Geschichtswissen ist wichtig für die Demokratie

Wozu soll es wichtig sein, über die ollen Germanen Bescheid zu wissen? Pures Luxuswissen! Oder etwa nicht?
(...) Nicht unterschätzt werden darf nämlich die Attraktivität des Verbotenen, die durch die faktisch existierende Tabuisierung einer Beschäftigung mit germanischer Mythologie in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg entstand. Nur aus diesen Gründen war es der so genannten "rechten Szene" möglich, germanische Mythologie und die Geschichte der Germanen für sich zu vereinnahmen und entsprechend auszudeuten. Auf Grund des in der Allgemeinheit heute nur noch geringen Wissens über germanische Mythologie, das eine deutliche Folge der Tabuisierung der Thematik ist, gelingt es der rechtsextremen Szene, Mythen und Symbole auch zur geheimen Identifikation zu verwenden. (...)
Aus: Vereinnahmung germanischer Mythologie im rezenten Rechtsextremismus – Sprache und Symbolik von Prof. Dr.Dr. Georg Schuppener

Ich bin der Ansicht, dass historisches Unwissen Gefahr für die Demokratie ist. Wobei die Aufklärung genau da einsetzen muss, wo andere Legenden stricken. Es wäre schön, wenn wir einer Gesellschaft leben würden, in der das Wissen darüber, wer "die Germanen" (die es als Stamm, Volk oder gar "Rasse" niemals gab) wirklich waren und was diese Kultur - und andere gern politisch instrumentalisierte "alte Kulturen" - wirklich ausmachte, reines Hobbywissen sein könnte.

Aber dieses Problem, so wichtig es sein mag, ist längst nicht das schlimmste Defizit. Pressemeldung der FU Berlin: Bayerische Schüler wissen mehr über die Geschichte der DDR als Schüler aus Brandenburg. Wobei der Wissenstand der bayrischen Schüler keineswegs "gut" zu nennen ist. Ungeachtet der auch in Bayern bei vielen Schülern vorhandenen Wissenslücken sind diese besser in der Lage, zwischen Demokratie und Unfreiheit zu unterscheiden und die DDR als Diktatur einzustufen.
Es ist signifikant: je weniger Schüler über die DDR wissen, desto milder ist ihr Blick auf den SED-Staat.

Abgesehen davon, dass die Defizite "im Osten" teilweise durch die Scheu der Lehrer erklärt werden kann, dieses für sie "heikle" Thema anzuschneiden - ich habe den Verdacht, dass mangelhaftes historisches Wissen gar nicht so wenige politische Entscheidern gelegen kommt. Denn wer am Beispiel der DDR gelernt hat, woran der Unterschied zwischen Demokratie und Unfreiheit besteht, und zwar gerade anhand des eines Systems, das nicht wie das "Dritte Reich" ein offenkundiger, aggressiver Unrechtsstaat war, der akzeptiert vielleicht die heutige Bundesrepublik Deutschland mehr, als jemand, der das nicht gelernt hat. Aber ganz sicher ist sein kritisches Bewusstsein geschärft. Wer weiß, dass die Stasi kein "ganz normaler Geheimdienst" war, "wie ihn jeder Staat hat", der hinterfragt auch die alarmierenden Tendenzen in Richtung Überwachungsgesellschaft. Wer die Verlogenheit der DDR-Propaganda durchschaut, der durchschaut auch die Meinungsmache in heutigen Medien.
Ata (Gast) - 26. Jan, 12:01

na, da hatte ich (Baden-Württemberg, Anfang der 90er) Schwein. Wir hatten einen Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, der uns nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht hat, was "totalitär" bedeutet. O-Ton: "und was die Leute alles machen, das ist ja sooo uuuunvernünftig, das muss man staatlicherseits mal ordentlich regeln (und das dann bis ins Letzte)". Auch die Gefährdung der Freiheit durch Sicherheitsdenken hat er uns eindringlich nahe gebracht, ebenso die Unabdingbarkeit von Grundrechten/Freiraum des Bürgers gegenüber dem Staat.
Ich frage mich in letzter Zeit oft, was er zu den heutigen Vorgängen sagen würde...

