Sonntag, 17. April 2011

Die Legende vom Abendland

Ursprünglich war mit dem heute wieder so gern zitierten "christlichen Abendland" nur Westeuropa gemeint. Genauer gesagt: jenes Gebiet, in dem bis zur Reformation die römisch-katholische Kirche herrschte.

Heute wird "Abendland" meistens gleichbedeutend mit "dem Westen" verwendet - also als eine kulturelle Traditions- und Wertegemeinschaft, die sich grob mit "judäo-christliche Religion, griechische Philosophie, römisches Recht, ferner Humanismus, Aufklärung, offene Gesellschaft und Demokratie " umreißen lässt. Also ein weiter, offener Kulturraum, mit fließenden Übergängen zu und regem Austausch mit anderen Kulturräumen.

Wenn man sich aber die Abendland-Ideologie, die nach dem Zweiten Weltkrieg in konservativen Kreisen (West-)Europas in den 1950er-Jahre ausgebrütet wurde, ansieht, dann ist deren "Abendland" weitaus enger und begrenzter. "Abendland" bedeutet für die Christlich-Konservativen vor allem Wiederbelebung des Christentums und Abgrenzung gegenüber Kulturen auf anderer Grundlage, (damals) der Sowjetunion, heute eher gegenüber islamisch geprägten Kulturen - insgesamt jedoch gegenüber allem, was nicht christlich geprägt ist. "Europa" ist für diese Kreise nur auf christlicher Grundlage denkbar - womit die Türkei automatisch außen vor steht. Immerhin: das Bekenntnis zur Demokratie ist schon ein Fortschritt, die "Abendländer" der 1950er und 1960er Jahre hatten keine Probleme, die Diktatur Francos in Spanien als "vollwertig abendländisch" einzubeziehen ...

Der "Westen" im "Clash of Civilisation" á la Huntington nähert sich dem alten Verständnis des "Abendlandes" an - er besteht nur aus West- und Mitteleuropa sowie Nordamerika, die russisch-orthodox und griechisch-orthodox geprägten Gebiete Osteuropas stehen außen vor, allerdings auch Lateinamerika - was Huntigtons stark ökonomisch geprägte Sichtweise von der der christlich-konservativen "Abendländern" abhebt.

"Momo Rulez" sinnierte auf Metalust & Subdiskurse, was Europa außer Weltkriegen, Genoziden, der Zwöftonmusik, ein paar guten Büchern (und selbstverständlich dem FC St. Pauli) überhaupt zustande gebracht hätte in den letzten 100 Jahren ohne Input von außen, von anderen Kulturen. "Woher da die kulturelle Arroganz stammt?" - Ich vermute, aus einem Gemisch aus Ahnungslosigkeit und kulturellem Tunnelblick - in dem z. B. die Zwölftonmusik als hohes Kulturgut gilt (wohl zurecht, auch wenn sie mir quer im Ohr liegt) und der Blues als "reine Unterhaltungsmusik" abqualifiziert wird (obwohl zutiefst christlich, wenn man die Tradition verfolgt).

Im Gedankenexperiment drehen wir einmal den Kalender um 1000 Jahre zurück. Der damals zivilisatorisch unstreitig am meisten entwickelte Raum Europas war die moslemisch beherrschte iberische Halbinsel (obwohl der Mythos vom "goldenen Zeitalter el Andalus'" die Realität weit überstrahlt). Ebenfalls auf recht hohem Niveau, wenn auch schon lange stagnierend, war der von den Überresten des oströmischen Reiches beherrschte Südosten. Das "christliche Abendland" war sowohl in der Sachkultur, wie in Philosophie und Wissenschaft weit hinter "Islam-Europa" und "Byzanz-Europa" hinterdrein. Erst im Hochmittelalter machte es, unter massiven Einflüssen aus der islamischen Welt, sichtbare Fortschritte.
Eine "dunkles Zeitalter" war das Mittelalter vor 1100 nur für Westeuropa. Von den deutlich weniger finsteren Teilen Europas war schon die Rede. In China fällt in diese Periode die Zeit der Tang-Dynastie, eine Zeit höchster kultureller Blüte, in der viele wichtige Erfindungen gemacht wurde (z. B. Papier, Schießpulver, Porzellan). Die Kultur Arabiens und Persiens stand ebenfalls in voller Blüte.
Ironischerweise war in diesen "dunklen Jahrhunderten" Westeuropas ein Gebiet "Kerze der Zivilisation", das an der äußersten Peripherie lag: Irland. Und der gerade eben eher oberflächlich christianisierte Norden war (noch) der wirtschaftlich prosperierendste Teil Europas, mit Handelsbeziehungen nach Byzanz, Iberien und Arabien (unter Umgehung des kontinentalen Westeuropas). Erst in der Zeit der
Kreuzzüge wurden die Normannen und ihre Nachfahren ins Abendland integriert.
Bertrand Russel schrieb in seiner "Philosophie des Abendlandes", dass es zwischen Boethius und Anselm von Canterbury, also in einem Zeitraum von über fünfhundert Jahren, nur einen hervorragenden westeuropäischen Philosophen gegeben hätte, Duns Scotus (Johannes Scottus Eriugena), ein irischer Gelehrter des 9. Jahrhunderts.

