Ohne Chemie?

Es heißt ja, (Lebensmittel-)Chemiker (vor allem solche, die beim Gesundheitsamt arbeiten) seien sozusagen "natürliche Feinde" der Fleischer. Man denke nur an den "Gammelfleisch" (Dauer-)Skandal.

Nun aber wirbt ausgerechnet ein industrieller Wursthersteller mit einer Werbeaussage, über die der Wissenschaftsjournalist und Chemiker Lars Fischer vom Fisch-Blog zurecht sauer ist: "Wir sind Fleischer, keine Chemiker.

Damit verunglimpft Rügenwälder nicht nur einen kompletten Berufsstand, sondern verkauft auch noch sein Publikum für dumm. Geschmacksverstärker und Farbstoffe dürfen sowieso bei fast allen Wurstwaren gar nicht zugesetzt werden - und ohne chemische Untersuchungen ist es gar nicht möglich, sicherzustellen, dass die Wurst frei von Gluten und Lactose ist. (Wobei nebenbei Lactoseintoleranz entgegen dem Werbetext nichts, aber auch gar nichts, mit Allergien zu tun hat [und auch Glutenunverträglichkeit streng genommen keine Allergie ist], und Gluten aus Getreide und Lactose aus Milch stammt - und nur sehr wenige Wurstsorten überhaupt Getreidestärke [oder Gluten d. h. Getreideeiweiß] oder Milcherzeugnisse enthalten dürfen.)
Interessanterweise fehlen in den "4 ohne" die Konservierungsstoffe - wie das bei vielen Wurstsorten traditionell verwendete Pökelsalz.

Dass ein Wursthersteller damit wirbt, dass auch Allergiker, Gluten-Allergiker-Empfindliche und Lactose-Intolerante seine Würste unbesorgt essen können, ist legitim. Warum aber der Hieb gegen die Chemiker? Oder allgemein: wie konnte die an sich absurde Aussage "ohne Chemie" zum Qualitätsmerkmal werden? (Absurd, denn alle Prozesse, bei denen sich Stoffe ineinander umwandeln, sind chemische Vorgänge.)

Dahinter steht die Annahme, dass alle chemischen Prozesse, die von der Natur hervorgebracht werden, gut sind, vom Menschen angewendete chemische Reaktionen dagegen stets zu etwas Schlechtem führen - jedenfalls dann, wenn die chemische Reaktion nicht schon seit Jahrhunderten bekannt ist. Da mögen Pöckeln oder Räuchern noch so gesundheitlich bedenklich sein.

Am Anfang stehen völlig berechtigte Bedenken und Ängste der Verbraucher davor, dass Lebensmitteln gesundheitsschädliche Stoffe enthalten könnten, die entweder absichtlich zugesetzt werden - Farbstoffe, Konservierungsmittel, synthetische Geschmackstoffe, Geschmacksverstärker usw. - oder als Rückstände verbleiben - etwa Pestizidrückstände oder Schwermetalle aus Boden oder Luft.
Sehr viele dieser bedenklichen oder gefährlichen Stoffe werden synthetisch hergestellt. Der Gedankensprung zur "Chemie" ist also an sich nicht falsch, sondern "nur" gedanklich verkürzt: Es wird nicht mehr differenziert bzw. ausgeblendet, was den alles "Chemie" ist.

Begünstigt wird dieser "Kurzschluss" durch Werbung, Propaganda und Public Relations sowie bestimmte Formen des Journalismus. Kurze, eindeutige Aussagen, die immer wieder in geringfügigen Abwandlungen wiederholt werden, prägen sich gut ein. Je stärker verkürzt eine Aussage ist, desto besser.

So gibt es nicht nur "chemiefreie Lebensmittel", sondern auch "genfreie Lebensmittel". Gemeint sind nicht etwa Lebensmittel, die kein genetisches Material, also keine DNS oder RNS enthalten (die müssten dann schon vollsynthetisch hergestellt werden, denn alle pflanzlichen und tierische Produkte enthalten "Gene"). Gemeint sind Lebensmittel, die keine Bestandteile gentechnisch veränderten Pflanzen oder, seltener, Tiere enthalten.

