelt haben. Die "Sehnsucht" nach dem "starken Mann" (und wenn es ein von Komplexen zerfressener östereichischer Postkartenmaler ist) in Krisenzeiten gibt es auch anderswo, aber die Strukturen, die es solchen Leuten leicht machen, sind m. E. in Deutschland besonders ausgeprägt.
Rayson - 9. Sep, 20:25

Sorry, könntest du mir noch mal erklären, worin der Skandal besteht? Dass arbeitsfähige ALG-II-Empfänger arbeiten sollen?

MMarheinecke - 9. Sep, 20:33

Wenn es ausreichend freie Stelle gäbe, die außerdem so bezahlt wären, dass es für mehr als das Existenzminimum reicht, und die Mehrzahl der ALG II-Empfaänger tatsächlich arbeitsunwillig wäre, dann wäre der Vorschlag wohl kein Skandal. Aber in so einer Welt wäre er auch überflüssig.
Rayson - 9. Sep, 21:19

Ersteres kannst du erstmal knicken - dazu reicht die Qualifikation der Arbeitslosen nicht, weil unsere Lohnpolitik einen enormen Produktivitätsdruck ausgelöst hat.

Und zweitens geht es nicht um "Unwilligkeit", sondern darum, Rahmenbedingungen so zu verändern, dass "Willigkeit" auch eine Chance bekommt.

Die Deansche Rhetorik, derer du dich aus meiner Sicht leider auch teilweise befleißigst ("verfassungswidrig"), schießt weit über das Ziel hinaus und hat Probleme, Ideologieverdacht zu widerlegen. Wo wir schon von "Gläubigkeit" reden...

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