Ohne Einflüsse von außen wäre Kern-Westeuropa alias "christliches Abendland" unter einer dunklen Glocke zivilisatorischer Rückständigkeit geblieben. Dass unter dieser Glocke auf die Kirchenglocken mehr gehört wurde, als zuvor und später, und die Kirche quasi ein Bildungsmonopol hatte, mag allenfalls für eine extrem "katholizentrische" Geschichtsschreibung als Vorzug dieser Epoche gelten.

Dienstag, 12. April 2011

Juri Alexejewitsch Gagarin

Heute vor 50 Jahren, am 12. April 1961, flog Juri Gagarin als erster Mensch mit der Raumkapsel "Wostok 1" ins All. Eine außerordentliche technische Pionierleistung und ein lebensgefährliches Unternehmen. Erst nach dem Ende der UdSSR wurde im vollem Umfang bekannt, wie gefährlich der erste bemannte Raumflug gewesen war.
Encyclopedia Astronautica: Vostok 1
Genau 20 Jahre später, am 12. April 1981, flog erstmals ein wiederverwendbare Space Shuttle Orbiter, die "Columbia". Encyclopedia Astronautica: STS1
NASA - The Space Shuttle.

Yuri's Day

Juri Alexejewitsch Gagarin war so sehr die Verkörperung des Arbeiter- und Bauernstaats, wirkte so charmant und sympathisch bei seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten, dass die nimmermüden Verschwörungstheoretiker argwöhnten, da könne doch etwas nicht stimmen.
Abgesehen davon, dass die offizielle Biographie Gagarins an einigen Stellen propagandistisch aufgehübscht wurde - der reale Juri war wohl kein Tugendbold - stimmte aber alles.
Er war Sohn eines Tischlers und einer Melkerin und wuchs auf einer Kolchose auf. Seine Eltern sollen belesen und bildungshungrig gewesen sein, Gagarin war es sicherlich. Nach seiner Ausbildung als Gießer absolvierte er eine Technikerschule. Bekannt ist, dass er sich früh für die Fliegerei begeisterte und 1950 dem Aeroclub Saratow beitrat. 1955 bestand er seine Prüfung als Zivilpilot, im gleichen Jahr meldete er sich zur Luftwaffe. 1957 heiratete er die Ärztin Valentina Gorjatschowa.
Von 1957 bis 1959 diente Gagarin bei einem Jagdfliegerregiment der Nordflotte bei Murmansk, nördlich des Polarkreises. Hier wurde Gagarin Mitglied der KPdSU. Am 10. April 1959 wurde seine Tochter Jelena geboren, am 12. März 1961, genau einen Monat vor seinem Raumflug, seine zweite Tochter Galja.
1960 wurde Gagarin als potenzieller Kosmonaut ausgewählt und am 3.März als einer von 20 Kosmonauten-Anwärtern in eine streng abgeschirmte Siedlung bei Moskau, dem später so genannten Sternenstädchen für das harte Kosmonautentraining einbestellt.
Es ist ganz interessant, das Anforderungsprofil für die 1. Kosmonautengruppe mit dem für die ersten US-Astronauten zu vergleichen. Beide Programme ließen zunächst nur Militärpiloten zu und forderten einen sehr guten Gesundheitszustand. Sonst unterschieden sie sich stark:
Mercury-Astronauten: Alter unter 40 Jahre, Größe unter 182 Zentimeter, Gewicht unter 82 Kilogramm. Mindestens 1.500 Flugstunden auf Hochleistungsflugzeugen. Mindestens ein Universitätsabschluss in Ingenieurswissenschaften. Berufserfahrung als Testpilot.

Wostok-Kosmonauten: Offiziersrang in der Luftwaffe. Alter unter 30 Jahre. Größe unter 170 Zentimetern. Gewicht unter 70 Kilogramm. Flugerfahrung auf Jets gewünscht, aber nicht notwendig. Keine Universitätsausbildung erforderlich.

(Angaben nach Gagarin & Co., einem KosmoLogs-Beitrag von Eugen Reichl über die erste Kosmonautengruppe.)

Es ist offensichtlich, dass im Wostok-Programm eher auf körperliche und psychische Belastbarkeit Wert gelegt wurde. Das Wostok-Raumschiff war nur begrenzt steuerbar, und nur im Notfall konnte der Kosmonaut in den Flugablauf eingreifen. Besonderes fliegerisches Können war da überflüssig.
Übrigens war das ursprünglich auch im Mercury-Programm so vorgesehen. Es lag nicht allein am Widerstand der potenziellen Astronauten (der im Buch "The Right Stuff" thematisiert wurde), dass die Mercury-Kapseln von erfahrenen Testpiloten geflogen wurden. Obwohl die Mercury in vieler Hinsicht der Wostok unterlegen war, hatte sie ein ausgefeiltes Lageregelungssystem, sie konnte also tatsächlich "geflogen" werden. Entscheidend war aber, dass sich die amerikanischen Entwicklungsingenieure von den Astronauten Unterstützung bei der Weiterentwicklung und Neukonstruktion von Raumfahrzeugen erhofften, und das konnten Testpiloten mit Ingenieursausbildung, nun einmal am Besten. Die Wostok war laut Propaganda "perfekt ausgereift", tatsächlich wurde propagandistisch herausgestellt, dass bei den amerikanischen Mercurys die Astronauten aktiv steuern mussten, was als Unzulänglichkeit dieser Kapseln dargestellt wurde.
Allerdings glich sich das sowjetische Anforderungsprofil bei späteren Kosmonautengruppen dem us-amerikanischen an.