Aber "chemiefrei" und "genfrei" prägt sich ein, sind kampagnenfähig und lassen sich gut mit diffusen Ängsten besetzen.
So falsch und (gut gemeint) desinformierend diese Schlagworte auch sind.

Eine Realsatire gelang 1997 der österreichischen Umweltpolitikerin und heutigen Wiener Umweltstadträtin Ulli Sima in enger Zusammenarbeit mit dem Boulevardblatt Kronen Zeitung: Eine Petition mit dem Titel: "Für einen atomfreien Weltraum".
(Damals startete Raumsonde Cassini-Huygens zum Saturn. Da die üblichen Solarzellen in diesem Abstand zur Sonne nicht mehr funktionieren, enthält diese Sonde eine sog. Radionuklidbatterie. Die Petition zielte also nicht auf die Vernichtung aller Sterne, Planeten, Dunkelwolken usw. im Universum ab, wie man vielleicht meinen könnte. Wie ein Verbot von Radionuklidbatterien von Österreich aus weltweit durchgesetzt werden könnte, blieb übrigens offen.)
Wirr-Licht - 31. Mai, 11:16

aromaten

"aromaten" ist übrigens die bezeichnung für eine bestimmte art von chemikalien, die in den vielen fällen nix im essen verloren haben, lieber tim mälzer!

MMarheinecke - 31. Mai, 12:48

*kicher*

Vielleicht hat der Gute Aromaten und "Aromat" verwechselt. Wobei "Aromat", das hauptsächlich aus Natriumglutamat und Kochsalz besteht, m. E. auch nichts im Essen verloren hat (und von Mälzer meines Wissens auch nicht verwendet wird).

Ich verlange von einem Koch nicht, dass er etwas von Chemie versteht. Solange er nicht auf die Idee kommt, er würde chemiefrei kochen. (Oder in der Küche "Aromen" mit "Aromaten" verwechselt und z. B. eine leckere Naphthalin-Sauce komponiert ... )

Übrigens - Mälzers Antwort auf die Frage: "Muss man als TV-Koch überhaupt kochen können?" - "Nö!"
Joe (Gast) - 2. Jun, 04:54

Zöliakie bzw. Glutenunverträglichkeit ist auch keine Allergie, Ihre Bezeichnung Gluten-Allergiker ist also falsch.
Gluten ist außerdem das Klebereiweiß im Getreide und keine Getreidestärke.

Ich wäre weniger besserwisserisch, wenn Sie Ihren Artikel weniger polemisch geschrieben hätten. So kann ich Ihnen den Vorwurf, selbst schlampig oder gar nicht recherchiert zu haben, nicht ersparen. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

MMarheinecke - 2. Jun, 22:30

Danke für den Hinweis!

Ich habe den Text korrigiert.
Jari (Gast) - 8. Jun, 19:47

... der schlampige Umgang mit dem Wort "Chemie" nicht zwingend Ergebnis eines "natürlich-künstlich" - Denkschema sein muss. Oft wird meines Erachtens mit Chemie einfach Laborchemie (also das was du mit synthtisch anmerktest) gemeint. Was sich dann auch wieder nicht ausschließen muss: "natürliche Chemie" und "künstliche Chemie" (=Laborchemie, Synthetik).

Das ist m.W. auch der Grund für den leichtfertigen Umgang mit medizinischen Ölen, Pasten und Pillen die "rein pflanzlich" sind - die sind ja natürlich, also ohne Chemie, also vollkommen ungefährlich, verträglich und gesund.

Gruß, Jari

MMarheinecke - 8. Jun, 20:41

Auf die Spitze getrieben:

*Schierlingsbecher reich* - Das kannst Du ruhig trinken, es ist rein pflanzlich!

Das ist meiner Ansicht schon Folge eines "natürlich-künstlich" - Denkschemas.

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