Fräulein Smillas mangelndes Gespür für Fiktion

Am 20. Dezember wird sie wieder einmal im Fernsehen gezeigt werden, jene bizarre, wenn auch unterhaltsame, Mischung aus einem sozialkritischem Krimi skandinavischer Schule und „Akte X“-Folge in Überlänge, namens „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“.

Vorbild ist Peter Høegs ungewöhnlicher Thriller, der vor allem durch seinen Detailreichtum auffällt. „Was die Welt heute über Grönland weiß, hat ihr Smilla mitgeteilt, die Ich-Erzählerin in Høegs Buch“, behauptet Reto U. Schneider in der NZZ. Damit dürfte er, zumindest was den deutschen Sprachraum angeht, durchaus recht haben. Obwohl Grönland – gemessen an der Bevölkerungszahl – gar nicht einmal schlecht in den Medien vertreten ist, ist das übliche Grönlandbild von wenig Wissen und vielen Klischees geprägt. Was durchaus typisch ist für viele Regionen der Erde, die in Alltag, Schule, Medien als „nicht wichtig“, allenfalls „exotisch“ wahrgenommen werden. Also für z. B. die meisten Länder Afrikas, Innerasiens, Ozeaniens. Länder, deren Bild in der Öffentlichkeit durchaus von einem einzigen Buch geprägt werden kann – wie das Grönlands durch „Smilla“. Ich denke nur daran, wie sehr der Fantasy-Roman (!) „In den Fesseln von Shangri-La“ das „westliche“ Tibet-Bild verzerrte.

Peter Høegs hat fraglos seine Verdienste als engagierter sozialkritischer Autor, der auf gern verdrängte „koloniale“ Altlasten im blitzsauberen dänischen Sozialstaat hinwies. Ebenso fraglos hat er sehr viel recherchiert. Ob er auch gut recherchierte, wage ich allerdings zu bezweifeln. Seine wichtigste Gewährsfrau war die in Kopenhagen lebende Grönländerin Kassaaluk Qaavigaq, die in mancher Hinsicht das Vorbild für Smilla Qaavigaaq Jaspersen ist – in mancher anderer Hinsicht nicht. Darüber hinaus sammelte Høeg offensichtlich eifrig Zeitungsausschnitte, Buchzitate und Gerüchte, bis er einen riesigen Karton voll hatte. Mit diesen oft verblüffenden Details stattete er sein Buch aus. Hinzu kommen etliche „Fakten“, die Høegs dichterischer Fantasie entsprangen. Was völlig legitim ist, schließlich schrieb er einen Thriller, kein Sachbuch und auch keinen „Roman nach Tatsachen“.
Leider scheinen das viele Leser nicht zu bemerken, obwohl der „Mystery-Teil“ des Romans unschwer erkennbar ziemlich wilde Sci-Fi ist: Ein Wärme abstrahlender Meteorit mit Lebenskeimen, ein wieder zum Leben erweckter Killer-Parasit aus dem Mesozoikum und eine Verschwörung von ehrgeizigen Wissenschaftlern, einer Bergbaugesellschaft in Liquidation und Drogenhändlern, die zu allem Überfluss durch staatliche Stellen gedeckt wird.

Einige handlungsrelevanten „Fakten“ über Grönland, die schlicht nicht stimmen:
Høeg behauptet z. B. es gäbe in Grönland keine Gefängnisse - es gibt sehr wohl ein Gefängnis in Grönlands Hauptstadt Nuuk.
Es gibt heute, 2005, in grönländischen Gewässern keine Ölförderung in größeren Stil, die gewaltige Förderplattform „Greenland Star 1“ im im Jahre 1994 handelnden Roman ist reine Fiktion.
Die linkssozialistische, separatistische Partei Grönlands, die Inuit Ataqatigiit, dürften wohl nur ganz stramme „Rotenfresser“ als „aggressiv marxistisch“ ansehen, sie ist z. Z. in der grönländischen Regierung an einer großen Koalition mit den sozialdemokratischen Siumut und der liberal-konservativen Atassut beteiligt.
Die Atassut fordert zwar hin und wieder die Wiederannäherung an die EU, aus der Grönland 1985 nach einer Volksabstimmung austrat, aber dass Grönland 1993 wieder der EU beigetreten wäre, ist Quatsch.
Kein Grönländer, der auf Jagdreise in kanadisches Hoheitsgebiet gelangt, riskiert ein Verfahren, wie es Smilla angeblich drohte. Die Einreise von Grönland nach Kanada ist nämlich visafrei, es herrscht völlige Reisefreiheit. (Vielleicht hat sie ja Drogen geschmuggelt oder in Kanada Eisbären gewildert?)
So viele Versäumnisse und Fehler der früheren dänische Verwaltung in Grönland auch unterlaufen sind, und so viele soziale Probleme, vom Alkoholmissbrauch über die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit bis zur hohen Suizidrate, es auch gibt: Die von Høeg geschilderten „Indianerreservationsverhältnisse“, mit offenem Elend und ständiger kultureller Missachtung der Einheimischen durch die Dänen, sind überzeichnet, selbst für die 1960er Jahre, als Grönland noch nicht autonom war. Heute ist der Lebensstandard ähnlich hoch wie in Europa, die Sozialhilfe in Grönland ist den Lebenshaltungskosten voll angepasst.

Die Liste ließe sich noch erheblich verlängern – und die „Fehler“ bzw. „dichterischen Freiheiten“ sind nicht auf Grönland beschränkt.

Es ist schon bizarr, dass ein Buch, das so wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat, nebst seiner Verfilmung, die noch weniger realistisch ist, dass Bild einer Region derart stark bestimmt. Da Grönland eine bei uns noch relativ gut bekannte Gegend ist, vermute ich, dass „Smilla“ nur die Spitze eines Eisbergs ist: Unser Bild der Welt beruht wahrscheinlich zu großen Teilen auf literarischen Fiktionen, die nie als etwas anderes gedacht waren.

Sendetermin des Films "Fräulein Smillas Gespür für Schnee": 20.12.2005, 20:15, kabel eins

Tipp: Am 1. und 2. Weihnachtstag bringt WDR 5 jeweils um 17:05 die unter Kennern beinahe legendäre 2. teilige Hörspielfassung von "Fräulein Smillas Gespür für Schnee". Beeindruckendes Ohrenkino, das dem Roman weitaus näher kommt als der Film.
rollinger - 21. Jan, 11:44

Danke, ich wusste an diesem Film stimmt was nicht. Die Story gegen Ende, sowieso. Die Dame gefällt.

MMarheinecke - 21. Jan, 22:50

Ja, Julia Ormond als Smilla ist eine besten Fehlbesetzungen aller Zeiten. Gut, weil sie sich mit schauspielerischen Mitteln erstaunlich nach an den spröden Charakter der Grönländerin heranarbeitet; eine Fehlbesetzung, weil sie rein äußerlich für die unscheinbare Smilla zu hübsch und zu wenig "grönländisch" ist. (Die isländische Sängerin und Gelegenheits-Schauspielerin Björk wäre rein optisch eine gute Besetzung für Smilla gewesen, allerdings glaube ich nicht, dass sie als Schauspielerin ähnlich kompetent wie Ormond wäre. Nebenbei: Ich bín seit Jahren Björk-Fan, bin aber an der Frage gescheitert, ob sie eventuell grönländische Vorfahren hat.)

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