Das Symbol-Dilemma

Heute ist ein trauriger Jahrestag USA gedenken der Anschläge vom 11. September 2001. Anlaß für ein paar Gedankensplittern zum Thema "Symbole".

Der gängige Sprachgebrauch wie "nur symbolisch" oder "rein symbolische Handlung" - in dem Symbole allgemein etwa auf die Wirksamkeit von Erkennungsmarken, etwa Firmenlogos, reduziert werden, ist irreführend. Symbole "stehen für etwas" und zwar nicht als simples Unterscheidungsmerkmal. Sie sind deshalb wirksam. Symbole bestimmen unser Fühlen und Denken, und damit unser Handeln - und damit die Realität.

Nichts zeigt das so drastisch, wie die terroristischen Anschläge des 11. September 2001. Denn es war ja nicht die "reale", materielle Bedeutung, die zwei Bürohochhäuser und ein militärisches Verwaltungsgebäude zum Ziel der Attentäter wurde. Es war ihre symbolische Bedeutung: das "World Trade Center" stand für den Finanzdistrikt in Manhattan, dieser wiederum für den angebliche allmächtigen amerikanischen Kapitalismus. Auch das Pentagon ist kein militärisches Befehlszentrum, kein moderner Feldherrenhügel - man könnte man allenfalls den atombombensicheren Tiefbunker unter dem Pentagon so bezeichnen, das Pentagon selbst beherbergt die Mitärbürokratie. Ungeachtet dessen steht "das Pentagon" mehr für die Militärmacht USA als sämtliche Flugzeugträger und strategische Bomber zusammen. Ein Attentat auf den Bunker des Strategic Air Command hätte - ungeachtet der realen militärischen Wichtigkeit des SAC - keine vergleichbare Symbolkraft gehabt. (Abgesehen davon, dass ein Attentat gegen das SAC erheblich schwerer zu bewerkstelligen wäre - Pentagon und WTC waren eben, militärisch gesprochen, "weiche" Ziele.)
Die real-materielle Wirkung der Anschläge war gering - allein die symbolische Aufladung der Gebäude erlaubt es den Islamisten, sich als "Sieger" über die gottvergessenen USA, die westlichen Dekadenz und die christlichen Krauzfahrer zu fühlen. Umgekehrt ist der von Präsident . W. Bush deklarierte "War on Terror" in erster Linie symbolisch - man sollte sich hüten zu sagen "nur symbolisch" - zu verstehen.

Eine "reale" Auswirkung dieses Kampfes der Symbole und der symbolischen Handlungen ist die schleichender Erosion rechtsstaatlicher Prinzipen im Westen. In gewisser Weise ist das der größte Sieg der totalitären Islamisten - sie schaffen durch ihre Taten eben jenen Westen, den sie als Feind brauchen. Auch bei Al-Qaida denkt man dialektisch im Sinne Lenins.

Als symbolische Handlung verstehe ich auch die Beschlagnahmeaktion gegen den Anonymisierungsdienst TOR - law blog: TOR Server beschlagnahmt. Dass den TOR-Betreibern nicht bekannt ist, welche Daten über die Server geleitet werden, war auch den Ermittlern bewusst gewesen. Also "nur" ein weiteres Fall von Aktionismus, im Sinne "wir tun was gegen die Weitergabe von Kinderpornographie" - was ja auch symbolisch zu verstehen wäre? Wohl nicht. Denn die Staatsanwaltschaft Konstanz "setzt Zeichen", wie es so schön heißt, auch wenn es ihr vielleicht nicht bewusst ist - im Sinne eines Generalverdachts gegen Anonymisierungsdienste.

Besonders wichtig sind Symbole und symbolische Handlungen beim Thema Rechtextremismus. Es ist nur eine Randnotiz, aber eine, die mir über die "realpolitisch" eher nebensächliche Bedeutung hinaus einen gruseligen Schauer über den Rücken jagte - Bremer Nachrichen: Blankes Entsetzen in Verden Die NPD zieht in den Stadtrat von Verden ein. Die Rechtsextremisten haben ausgerechnet dort Erfolg, wo es starken Widerstand gegen die Umtriebe der Neonazis um den Artgemeinschafts-Chef Jürgen Rieger gab. Verden - das ist ein Symbol des Kampfes gegen Rechts geworden, deshalb wiegt der NPD-Wahlerfolg dort weitaus schwerer, als entsprechende Ergebnisse in anderen niedersächsichen Kleinstädten.
Verden als Ort ist für Rechtsextremisten vom Schlage Riegers von enormer symbolischer Bedeutung: Anlaß ist das "Blutgericht von Verden", das wiederum Anlaß zum Bau des Sachsenhains gab. Auf der Website der Stadt Verden heißt es dazu:
Der Sachsenhain wird noch immer mit der Hinrichtung von 4.500 Sachsen durch Karl den Großen im Jahr 782 in Verbindung gebracht. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um einen Ort sächsischer Geschichte. Vielmehr dokumentiert der Sachsenhain mit den im Jahre 1935 entlang des Rundweges aufgestellten 4.500 Findlingen den Versuch der Nationalsozialisten, die Geschichte propagandistisch umzudeuten.
Man könnte präzisieren: vom "germanen-esoterischen" Flügel der Nazis, denn Hitler selbst sah sich spätestens ab 1936 lieber in der Nachfolge Karls "des Großen" - was es heutigen "völkisch-esoterischen" Neonazis leichter macht, sich vom "Versager" Hitler und der "verbürokratisierten" NSDAP öffentlich zu distanzieren. (Ähnlichkeiten mit "kapitalismuskritischen" Nazis, die sich gern auf den "völkischen Sozialismus" z. B. der Gebrüder Strasser berufen, sind unzufällig.)
Hierzu auch ein älterer Thread im Nornirs Ætt-Forum: Das Blutgericht-Dilemma.

