Gedanken anläßlich eines bevorstehenden "Wikingerüberfalls", Teil 2: Bullerbü ist überall!

Bekanntlich steht mir demnächst der Besuch dreier "Jungwikinger" und ihrer stolzen Mutter ins Haus. Gedanken anläßlich eines bevorstehenden "Wikingerüberfalls", Teil 1: Gedanken zur Kinderfreundlichkeit. Diese zeigt, für stolze Mütter nicht untypisch, gerne bei jeder sich anbietenden Gelegenheit Fotos ihrer prächtvollen Sprößlinge in allen möglichen Situationen vor.
Bei einer dieser Gelegenheit - einem Grillfest, wenn ich mich richtig erinnere, bei denen besagte Jungwikinger auch "life" zu bewundern waren - fiel das entscheidende Stichtwort: "Bullerbü". Geäußert von einer großmütterlich anmutenden Frau, die wahrscheinlich tatsächlich Großmutter ist, und als Bestandteil eines schier endlosen Redeschwalls, in dessen Verlauf sie immer wieder erwähnte, wie glücklich die Kinder sich schätzen dürften, so aufwachsen zu können.
Sicher sind die Kinder gut dran, vergleicht man ihre Lebensumstände mit den Verhältnissen, in denen die meisten Kinder aufwachsen müssen, aber besagte großmütterliche Frau sah das, wie sie zu betonen nicht müde wurde, nicht relativ, sondern absolut: Aufwachsen im Kinderparadies. Und dieses Paradies hat einen Namen: "Bullerbü"! (Eigentlich: "Bullerby", die Schreibweise mit "ü" stammt aus der deutschen Übersetzung der Bullerby-Geschichten Astrid Lindgrens. Für Besserwisser: "Bullerbyn", mit dem angehängten Artikel.)
Nun schätze ich Astrid Lindgren schon seit allerfrühster Kindheit sehr; ich habe mit ihren Werken praktisch lesen gelernt. Auch im Erwachsenenalter behielten diese Bücher - anders als fast alle anderen Kinderbücher - ihren Reiz. Bullerby (bleiben wir mal bei der schwedischen Schreibweise) ist ein wunderschönes, idyllisches Dörfchen, eine heile Welt. Allerdings: Bullerby ist mehr als die idealisierte Kindheit Astrid Lindgrens; es weckt Sehnsucht nach einem Frieden, den die Menschen vielleicht noch nie hatten, aber den es sich zu erträumen lohnt. Man merkt immer wieder, dass der winzige südschwedische Ort nur eine Oase in einer Welt ist, die alles andere als heil ist. Bullerby ist außerdem auf subtile Weise realistisch, ohne den Zeigefinger zu heben: Es klingt vielleicht seltsam, aber die den Verhältnissen in den 1920ern nachgezeichneten Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern waren mein erster "Denkanstoß", mal über die Rollenklischees nachzudenken. (Und nicht etwa die mit dem Zaunpfahl winkenden "pädagogisch wertvollen" Kinderbücher, die meine "progressive" Tante immer anschleppte.)
Zurück zum Grillfest. Die großmütterliche Frau hob, soweit ich mich erinnere, nicht etwa auf die Inhalte ab, die Astrid Lindgrens Bücher über gefälligen Kitsch hervorheben, sondern fuhr völlig auf - nun ja - Schwedenkitsch jeder Preislage ab. Die simple Tatsache, dass die prächtigen Jungen echte Schwedenkinder sind, und ein paar Fotos von schönen südschwedischen Sommerlandschaften mit blonden barfüßigen braungebrannten Kindern reichten als Trigger aus, um eine endlose Schleife aus Klischee-Vorstellungen eines nordischen Kinderparadieses ablaufen zu lassen, das altmodische ländliche Idylle mit hypermodernem Schul- und Kindertagesstättensystem verbindet.
Vorsichtige Hinweise, von der "Jungwikinger"-Mutter, mir und anderen, dass auch in Schweden nicht alles ideal ist, prallten an einem dicken Panzer aus Klischees ab.

Wie kommt so etwas bei einer ansonsten nicht naiven Frau zustande? Wobei sie ja kein Einzelfall ist; so wie es eine "Toskanafraktion" gibt, gibt es auch eine "Schärenfraktion" von unbeirrbaren Skandinavienfans. (Ein sehr interessanter und treffender Aufsatz über die deutsche Nordlandleidenschaft von Susanne Gaschke: Die Schären-Fraktion - Nokia, Volvo, Pippi Langstrumpf: Warum Millionen Deutsche alles Skandinavische lieben) Ein Faktor, den Frau Gaschke erwähnt, ist die Unzufriedenheit mit deutschen Verhältnissen. Der trifft auf die großmütterliche Frau voll zu, ohne jetzt auf persönliche Details einzugehen.
Sie gehörte zu jener Sorte Schwedenfans, die bei beiläufigen kritischen Bemerkungen z. B. über das kühle, kontaktarme schwedische Sozialklima oder über schwedischen Bürokratismus / Reglementierungswahn das Bild eines lichten, landschaftlich und menschlich bezaubernden Landes hervorholen. Schließlich war sie schon mal für 14 Tage in Småland gewesen, alles hätte so ausgesehen, wie sie es sich ausgemalt hätte (auch die in die Landschaft geklotzten Industrieparks?) und auch Schloß Gripsholm würde sie kennen, ja, an Tucholskys Grab sei sie gewesen. Nun ja, bekanntlich ist Tucholsky an zwei Ländern zugrunde gegangen: an Deutschland, aus dem er floh, um sein Leben zu retten, und an Schweden, in dem er sein Leben verlor (man lese außer "Schloß Gripsholm" auch seine "Briefe aus dem Schweigen").