Ob es bei der Auswahl von Vorteil war, dass Gagarin sehr klein war (1,57 Meter), kann bezweifelt werden. Wichtiger war, was die Militärpsychologen herausfanden: er war bescheiden, umsichtig, emotionell stabil und zeigte einen hohen Grad an intellektueller Entwicklung. Wichtig war auch, dass Gagarin gut mit seinen Kameraden auskam; die meisten im Sternenstädtchen hielten ihn für den Geeignetsten.
Entscheidend war wohl, dass der Leiter des sowjetischen Raumfahrtprogramms, Sergeij Koroljow, an die Zeit nach dem Flug dachte, für die Gagarin mit seinem jungenhaften Charme, seinem ansteckenden Lächeln und seinem sicheren Auftreten vor Publikum sozusagen die ideale Besetzung war.

Am 12. April 1961 wurde der 27-Jährige im Raumbahnhof Baikonur zur Rakete gefahren. Unterwegs ließ er den Bus halten und pinkelte an einen Reifen, das wurde zum Ritual in Baikonur.
Um 9.07 Uhr Moskauer Zeit zündeten die Triebwerke der R7, Gagarin antwortete mit seinem berühmt gewordenen Ausruf "Pojechali!" – "Auf geht's!"
Die Erdumkreisung dauerte 108 Minuten. Gegen Ende drohte höchste Gefahr: Die Rückkehrkapsel der "Wostok 1" löste sich nicht vollständig von der Versorgungseinheit. Um ein Haar hätte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS den Briefumschlag mit dem vorbereiteten Nachruf öffnen müssen.

Selbstverständlich erhielt Gagarin die höchsten offiziellen Ehren der UdSSR, keineswegs selbstverständlich war, dass er zum "Popstar" und Idol der Massen wurde. Wohin er auch immer reiste, löste er Begeisterung aus, und wenn er auftrat, waren ideologische Differenzen erst einmal vergessen.
Es machte ihm sichtlich Spaß, prominent zu sein. (Was längst nicht auf alle Komonauten / Astronauten zutrifft. Ausgerechnet der erste Mann, der den Mond betrat, Neil Armstrong, ist mit seiner introvertierten, nüchternen Art für die "Popstarrolle" eine glatte Fehlbesetzug.) Wirklich locker scheint er das Heldendasein nicht weggesteckt zu haben, von Alkohol war die Rede (Alkoholmissbrauch ist ein überraschend häufiges Problem von Kosmonauten und Astronauten), die Ehe kriselte.
Gagarin war leidenschaftlicher Kosmonaut, er wollte ins All, am liebsten zum Mond. Als Held der Sowjetunion und weltweit populärer Medienstar war aber er zu wertvoll.
Gagarin absolvierte ein Ingenieurstudium. 1967 war er Ersatzmann für Alexij Komarow für den ersten Flug des neu entwickelten, erstmals völlig steuerbare, Sojus-Raumschiffs. Nach einer Reihe von Fehlfunktionen leitete Komarow am 24. April 1967 nach achtzehn Erdumkreisungen den Landevorgang ein. Der Hauptfallschirm entfaltete sich nicht, Komarow starb, als seine Kapsel hart in Südrussland aufschlug.

Am 27.März 1968 starb Gagarin bei einem Trainingsflug mit einer MiG 15. Wahrscheinlich hatte er zu viel riskiert und die Kontrolle über seine Maschine verloren.
Gagarins Asche wurde in einer Urne in der Kreml-Mauer bestattet.
Einen seiner Orden nahm Neil Armstrong beim Apollo 11 Flug mit, seit dem 21. Juli 1969 liegt der Orden, den Gagarin für seinen ersten Raumflug erhielt, auf dem Mond.

Gagarins 108 historische Minuten, Teil 1

Gagarins 108 historische Minuten, Teil 2

Es stimmt übrigens nicht, dass, wie Harald Zaun auf Telepolis schrieb sich kein Verschwörungstheoretiker eingefunden hätte, der Gagarins epochalen Schritt ins Reich der Legenden verwiesen hätte.
Ein prominenter und unbeirrbarer Gagarin-Zweifler war der berühmte Schriftsteller und Exilrusse Vladimir Nabokov. Wie Peter Ustinov in seinem Buch "Achtung Vorurteile!" schrieb, pflegte der Antikommunist Nabokov seine Vorurteile gegen alle Vernunft und lies sich nicht davon abbringen, den weltweit bezeugten Raumflug für ein "potemkinsches Dorf", für ein besonders abgefeimtes Theater der verhassten Sowjets zu halten. Nabokov war nur der prominenteste unter den "Gagarin-war-nie-im-Weltraum"-Verschwörungstheoretikern der frühen 1960er Jahre. Dass sie heute nicht mehr in Erscheinung treten, liegt wohl daran, dass es heute schwierig ist, die Existenz von Satelliten oder die der mit bloßen Auge erkennbaren ISS erfolgreich zu leugnen. Dafür stürzen sich V-Theoretiker auf angeblich vor Gagarin bei geheimen Raumflügen umgekommene Kosmonauten.

