Cäsium-137, Jod-131, Strontium-90, Lüge-86 - und die Spätfolgen

Was treibt Organisationen wie "Ärzte gegen den Atomkrieg" zum Realitätsverlust? Was trieb anerkannte Fachleute dazu, sich einer Verschwörungstheorie zu verschreiben, die aus "Akte X" stammen könnte? Wobei die "Geheimforschungs"-Theorie nicht unbedingt dem Ziel "Atomausstieg" förderlich ist, denn nimmt man sie ernst, sind sogar kritische Forschungsinstute wie das Öko-Institut, selbst "GRÜNE" Politiker, die erklärtermaßen lieber gestern aus heute alle kerntechnischen stillegen würden, sogar einige gestandene Anti-Atom-Aktivisten mit 25 Jahren Castorblockadeerfahrung nichts als gekaufte Marionetten der "Atomlobby".
Meine Vermutung: diese angsterfüllte bis paranoide Haltung, die niemandem traut, der nicht das Allerschlimmste annimmt, ist eine Spätfolge einer schweren Kontamination mit Lüge-86. (Anders ausgedrückt: durch die Desinformationspolitik damals wurde extremes Mißtrauen gesäht, dessen Spätfolgen die paranoide Grundhaltung einiger Atomkraftgegner ist.)

Im Umfeld des Reaktorunfalls von Tschernobyl wurde kräftig Lüge-86 freigesetzt, und zwar nicht nur in der damaligen UdSSR. (Siehe z. B. dieser Telepolis-Artikel vom 8. Mai 2006: Frankreichs wolkendichte Grenzen.) Die Folgen sind nicht nur bei reichlich verstrahlten Atomkraftgegner erkannbar, sondern auch z. B. in den Medien und - als Gegenreaktion - auch bei den Freunden der Kernenergie.

1. Vor dem Unfall
Typisch für die damalige UdSSR war eine im Prinzip nicht völlig unberechtigte Spionage- und Sabotageangst, die sich allerdings systembedigt zu einer flächendeckenden Paranoia ausweitete: Nicht nur, dass die linke Hand nicht mehr der Rechten traute, es mißtraute auch der rechte Daumen dem rechten Zeigefinger. Eine der Folgen war eine ins Absurde gesteigerte Politik der Geheimhaltung und Desinformation.
Über die Konstruktion der Reaktoren vom Tschernobyl-Typ, der RBMK, war im Westen wenig bekannt. Das Wenige war aber schon alarmierend. Bekannt war, dass es sich um graphitmoderierte Druckröhrenreaktoren handelte. Graphitmoderierte Reaktoren haben einen positiven Dampfblasenkoeffizienten: Bei Leistungs- und Temperatursteigerungen nimmt auch die Kettenreaktionsrate immer schneller zu, der Reaktor kann "durchgehen". Das passiert auch bei Wasserverlust, da das Wasser nur Kühlmittel, aber nicht Moderator ("Neutronenbremse", die die Kettenreaktion erst ermöglicht) ist. Wassermoderierten Reaktoren haben einen negativen Dampfblasenkoeffizienten, bei "Überhitzung" nimmt die Kettenreaktion ab, bei Wasser- (und damit Moderatoren-)verlust bricht sie ab. Man kann einen Leichtwasserreaktor sogar stoppen, indem man ihn "trockenlegt" - was bei einem Kernkraftwerk wegen der Resthitze allerdings zur Reaktorkernschmelze mit möglicherweise äußert unangehmen Folgen für die Umgebung führen würde. Immerhin: ein Unfall a la Tschernobyl, bei dem auch entfernte Landstriche schwer radioaktiv kontaminiert werden, kann aus physikalischen Gründen ausgeschlossen werden.
Eine zweite Risikoquelle beim RBMK ist das Graphit selbst: Es brennt ausgesprochen gut. Ein Brand eines graphitmoderierten Reaktors im britischen Windscale (heute Sellafield) im Jahre 1958 war der folgenschwerste "westliche" Reaktorunfall. Wikipedia: Windscale-Brand.
Außerdem war im Westen bekannt, dass man beim RBMK auf eine Sicherheitshülle, ein "Containment", verzichtet hatte - die Reaktoren stehen in unverstärkten Hallen, die im Prinzip normale Fabrikgebäude sind.
Dass über die Konstruktion der RBKM im Ausland kaum etwas bekannt war - im Gegensatz z. B. zu den Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart - dürfte daran gelegen haben, dass RBMK-Reaktoren auch zur Herstellung von waffentauglichem Plutonium benutzt wurden. Auch diese Tatsache war natürlich Staatsgeheimnis.

