Die Schwäche der "nordischen Kombination"

Ein lesens- und bedenkenswerter von Christian Schütte in der FTD: “Mullahs in Bullerbü“
(Bitte nicht von dem dämlichen Titel abschrecken lassen!)

Typisch für die "skandinavischen" Staaten ist das sehr erfolgreiche “Flexicurity”-Konzept (hohes Niveau staatlicher Absicherung bei sehr flexiblen Märkten). Dieses Modell wird machmal ironisch "nordische Kombination" genannt.
Bestes und viel gerühmtes Beispiel ist die besondere dänische Verbindung von minimalem Kündigungsschutz mit hohen Unterstützungszahlungen für Arbeitslose. Ein Konzept, mit dem die Arbeitslosigkeit tatsächlich wirksam reduziert wurde.

Schütte behauptet, dass das viel gelobte skandinavische Modell eine offene Flanke hätte: Es tauge nicht für Einwanderungsländer.
Ökonomen diskutieren seit langem die These, dass das skandinavische Modell vor allem in Ländern funktioniert, die ethnisch und kulturell gleichförmig sind. In kaum einer anderen Weltregion sind die Gesellschaften schließlich historisch so homogen gewachsen wie in Skandinavien. (...)
In solch homogenen Gesellschaften kann womöglich eine vergleichsweise geringe Zunahme an Multikulti zu Verwerfungen führen. Für Deutschland ist das ein zentraler Punkt: Wenn wir uns langfristig als ein wirkliches Einwanderungsland verstehen wollen, könnte der gleichzeitige Aufbruch zum skandinavischen Etatismus in einer gefährlichen Sackgasse enden.
Folgt man Schütte, dann ist die in Dänemark festzustellende Islam-Feindlichkeit (die die rechtpopulistische Dansk Folkeparti immerhin zur zweitstärksten Partei gemacht hat), Folge des nach Schütte Ansicht aus der sozialen Homogenität resultierenden Bürgersinns. Üppige Anreize, das Sozialsystem auszunutzen, seinen so lange kein Problem, wie starke gemeinsame Normen dagegenwirken. Wer sich seinem Nachbarn ähnlich fühlt, sich Gedanken um dessen Meinung und Wohlergehen macht, fällt der Gemeinschaft ungern zur Last. Dort, wo Nachbarn einander fremd sind oder häufig wechseln, bricht diese (Selbst-)Kontrolle irgendwann zusammen.

Plaktiv und überspitzt: Wer dem Sozialstaat "nordisch kombinierter" Bauart gegenüber nicht loyal ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum "Schmarotzer" werden. Weil nach skandinavischen Selbstverständnis von Einwanderern aus fremden Kulturkreisen diese Loyalität nicht zu erwarten ist, führt dies zur "Ausländerfeindlichkeit". Deshalb rät Schütte Deutschland von einer Kopie des "skandinavischen Modells" mit hohen Sozialleistungen ab. Er setzt statt dessen auf den freien Markt, der laut Friedman "Leute, die sich hassen und die vollkommen verschiedene religiöse und ethnische Wurzeln haben, dazu in die Lage versetzt, wirtschaftlich zusammenzuarbeiten."

Wie "homogen" ist das reale "Skandinavien"? Ethnisch und kulturell sind die Länder Nordeuropas genau so wenig "homogen" wie andere Staaten auch. Nur von Außenstehenden wird "Skandinavien" als die Einheit wahrgenommen, die es nicht ist. (Und selbst der Begriff "Skandinavien" ist strenggenommen falsch.)
Auch das kulturell und sprachlich z. B. von Schweden oder Dänemark enorm unterschiedliche Finnland praktiziert erfolgreich das "skandinavische Modell" und selbst innerhalb der einzelnen Staaten kann von kultureller Homogenität keine Rede sein.

Was allerdings zutriffen dürfte, ist der Eindruck, dass "Skandinavier"
"zueinander passen wie die Legosteine". (Zumindest gewann ich diesen Eindruck, und ich scheine damit unter Deutschen mit "Norderfahrung" nicht allein zu stehen.) Die sozialen Konventionen sind - aller scheinbarer Lockerheit zum Trotz - ziemlich streng, es gibt eine Unmenge "ungeschriebener Gesetze", die egoistisches Verhalten ächten.
Solange die soziale Norm, dass "Gerechtigkeit über alles" geht, aufrechterhalten wird, und der "erfolgreiche Egoist" verachtet und nicht etwa ob seines Erfolgs bewundert wird, funktioniert die "nordische Kombination". Einer der (vielen) Gründe, weshalb das dänische Modell des "Fordern und Förderns" in Deutschland nicht funktioniert, liegt im institutionellen Misstrauen der Arbeitsagentur gegenüber den Arbeitslosen - die Angst vor "Leitungsmissbrauchern" zieht sich durch das ganze System. Das "Fördern" erstickt in Deutschland oft im Mißtrauen, das "Fordern" entartet zur Gängelei, nicht selten zur Schikane.