Warum fasziniert Raumfahrt, über die längst vergessenen "Wettlauf der Systeme" und den längst verwehten Sensationswert hinaus? Einen selten erwähnten, aber sicher für die heutigen Raumfahrtenthusiasten wichtigen Faktor spürte thursa auf einem ihren zahlreichen Blogs auf: Gemeinsam geschaffenes Gut & hacking space tech.
Was wohl den Astronauten wie Open Source-Projekten gemein ist, ist die gemeinsame Aufgabe und eine Art gemeinsamer Kultur.
Auch von thursa, auf einem anderen ihrer Blogs: 50 Jahre bemannte Raumfahrt

Montag, 11. April 2011

"Zusammenbruch"

Heute erfuhr ich, dass ein gute Freundin einen Nervenzusammenbruch - eine psychische Überlastungsreaktion erlitten hat. Das sagt sich leicht dahin, vielleicht, weil "Nervenzusammenbruch" und Burn-Out geradezu inflationär verwendet werden; so wie eine Depression etwas völlig anderes ist, als das Stimmungstief, das Menschen, die nicht wirklich wissen (oder nicht wissen wollen), als "Depris" bezeichnen.

Mir fällt auf, wie viele Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis seit einiger Zeit psychische Schwierigkeiten haben. Es kann nicht daran liegen, dass sie alle "schlechte Nerven" hätten oder nicht wüssten, wie man Stress abbaut oder vermeidet. Wobei - der viel zitierte Stress ist, denke ich, eher Auslöser als Ursache.

Irgendwo las ich, dass Schüler, denen die zustehende Anerkennung für Geleistetes fehlt, Leistung verweigern und oft Autoaggressionen entwickeln. Typischerweise sind das Schüler mit über-ehrgeizigen Eltern, die alles außer absoluter Spitzenleistung nicht gelten lassen, aber auch Kinder mit, wie es so unschön heißt, bildungsfernem Hintergrund, deren Eltern viele schulische und außerschulische Leistungen nicht einschätzen können.
Das halte ich, anders als viele mehr oder weniger windige Studien über die Ursachen von schulischen Erfolg und Misserfolg, immerhin für plausibel.
Ich fürchte, wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht nur im Beruf Zustände herrschen, wie sie ganz ähnlich an sich fleißige und aufmerksame Schüler, deren Leistungen nicht anerkannt werden, erleben. Nur die absolute Spitzenleistung zählt, schon der Zweite ist ein Verlierer.
Das wäre halb so schlimm, wenn es wirklich nach Leistung ginge. In der gesellschaftlichen Realität ist es aber so, dass viele Menschen aus den sogenannten Eliten eher Leistungsvortäuscher, Blender oder Hochstapler sind, und ihren gesellschaftlichen Status in Wirklichkeit ganz anderen Faktoren - etwa dem Umstand, in die "richtige" Familie geboren zu sein, oder dem, den "richtigen" Freundekreis zu haben - verdanken. Oder Fähigkeiten, die nichts mit beruflicher Leistung zu tun haben - etwa, der sich "gut zu verkaufen" oder auch einer ordentlichen Portion Rücksichtslosigkeit.
Schon in der Schule ist es so, dass diejenigen Kinder, die nicht zuhause oder spätestens in der Grundschule gelernt haben, sich auf Kosten Schwächerer zu profilieren und zu stabilisieren, es schwerer haben. Im Berufsleben ist das noch härter. Leistung alleine reicht nicht.
Dass es Arbeitslose besonders hart trifft, aber auch Menschen mit Krankheiten oder mit Behinderungen - das zu erwähnen, sollte eigentlich überflüssig sein. Aber oft bekommt, wer nicht zu den "Leistungsträgern" zählt, statt Anerkennung noch einen Tritt obendrein.

Die, die ich kenne und die "nervlich am Ende" sind, sind sowohl Menschen, die im Beruf viel leisten, wie solche, die keine Gelegenheit haben, anerkannte Leistung zu zeigen. Es sind Gesunde und gesundheitlich Angeschlagene darunter, gut und schlecht Bezahlte, Selbstständige und Lohnempfänger, akademische Gebildete und einfache Arbeiter. Aber alle haben zwei Dinge gemeinsam: sie sind nicht dumm, und sie sind nicht "etabliert", selbst wenn einige von ihnen überdurchschnittlich gut verdienen (die meisten sind aber eher arm als reich).

Es klingt abgedroschen, aber ich sehe in der "Krankheit" dieser Menschen ein Symptom für eine kranke Gesellschaft.