Ata (Gast) - 26. Jan, 12:12

P.S.: daher halte ich auch Archive für eine unheimlich wichtige Einrichtung (ebenso Archäologie für die ältere Geschichte). Sonst kann einem jeder alles als Geschichte andrehen, was ihm ins Propaganda-Konzept passt, ohne dass man die Möglichkeit hätte, etwas nachzuprüfen. Ich habe auch schon Einiges (Lokalgeschichte) in Archiven nachgesehen und würde sagen, normalerweise schaut mal einer nach, publiziert und der Rest schreibt dann bei ihm ab. Das Original hat manchmal doch einen anderen Grundtenor oder gar eine andere Aussage, als man der Literatur nach zu wissen glaubte. Ich bin sicher, wenn man alle Archive gründlich beackern würde, kämen jede Menge Geschichtsfälschungen zu Tage. Wir können das, was vor unserer Geburt war, ja nur aus Indizien konstruieren. Da besteht eine Menge Raum, Geschichtsbilder zu verbreiten, die nichts mit der Realität zu tun haben.
Angeblich hieß es ja in der Sowjetunion: "Nichts ist so unvorhersehbar wie die Geschichte von Morgen."
MMarheinecke - 26. Jan, 12:32

... und damit wäre der Bogen zu den Germanen geschlagen

Denn dass die weitgehend "freihändig", ohne viel Rücksicht auf historische Quellen und archäologische Befunde "zurechtgedeutet" werden, ist leider die Regel. NIcht nur bei unseren "Freunden" aus der ganz rechten Ecke.

Dazu aus dem oben zitierten Aufsatz:
Natürlich kann man abschließend fragen, ob die Aneignung germanischer Mythologie durch die rechtsextreme Szene nicht im weiteren Sinne als etwas Legitimes angesehen werden kann, wo doch jede politische Ideologie Teile der Geschichte für sich vereinnahmt und ausdeutet. Diese Frage muss jedoch eindeutig verneint werden, denn hier liegt eindeutig ein Missbrauch vor: Die Mythen werden aus ihrem historischen Kontext gerissen, in dem sie entstanden sind und vor dem sie nur angemessen verstanden werden können. Der Rechtsextremismus instrumentalisiert Geschichte zum Zwecke und im Sinne einer Ideologie, die den historischen Kontextbedingungen der germanischen Mythen fremd ist. Weder Rassenideologie noch unbedingtes Führerprinzip hat es in der germanischen Vergangenheit gegeben. Auch die Vorstellungen einer Bindung an Blut und Boden sind den historischen Germanen fremd, wie die Ereignisse der Völkerwanderungszeit deutlich belegen. Die Völkermischungen von Germanen und Kelten, die die Ausgrabungen beispielsweise im Rheinland zeigen, oder auch die Integration des asiatischen Reitervolkes der Alanen durch die Vandalen sprechen hier eine deutliche Sprache.
Besonders klar manifestiert sich der Missbrauch der Mythen aber auch darin, dass deren Vielschichtigkeit und Multifunktionalität im Rechtsextremismus ignoriert wird. Denn neben ihrer literarischen, religiösen und kultischen Funktion besitzen Mythen auch die Komponente der Unterhaltung, und sie dienten für die damaligen Menschen zur Verarbeitung und Erklärung der eigenen Umwelt und der Naturphänomene. Thor mit seinem Hammer Mjöllnir als Verursacher des Gewitters ist sicher das anschaulichste Beispiel dieses Aspektes. Dass sich beispielsweise die in den Mythen vermittelten, in der Tat oftmals auf Gewalt, aber auch auf dem elementaren Kulturniveau basierenden Werte (einschließlich Ehre und Treue) unter veränderten historischen Bedingungen wandeln und wandeln müssen, bleibt im Rechtsextremismus unreflektiert. Die Rezeption von Mythen muss also die historischen und gesellschaftlichen Kontextbedingungen ihrer Entstehung berücksichtigen, genau dies aber erfolgt im Rechtsextremismus nicht.
(Hervorhebungen von mir, M.M.)

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