Es gibt allerdings speziell in Schweden (in Dänemark bin ich mir dessen nicht sicher) ein ziemlich genaues Equivalent der deutschen Idee einer "Volksgemeinschaft", die bekanntlich zentraler Bestandteil der NS-Ideologie war. Dass heißt, viele Schweden nehmen an, sie würden nicht aufgrund allgemein geteilter sozialer Werte so gut zusammpassen, sondern aufgrund eines tief in ihrer Volkseele verankerter Gemeinschaftsgefühls, das stark von Vorstellungen von "uralter Tradition", "Blut" (gemeinsamer Abstammung) und selbstverständlich auch "Boden" geprägt ist. Eine Vorstellung zwischen Mythos und Ideologie.
(Ansatzweise ist dieses Denken auch in Deutschland noch weit verbreitet.) Daraus erwachsen Vorstellungen wie die, dass das "skandinavische Modell" nur deshalb funktioniert, weil die jeweiligen Länder so ethnisch homogen seien, und jedermann die "ungeschriebenen Gesetze" praktisch mit der Muttermilch aufgesogen hätte. Einem Zuwanderer wird oft nicht zugetraut, dass er das "nordische Wertesytem" übernehmen und sich den sozialen Normen anpassen könnte. Dieses kulturelle Vorurteil gilt manchmal schon für Deutsche, mitunter sogar für Norweger in Schweden oder Schweden in Dänemark. Erst recht gilt es für Einwanderer aus außereuropäischen Ländern, vor allem Moslems. (Nicht alle "Skandinavier" denken so, in Stockholm, Malmö oder Kopenhagen dürften diese Vorurteile aufgrund praktischer Erfahrung eher selten sein. Aber immerhin reícht das für zahlenmäßig große Anhängerschaften rechtpopulistischer Ideen.)

Ich bin tatsächlich der Meinung, dass die "nordische Kombination" aus hohen Sozialleistungen bei sehr flexiblen Märkten in Deutschland nicht funktionieren würde. Jedoch wohl nicht deshalb, weil wir so viele Einwanderer hätten, die, weil sie der "deutschen Volkgemeinschaft" gegenüber keinerlei Loyalitäten hätten, hemmungslos "abzocken", sondern weil die (hier trifft der Begriff wirklich zu) deutsche Leitkultur anders funktioniert als (zurzeit noch!) die "skandinavische".
Und das die Gefahr für die "nordische Sozialharmonie" nicht in ein paar nicht integrationswilligen Einwanderern liegt, sondern darin, dass das tradierte System ungeschriebener Anstandsregeln auch bei den "Ureinwohnern" immer mehr erodiert.

Die Hoffnung in den "Markt", den Schütte in Anlehnung an Friedman äußert, vermag ich nicht ganz zu teilen. Damit ein freier Markt überhaupt funktioniert, sind gegenseitiger Respekt und gemeinsame Vorstellungen von Fairness unverzichtbar. Eine weit verbeitete "Abzockermentalität" tötet den freien Markt auf mittlere Sicht ebenso sicher wie den Sozialsstaat. Er ist lediglich etwas robuster.
Karan - 24. Feb, 23:54

Danke für Deine Analyse!

Nun frag' ich mich, welches "System" uns hier denn taugt. Taugen würde. Taugen könnte. Kann. Wird.

MMarheinecke - 25. Feb, 00:21

... vielleicht hilft eine Blick nach Neuseeland?

Wir sind de facto eine Einwanderergesellschaft, und sollten uns deshalb bei "klassischen" Einwandergesellschaften umsehen, die es geschafft haben, sozialen Frieden, wirtschaftliche Stabilität und befriedigende Sozialleistungen unter einen Hut zu bekommen. In Neuseeland und ansatzweise in Kanada funktioniert es, in Australien allerdings trotz guter Bedingungen weniger.
Auf alle Fälle plädiere ich für Pragmatismus und dafür, nicht irgend ein "Modell" blind zu übernehmen.
Das "schwedische Modell" war ja unter Sozialdemokraten in den 1970er Jahren unheimlich in, so sehr, dass die damalige sozial-liberale Bundesregierung glatt einige seiner größten Schwächen kopiert hat. Den Hang zur Überorganisation und die Illusion, Gerechtigkeit auf dem Weg der Gesetzgebung (vorzugsweise: Steuergesetzgebung) herstellen zu können, nebst einer ziemlich naiven Staatsgläubigkeit und einem Hang zu demonstrativen "politisch korrekten" Regelungen (bei gleichzeitig faktisch weiterbestehenden Diskriminierungen) halte ich für ziemlich "typische" schwedische Schwächen, die auf Deutschland abgefärbt haben. (Wobei die naive Staatsgläubigkeit auch genuin deutsch sein könnte, trotz der desillusionierenden deutschen Erfahrungen mit skrupelosen "Obrigkeiten".)

Allerdings halte ich auf anderen Gebieten die "nordischen Länder", vor allem Schweden und Finnland, tatsächlich für vorbildlich, z. B. in der Familienpolitik, im Schulsystem und in der Technologiepolitik.

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