Sonntag, 10. April 2011

Politsprech im Orbit - die "Raumfahrtstrategie" der deutschen Bundesregierung

Anlässlich des 50 Jubiläums des ersten bemannten Raumflugs sah ich mir auch mal an, was Deutschland so im All vor hat - das Raumfahrt-Programm der deutschen Bundesregierung. Da sprachliches Aufbrezeln spätestens seit dem nach eigenen Angaben mit "Bild, Bams und Glotze" regierenden "Medienkanzler" Gerhard Schröder zum Regierungsgeschäft gehört, ist es kein schlichtes "Programm", sondern natürlich eine "Stategie":
Raumfahrtstrategie der Bundesregierung (2010).

Nüchtern ökonomisch betrachtet ist an dem Programm wenig auszusetzen. (Auch wenn ich einiges daran auszusetzen hätte, aber ich denke zugegebenermaßen gern über die nüchterne Ökonomie heraus.) Es ist ein klassisches Programm zur Technologieförderung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es fördert Projekte, die eine "high-tech"-orientierte Industrienation unterstützen muss, wenn sie, was das eingestandene Ziel der Bundesregierung ist, weiterhin eine überaus erfolgreiche Exportnation bleiben will. (Ob das Ziel, weiterhin kräftige Außenhandelsüberschüsse zu erwirtschaften, überhaupt sinnvoll ist, lasse ich mal außen vor.)
Egal mit welcher Begründung: das, was die Bundesregierung gefördert sehen will, ist allemal vernünftig. Telekommunikation, Robotik, Navigation, Katastrophen-Warnung und -Überwachung (Desaster Monitoring), Erdbeobachtung und Umweltschutz. Alles notwendig, alles vernünftig. (Dass die Bundesregierung auch weniger vernünftige Satelliten-Anwendungen, nämlich solche für militärische Zwecke, fördert, lasse ich ebenfalls mal außen vor.)

Alles schön und gut, aber wo bleibt die Grundlagenforschung? Das, was an der Raumfahrt wirklich "spannend" und mehr als reine Nutzanwendung ist, die Erforschung des Weltalls? Die Raumsonden, Forschungssatelliten, Weltraumteleskope? Es gibt sie, immerhin, und Deutschland will im Rahmen der ESA eine unbemannte Mondmission immerhin weiter prüfen, aber die Raumforschung geht irgendwie ziemlich unter. Jedenfalls im Vergleich zu den langen Ausführungen, wie man mit Raumfahrt ein Geschäft machen kann. Ehe nun der Eindruck entsteht, das Programm sei arg konservativ und vom Geist kleinkarierten Krämerseelen durchdrungen: auf einem Gebiet wird tatsächlich Pionierleistung gefordert, jedenfalls kann man die Aussagen zur künstlichen Intelligenz so verstehen. Der Aussage, dass "intelligente Roboter die Zukunft der Raumfahrt nachhaltig verändern" werden, kann ich nur zustimmen, auch wenn ich nicht so recht begreife, was das Adjektiv "nachhaltig" in diesem Zusammenhang soll. Ich hätte es gestrichen. Klar ist, dass die Autoren dieser "Strategie" Adjektive wie "nachhaltig", "effektiv", "effizient", "innovativ" , "global" und "umweltbewusst" offensichtlich lieben. Mit der "Raumfahrtstrategie" lässt sich vortrefflich Buzzword-Bingo spielen. Der Begriff "nachhaltig" stammt, zur Erinnerung, aus der Forstwirtschaft, und bedeutet, dass nicht mehr Holz geschlagen wird als nachwachsen kann. Entsprechend: "nachhaltige Landwirtschaft", "nachhaltige Fischerei" usw. - aber so etwas wie "nachhaltige Veränderung" ist Geschwurbel.
Natürlich darf auch der "Klimawandel" nicht fehlen, und zwar nicht nur dort, wo er hingehört (Erdbeobachtung usw.), sondern überall, wo er halbwegs plausibel eingebaut werden kann. Es gilt auch für diese "Strategie": Wäre die Bundesrepublik Deutschland mit Taten auch nur halb so eifrig wie mit Worten, es wäre viel für das Weltklima gewonnen.
Was auch auffällt: es fehlen Langzeitprojekte, etwa neue Raumtransportsysteme oder neue Antriebe.
Es ist offensichtlich tatsächlich so, wie ein ESA-Manager es vor einige Jahren ausdrückte: die Deutschen fördern nur Projekte, die in spätestens vier Jahren "marktreif" sind.

Da wir gerade ein halbes Jahrhundert bemannte Raumfahrt feiern: Wie hält es die Bundesregierung damit? Schließlich ist Deutschland (und damit der deutsche Steuerzahler) an der ISS beteiligt, betreibt also bemannte Raumfahrt.
Wie leider nicht anders zu erwarten, fehlt ein klares "Ja", und auch zu einem klaren "Nein" konnte sich die Bundesregierung letztes Jahr nicht durchringen:
Die westliche Welt muss die Fähigkeiten zur bemannten Raumfahrt behalten, solange robotische Systeme bei Aufgaben im All die menschliche Präsenz nicht vollständig ersetzen können. Wir werden darüber mit unseren Partnern in Europa, Amerika und Japan im Gespräch bleiben.
Immerhin könnte man daraus ableiten, dass die Bundesregierung die bemannte Raumfahrt für ein Auslaufmodell hält, aber wirklich klar sagt sie es nicht, denn es ist keineswegs ausgemacht, dass es in absehbarer Zukunft Roboter mit starker künstlicher Intelligenz, die selbstständig forschen und auf unvorhergesehene Ereignisse einfallsreich reagieren könnten, geben wird, so wie es keineswegs ausgemacht ist, dass Deutschland sich überhaupt an Raumfahrtprojekten beteiligen wird, die starke KI erfordern würden. Für Satelliten in der Erdumlaufbahn reicht schwache KI aus - ist kreatives Denken gefragt, kann die Bodenstation angerufen werden.