Als überzeugter Anhänger der liberalen Demokratie und entschiedener Gegner jeder Form des Rechtsextremimus kenne ich das Dilemma um von den Nazis mißbrauchte Symbole allzu gut - ich würde es sogar dann kennen, wenn ich nicht der Ansicht wäre, den alten und neuen Nazis dürfte kein Einziges von ihnen missbrauchtes spirituelles Symbol überlassen bleiben. Auch wenn dieser radikale Standpunkt sicher nicht mehrheitsfähig ist und viele aufrechte Antifaschisten eher befremden düfte: Sonnenrad-Song. (Selbstausgedachte Zeichen, Gauabzeichen, Armanen-"Runen" und so ein Zeugs können sie gern behalten!)
Mein Standpunkt ist allerdings stark von meiner spirituellen Orientierung her geprägt - als schlichter Agnostiker wäre es mir "nur" wichtig, den Rechten nicht die kulturelle Deutungshoheit über zahlreiche Symbole, Mythen, Bräuche usw. zu überlassen. Aber auch mit dieser, weniger radikalen, Haltung kann man unter Umständen ins Symbol-Dilemma geraten.

Hierzu verweise ich auf diesen hervorragenden Artikel von Toralf Staud in der "Zeit": Glatzenbrot und Lebensrunen

Staud arbeitet heraus, wie sehr es den Rechtsextremen in Mecklenburg-Vorpommern (aber sicher nicht nur dort) gelungen ist, "normal" zu erscheinen. Eine sehr wichtige Feststellung angesichts einer ungeheuerlichen Entwicklung machte er am Schluß des Artikels:
Kein Wunder, dass in Vorpommern wachsenden Teilen der Gesellschaft der Sinn abhanden kommt für das, was sich gehört und was nicht. Seit Jahren kann ein rechtsextremistischer Dachdecker mit der Lebensrune in einem Schaukasten direkt vor dem Anklamer Gymnasium werben, ohne dass es jemanden stört. Der örtliche Trabi-Club fand es witzig, bei seiner Disko einen »DJ Völkermord« an den Plattenteller zu lassen. Im Bäckerladen von Ducherow liegt im Regal neben dem »Hansebrot« ein Brot namens »Glatze« mit schöner brauner Kruste. Obwohl Neonazis seit Jahren die germanische Sagenwelt zur Popularisierung ihrer Ideologie nutzen, wurden im letzten Jahr zwei junge Wölfe im Tierpark Ueckermünde Wotan und Thor getauft. Tino Müller versichert, damit habe er nichts zu tun. Vermutlich stimmt das sogar. So weit ist es schon.
Ich stimme Staud völlig zu: bestimmte Dinge gehören sich einfach nicht. Fast alle von ihm beschriebenen Verhaltensweisen sind für einen auch nur halbwegs sensiblen und halbwegs demokratischen Menschen völlig indiskutabel.
Im Sinne einer eindeutigen, auch für den letzten Dummtroll nicht zu übersehenden, Distanzierung von rechtem Gedankengut ist es in der Tat unklug, zwei junge Wölfe "Wotan" und "Thor" zu taufen - auch wenn die Namensgeber mit den Nazis an sich so wenig zu schaffen haben wie die Wölfe selbst. (Beim rechten Dackdecker liegt der Fall anders, selbst wenn die Rune auch ein mißbrauchtes Symbol ist.) Es ist unklug - aber aus politisch-taktischen Erwägungen heraus.
Die Tatsache, dass Neonazis die germanische Sagenwelt zur Popularisierung ihrer Ideologie nutzen, sollte gerade nicht Anlaß sein, alles, was mit dieser Mythologie zu tun hat, sozusagen unter Generalverdacht zu stellen. Der manchmal aus politisch-moralischen Gründen unbedingt gegebene Verzicht auf bestimmte Symbole überläßt, wenn er allzu konsequent im Sinne einer "Nulltoreranz" gehandhabt wird, kampflos und auf Dauer eben diese Symbole den Nazis. Hierzu auch: Verbotene und Suspekte heidnische Symbole

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