Tacheles

Henryk M. Broder gab der "Tacheles" ein (trotz einiger schmerzhafter broderscher Pauschalisierungen) sehr lesenswertes Interview über historischen Masochismus, arabische Logik und die "Entarisierung" Europas. Es ist auch auf Hagalil online: "Europa wird anders werden".

Was die Einschätzung des Geschichtsmasochismus angeht, stimme ich Broder völlig zu (das ist in letzter Zeit nicht immer der Fall) :
Es ist nichts wie 1933, und ich finde es vollkommen albern, wenn die Leute auf die Strasse gehen und sagen: Nie wieder 1933. Das sind Leute, die für mich eine fatale Fixierung, eine Zwangsfixierung auf die Vergangenheit zu Tage legen. Da gibt es zurzeit in der Bundesrepublik Aufregung über die Weigerung der Bundesbahn, auf den Bahnhöfen eine Ausstellung über die Deportationen jüdischer Kinder in die KZs zu zeigen. Ich bin hier voll auf der Seite der Bundesbahn – Bahnhöfe sind keine historischen Gedenkstätten. Ich finde, dass es ein paar holocaust- und völkermordfreie Zonen geben sollte, unter anderem die Nahverkehrsmittel. Ich möchte auf einem Bahnhof keine Ausstellungen über die Massaker an den Kurden, Armeniern oder Juden sehen. Das ist wirklich eine Form von historischem Masochismus, den ich nicht teilen kann.

Woher kommt so was?

Dieser Geschichtsmasochismus wird von Leuten betrieben, die keine Verbindung zur Gegenwart herstellen. Diese Leute halten Darfur wahrscheinlich für eine Kaffeesorte. Sie regen sich wahrscheinlich nicht darüber auf, dass im Kongo inzwischen vier Millionen Menschen niedergemacht wurden und der iranische Staatspräsident Israel mit Vernichtung droht. Sie fixieren sich auf die Geschichte, weil sie sich damit selbst einen Bonus geben.
Ich ergänze: sie fixieren sich auch deshalb auf vergangenes Unrecht, weil es bequemer ist, als neues Unrecht zu bekämpfen oder auch nur öffentlich beim Namen zu nennen.

Eine brodersche Pauschalisierung, die mich wirklich ärgert, ist diese:
In der arabischen Welt ist schon der Kompromiss ein Gesichtsverlust.
Das gilt für eine bestimmte Sorte Araber im politischen Kontext. Wäre ein Kompromiss immer ein Gesichtsverlust, müßte z. B. (sorry für das Klischee) ein Basarhändler, ja überhaupt jeder Kaufmann in der arabischen Kultur ein wenig geachteter Mensch sein - Verkaufsverhandlungen, besonders in der Form des Feilschen, sind das Musterbeispiel einer Kompromissfindung. (Es sei denn, der Händler zieht seinen Kunden völlig über den Tisch. Dürfte auf einem orientalischen Basar sehr selten vorkommen, unerfahrene Touristen als "Opfer" mal ausgenommen.) Tatsächlich genießen Kaufleute in der traditionellen arabischen Kultur ein hohes Ansehen, was auch mit dem "Zivilberuf" Mohammeds zusammenhängen dürfte. Das Problem liegt m. E. darin, dass die "modernen" Islamisten eine totalitäre "faschistische" "Alles oder nichts"-Ideologie vertreten - und nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, ultra-konservative islamische Traditionalisten sind. Mit Traditionalisten kann man wenigstens verhandeln, auch Broder räumt ein, dass es einen "arabischen Pragmatismus" gibt. Mit Islamofaschisten wie der Hamas sind Verhandlungen zwecks Bildung eines politischen Kompromisses meines Erachtens sinnlos. (Schließt Verhandlungen auf Alltagsniveau nicht aus, sehr wohl aber die Beteiligung an einer Friedenskonferenz, die diesen Namen verdient.) Und mit Terroristen verhandelt man gründsätzlich nicht.

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