Oder, was man diese und ähnliche "Strategiepapiere" auch interpretieren könnte, hält die Bundesregierung generell kreatives Denken für überflüssig.

Diese "Raumfahrtstrategíe" ist, wie vieles in der deutschen Politik, von Angst bestimmt. Nicht der Angst vor konkreten Gefahren (Stichwort: Atomkraftwerke) oder einer diffusen "Technikangst", sondern aus Angst vor inhaltlich bestimmten politischen Auseinandersetzungen. Mit anwendungsnaher Technologieförderung kann die Bundesregierung nichts verkehrt machen, während die Lobby für langfristige oder gar zweckfreie Forschung schwach ist.
Angst hat man offensichtlich vor der zur Zeit relevantesten Oppositionspartei, den "Grünen" - daher ist in der "Raumfahrtstrategie" wohl so viel von "Umweltschutz" die Rede. Vor dem Vorwurf der Geldverschwendung scheint sie besonders viel Angst zu haben, denn das Papier liest sich streckenweise wie eine Verteidigungsschrift gegen einen Vorwurf, den - auf diesem Gebiet ! - niemand der Bundesregierung ernsthaft macht.

Samstag, 9. April 2011

Juri Gagarin - vor 50 Jahren war er der erste Mensch im All

Die russische Raumfahrtagentur Roskosmos hat anlässlich des 50. Jubiläums des ersten bemannten Raumflugs einen englischsprachigen Film über Juri Gagarins Flug veröffentlicht:


Mehr zum Thema "50 Jahre bemannter Raumflug":
Wettlauf ins All: Juri Gagarin wird erster Mensch im Orbit (Scinexx Dossier)
YURI'S NIGHT 2011: 50 JAHRE BEMANNTE RAUMFAHRT Ausgewählte Blog-Beiträge der SciLogs

Aber auch das gehört leider zu Juri Gagarins Geschichte. Bisher war nur bekannt, dass Juri Gagarin bei einem Trainingsflug tödlich verunglückt war. Nach der Freigabe von Geheimdokumenten über die Ursachen des Absturzes, bei dem Juri Gagarin 1968 ums Leben kam, ist klar: Er hat ein allzu riskantes Manöver vollzogen und die Kontrolle über seine Maschine verloren. Erster Kosmonaut Gagarin starb an eigenem Fehler (Russland Aktuell)

ESA Euronews:

Juri Gagarin-Biografie, in der vor allem Zeitzeugen zu Wort kommen.

Donnerstag, 31. März 2011

Bienensterben - ein kompliziertes Problem

Ein weltweites Bienensterben gibt seit vielen Jahren Anlass zur Sorge. Diese Sorge ist kein "Luxusproblem", denn auf Honig und Met kann man notfalls verzichten (auf Met eher ungern). Ein Drittel der menschlichen Nahrung hängt von der Bestäubungsarbeit der Bienen ab, die in ersten Linie von denen in der Debatte ums Bienensterben meist übersehenen Wildbienen (zu denen auch die Hummeln gehören) geleistet wird.

Der Begriff "Bienensterben" geht auf einen heute fast vergessenes Ereignis in den 1980er Jahren zurück: damals starben in der chinesischen Provinz Sichuan so gut wie alle Bienen. Die wahrscheinliche Ursache war der unkontrollierte Einsatz von Insektiziden. Wirklich erholt hat sich der Bienenbestand dort nie, weshalb Obstbäume in Sichuan bis heute mühsam von Hand bestäubt werden müssen.
Auch für den Rückgang der Bienenpopulation bei uns ist sicher auch der großzügige und nicht immer sachgemäße Umgang mit Pflanzenschutzmittel verantwortlich. So starben im Mai 2008 am Oberrhein mindestens 15 500 Bienenvölker mit rund 330 Millionen Tieren, die meisten nördlich von Freiburg im Ortenaukreis. Die Ursache war Maissaatgut, das mit dem Insektizid Clothianidin gebeizt war. Theoretisch hätte das behandelte Saatgut in Boden verschwinden sollen, wo es den sammelnden Bienen nicht zugänglich ist.
Auch andere Ursachen, wie ausgedehnte Monokulturen, machen den Bienen zu schaffen.
An dieser Stelle einen Hinweis an Hobbygärtner: Ist der einzelne Garten noch so klein, sind alle Gärten zusammen ein beachtliches, artenreiches Biotop. Daher unbedingt Bienenschutz beachten! Dabei ist der Nutzen eines bienenfreundlichen Gartens durchaus gegenseitig, nicht nur bei Beerensträucher und Obstbäumen, sondern sogar bei Küchenkräutern. Dass Wildkräuter und bunte Wiesen gern von Insekten angeflogen werden, sollte sich herumgesprochen haben. Für Nichtgartenbesitzer auch schon vernünftig: mit heimischen Blumen und Küchenkräutern bepflanzter Balkonkästen helfen den Bienen, und "Guerilla Gardening" ist keine schlechte Idee. Mit wenig Aufwand lässt sich außerdem ein Bienenhotel als Nistgelegenheit für Wildbienen basteln.