Geheimgehalten wurden haarsträubende Konstruktionsmängel des RBMK. So wurde verheimlicht, dass diese Reaktoren auch im Normalbetrieb über das Kühlwasser radioaktive Stoffe abgeben. Dass beim RBMK gewaltigen Kühlwassermengen eingesetzt werden, ist einerseits technisch bedingt, hat aber auch den "vorteilhaften" Effekt, dass durch die starke Verdünnung die Grenzwerte besser eingehalten werden können. Auch nicht bekannt war, dass eine Schnellabschaltung im Notfall immerhin 18 - 20 Sekunden benötige - bei westlichen Reaktoren sind 0,5 bis 1 Sekunde üblich. Außerdem waren die Abschalt- und Regelstäbe fehlerhaft konzipiert: Beim Einfahren aus dem völlig gezogenen Zustand reduzieren sie zunächst nicht die Reaktivität, sondern beschleunigen sie sogar. Betätigt man die "Bremsen" des Reaktors, führt das konstruktionsbedingt zu einem kurzzeitigen "Gasgeben". Dieses wichtige Detail wurde nicht einmal den Bedienungsmannschaften mitgeteilt (!), obwohl es nach einem Beinahe-Unfall im Kraftwerk Ignalina (heute Litauen) den Betreibern bekannt war.

Das AKW Tschernobyl galt wegen seiner hohen Verfügbarkeit als Musteranlage. Ein Jahr vor dem Unfall wurde sogar ein Filmteam der ARD durch die Anlagen geführt, wobei die Kommentatoren, soweit ich mich erinnern kann, den verharmlosenden Angaben ihrer "Fremdenführer" völlig vertrauten.
Der "Informationsdienst Kernenergie" der Kernkraftwerksbetreiber erwähnte zwar den vergleichsweise schlechten Sicherheitsstandard der meisten osteuropäischen Kernkraftwerke, allerdings meistens eher um die hervorragenden Sicherheitseinrichtungen westdeutscher Reaktoren zu loben, als auf mögliche Risiken durch unsichere Reaktoren einzugehen.

In der westdeutschen Anti-Atom-Bewegung gab es zwei gegensätzliche Meinungen über das Risiko durch "östliche" AKWs. Eine Gruppe (zu der ich gehörte) war der Ansicht, dass die graphitmoderierten sowjetischen Reaktoren der gefährlichste zivile Reaktortyp überhaupt wären. Die Leichtwasserreaktoren im Ostblock wären vergleichsweise sicherer, allerdings würden auch ihre Sicherheitseinrichtungen in der Regel nicht westlichen Standards entsprechen.
Eine weitaus größere Gruppe hielt "westliche" und "östliche" Reaktoren etwa für gleich gefährlich, ihre Anhänger warfen der ersten Gruppe gelegentlich vor, der Propaganda der westlichen Kraftwerksbauer auf den Leim gegangen zu sein.
Es gab noch eine dritte, kleine, meistens aus DKP-Anhängern bestehende Gruppe, die gern betonte, dass "sozialistische" Kernkraftwerke sicherer seien als die auf Profitmaximierung ausgelegten "kapitalistischen" Anlagen. Auf den Einwand, dass die Ost-Reaktoren in Sachen Sicherheit ziemlich spärlich ausgerüstet wären, antwortete mir ein DKPler damals, die sozialistischen Kernkraftwerkskonstrukteure würden eben auf einfachere, dafür aber sehr robuste und entsprechend betriebssichere Technik setzen, anstatt mit nachgeschalteter Sicherheitstechnik Störfälle zu beherrschen zu versuchen. In Anspielung auf die Bedienungsfehler, die zur Kernschmelze beim US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Miles Island geführt hatten, verwies er auf den seiner Ansicht nach sehr hohen Ausbildungsstand osteuropäischer Reaktorführer.

Teil 2: die sowjetische (Des-)Informationspolitik
Teil 3: das deutsche Informationschaos
Die Folgen - Panikreaktionen, Verniedlichung und Sensationsmache

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