Nein, ich will die gute Frau nicht verurteilen. Sie hat sich, vermute ich, nur in den Schlingen einer mediale Rückkopplung verfangen, die bestehende Klischees und Vorurteile immer weiter verstärken, bis alle nuancierten Töne in kreischendem Kitsch ungegangen sind. Das Publikum nimmt eine vermeidliche Idylle war, und verlangt Bildern diese Idylle, das Fernsehen (als Leitmedium der platten Klischees) liefert sie, in fernsehtypisch überzeichneter Form, diese Überzeichnung "kommt an", das Publikum verlangt nach dieser überzeichneten Idylle, das Fernsehen liefert sie usw. usw..

Am konkreten Beispiel "Schweden" läßt sich das an den klischeeüberfrachteten ländlichen Idyllen der im ZDF hohe Einschaltquoten erzielende Filmen nach Drehbüchern einer gewissen Inga Lindström zeigen. Nun: "Inga Lindström" heißt in Wirklichkeit Christiane Sadlo, kommt aus Ravensburg und hat niemals längere Zeit in Schweden gelebt: ZDF.de: Inga Lindström. Das sozusagen im Medienlabor designte Projekt "Lindström-Filme" ist auf den deutschen Publikumsgeschmack zugeschnitten, "schwedisch" sind nur die Drehorte. Auf den Spuren von Inga Lindström.
Unbedingt lesenswert ist ein Bericht von Sveriges Radio über die Dreharbeiten, der auch auf Deutsch vorliegt: Schweden weichgespült fürs deutsche Fernsehen. Ein wichtiger Aspekt der Filme ist Schleichwerbung für Schweden, bzw. schwedische Produkte, weshalb sie trotz ihrer völligen Realitätsferne von schwedischer Seite unterstützt werden.
Soviele Superlative auf einmal. Natürlich ist in solchen Romanzen nicht gefragt, das sich in Schweden viele Menschen die teure Zahnarztbehandlung nicht leisten können, viele monatelang auf eine Operation warten müssen und feste Arbeitsplätze Mangelware sind, weil viele Stellen immer nur befristet besetzt werden. Wer möchte das schon sehen, am Sonntagabend um 20.15 Uhr.
Für alle, die ein wenig Schwedisch lesen können, empfehle ich auch diesen schwedischen Blick auf die deutsche Schweden-Schmonzette:SvD: Tysk tv-romantik spirar i svensk skärgårdsmiljö Der Reiseunternehmer Andreas Bunkus ist jedenfallls begeistert:
Sverige skildras på ett positivt vis genom vackra sommarlandskap och vackra människor. Det är inte den negativa bild som till exempel Henning Mankell ger av ett novembergrått Ystad, säger Andreas Bunkus.
Schweden wird da positiv dargestellt, mit seinen hübschen Sommerlandschaften und hübschen Menschen. Das ist nicht das negative Bild, dass zum Beispiel Henning Mankell mit seinem novembergrauen Ystad gibt, sagte Andreas Bunkus.
Nichts gegen Nordland-Begeisterung (leide ja selber darunter). Aber ein kleiner Realitätsschock so ab und an wäre heilsam.

Nachtrag: Amüsante Forums-Diskussion über "Inga Schwachström Lindström": da staunen die Schweden
WildeWalküre - 1. Apr, 17:27

kleiner hinweis am rande büllerbü heisst auf schwedisch bekanntlich nicht bullerby sondern bullerbyn! schau mal den originaltitel nach.

MMarheinecke - 1. Apr, 19:25

stimmt - irgendwie schon ...

Ja, der Originaltitel von "Wir Kinder aus Bullerbü" ist "Alla vi barn i Bullerbyn". Das nachgestellte "n" ist ein bestimmter Artikel (by = Dorf (Ort), byn = das Dorf). Buller bedeutet: "Lärm", "Aufsehen", "Geräusch", "Radau". "Bullerbyn" also "das Lärmdorf" oder "das Radaudorf". Das ist natürlich nicht der richtige Name des Drei-Höfe-Dorfs, wenn es überhaupt einen hat. "Echte" skandinavische Ortsnamen mit "-byn" gibt es kaum (ich kenne jedenfalls keinen), "-by" ist üblich.

Das ist natürlich Klugscheißerei, aber ich habe nicht angefangen ... .

Nachtrag: ich habe nachgeschlagen. Es gibt in ganz Skandinavien eine Gemeinde, deren Name auf "-byn" endet, nämlich Älvsbyn, Norrbotten (Schweden).

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