Wenn in den letzten Jahren vom "Bienensterben" die Rede ist, ist meistens aber eine mysteriöse Krankheit gemeint: "Colony Colapse Disorder " (CCD) griff seit dem Herbst 2006 in der USA um sich. Die ausgewachsenen Arbeitsbienen verschwanden spurlos und ließen den Bienenstock samt Königin, Jungbienen und Brut hilflos zurück. Der plötzliche Bienentod blieb allerdings nicht auf die USA begrenzt. Das Phänomen ist mittlerweile weltweit zu beobachten.

Die Ursachen für den plötzlichen Tod ganzer Völker sind noch unklar. Hauptverdächtige sind Parasiten wie beispielsweise die Varroa-Milbe, die seit etwa 30 Jahren auch in Mitteleuropa anzutreffen ist.
Aber auch andere Ursachen, naheliegende wie Insektizide und und eine schwindende Artenvielfalt, Infektionskrankheiten, häufigere Wetterextreme, aber auch weit hergeholte, wie "Elektrosmog", stehen im Verdacht, CCD auszulösen.
Bienenforschung ist sehr kompliziert, da der Bienenschwarm einen "Superorganismus" bildet, bei dem neben den biologischen Eigenschaften der Einzelbiene auch die des ganzen Schwarms berücksichtigt werden müssen.
Schwierig gestaltet sich die Suche nach den Ursachen auch deshalb, weil kein Bienenvolk dem anderen gleicht und die Bedingungen, unter denen die Bienen aufwachsen und leben, niemals identisch sind. Für wissenschaftliches Arbeiten sind das keine guten Voraussetzungen.

Biologen der Universität Würzburg haben vor Kurzem einen neuen Ansatz entwickelt, der dazu beitragen könnte, Licht ins Dunkel zu bringen. Ein Team, geleitet von Harmen Hendriksma, Doktorand für Tierökologie und Tropenbiologie, hat eine Methode entwickelt, die es möglich macht, Bienen in großer Zahl im Labor zu züchten. Damit könnten Wissenschaftler weltweit unter kontrollierten und miteinander vergleichbaren Bedingungen untersuchen, welche Faktoren Bienen das Leben schwer machen.

Das Würzburger Team benutzen eine Art künstliche Wabe aus Plastik, etwa so groß wie eine Zigarrenkiste und mit 110 Waben, die den typischen Wachswaben gleichen. An ihren Enden befinden sich abnehmbare Böden, die wie kleine Näpfe geformt sind. In diese legt die Königin ihre Eier.
Die Näpfe nehmen die Wissenschaftler anschließend ab und tragen sie samt Inhalt in ihr Labor. Bisher mussten in mühsamer Kleinarbeit die Bienenlarven mit Nadel und Pinzette einzeln aus dem Brutwaben gefischt werden, was viele Larven nicht überlebten. Nach der neuen Methode können innerhalb von 90 Minuten mehr als Larven gesammelt werden. Die Larven scheinen mit dieser Methode auch keine Probleme zu haben: 97 Prozent von ihnen überlebten den Transport und entwickelten sich im Labor ganz normal bis ins Larvenstadium kurz vor der Verpuppung.

Die erfolgreiche Aufzucht von Bienen im Labor ist laut Hendriksma der Schlüssel für die Suche nach den Auslösern des Völkerkollapses:
Nur im Labor ist es möglich, unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen, wie sich bestimmte Faktoren auf die Entwicklung der Bienen auswirken – beispielsweise Insektizide, die Varroa-Milbe oder eine schlechte Ernährung.
Ganz anders eben als in draußen lebenden Kolonien, deren Leben von zahlreichen unkontrollierbaren Einflüssen bestimmt ist.

"Bedrohte Völker - Das Bienensterben bedroht die Landwirtschaft" -
Gunnar Henze, "Bild der Wissenschaft", Konradin, Leinfelden-Echterdingen, 4/2011, S. 36 - 39

Pressemeldung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg: Dem Bienensterben auf der Spur

BEEgroup an der Universität Würzburg.

Infoseite des Biologen Paul Westrich über Wildbienen.

Montag, 28. März 2011

Energie und Askese

Harald Welzer machte sich in der FAZ vom 20. März 2011 einige Gedanken, die mich zum Widerspruch reizen.
Nach Fukushima - Abschaffung der Komfortzone
Nicht, weil Welzer grundsätzlich unrecht hätte. Oder weil ich mich an seiner "konservativen", kulturpessimistischen Weltsicht stoßen würde. Tatsächlich stoße ich mich an Behauptungen, die meiner Ansicht einfach nicht zutreffen.
Und zwar deswegen, weil das hier der zweite GAU war und schon der erste nichts verändert hatte, weil die Sogwirkung eines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das die unablässige Steigerung von Glück durch die unablässige Ausweitung der Konsumzone anbietet, so stark ist, dass sich ihr kaum noch jemand entziehen mag.
Der "erste GAU" (gemeint ist wohl der katastrophale Unfall in Tschernobyl) hat sehr wohl etwas verändert. Seitdem ist Kernenergie ein Auslaufmodell, in dem Sinne, dass sie nur noch gegen erhebliche Widerstände politisch durchsetzbar ist. Das wiederum führt dazu, dass der Neubau eines AKW im Grunde unkalkulierbar ist: ob überhaupt, wenn ja, wann, und mit welchen (teurer) zusätzlichen Sicherheitsauflagen das Kraftwerk ans Netz gehen kann, ist nicht mehr absehbar. Die angebliche ändert, sieht man sich nur die Zahlen an, daran wenig. Die Renaissance der Kernkraft beschränkt sich auf Länder, in denen staatliche Betreiber oder Geldgeber das Risiko tragen, mit anderen Worten: wo Kernkraftwerke, auch entgegen ökonomischen Erwägungen, politisch gewollt sind.

Wieso hatte "Tschernobyl" nicht stärkere Auswirkungen?
Der eine Grund ist betriebswirtschaftlicher Natur: ein AKW ist teuer, es gibt also ein starkes Interesse der Betreiber, die Kraftwerke so lange am Netz zu lassen, bis sie sich amortisiert haben. Ist dieser Punkt erst einmal erreicht, ist für privatwirtschaftliche Kraftwerksbetreiber der Anreiz groß, die Anlagen so lange im Betrieb zu lassen, wie technisch möglich: da die alten Kraftwerke ihrer Erstellungskosten längst eingefahren haben, fallen im wesentlichen nur noch Brennstoff-, Personal- und Wartungskosten an. Ein "Alt-AKW" ist wegen des geringen Brennstoffanteils an den Betriebskosten ein besonders profitables Kraftwerk - auch weil die eigentlich "unbezahlbaren" Versicherungs- und Entsorgungskosten größtenteils von staatlicher Seite, also vom Steuerzahler, übernommen werden.
Der zweite Grund liegt darin, dass der Unfall von Tschernobyl sich in dieser Form nur bei einem bestimmten Reaktortyp (graphitmoderierter wassergekülter Reaktor), der außerdem sicherheitstechnisch auf einem erbärmlichen Stand war, ereignete. Auf der propagandistischen Ebene wurde daraus ein "sowjetischer Schrott-Reaktor", während "unsere Reaktoren" sicher seien. (Obwohl bei viele heute im Betrieb befindlichen AKW die heute geforderten Sicherheitsstandards nicht erfüllen.) Tatsächlich hätte sich ein "Tschernobyl-Unfall" in den Siedewasserreaktoren von Fukushima nicht ereignen können: Ein Erdbeben, das stärker als bei Bau berücksichtigt war, und ein Tsunami, der höher war, als berücksichtigt, traf eine sicherheitstechnisch veraltete Anlage, die schlechter gewartet war, als vorgesehen. Verkettungen unglücklicher Umstände sind im Prinzip überall möglich.
Eine künftige Lebens- und Überlebenskunst kann nur darin bestehen, das erreichte zivilisatorische Niveau in Sachen Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit zu halten und die Fehlentwicklungen – zukunftsfeindliche Energienutzung, grenzenlose Mobilität, die Kultur der chronischen Verfügbarkeit von allem – radikal zurückzunehmen.
Zustimmung - bis auf die falsche Definition der Fehlentwicklungen:
Es ist ja nicht die Energienutzung, die "zukunftsfeindlich" ist - die kann man allenfalls einschränken und effizienter machen. Es sind die Energiequellen, auf die es ankommt. Wobei einzig regenerative Träger auf Dauer zukunftssicher sind.
Auch die grenzenlose Mobilität ist an und für sich kein Problem. Es kommt "nur" auf das Verkehrsmittel an, bzw. die Energie, mit der das jeweilige Verkehrsmittel betrieben wird. Zum Beispiel ist ein dichtes, voll elektrifiziertes Bahnsystem, dessen Strom zu 100% aus regenerativen Quellen stammt, technisch keine Utopie. (Die Schweiz kommt diesem Ideal schon recht nahe.) Die tatsächlichen ökologischen Problembereiche sind der Autoverkehr und der Flugverkehr. Ökologisch problematisch ist im Güterverkehr, dass es betriebswirtschaftlich sinnvoller sein kann, ein benötigtes Gut unter hohem Energieeinsatz von weither zu beschaffen, als es aus der Region zu beziehen.
In einer "Kultur der chronischen Verfügbarkeit von allem" lebt ohne nur eine winzige Minderheit der heutigen Menschheit. In der leben nur diejenigen, die das nötige Geld haben. Eine Kultur, in den allen lebensnotwendigen Güter für jeden jederzeit verfügbar sind, z. B. gutes Trinkwasser, Grundnahrungsmittel, wetterfeste Unterkunft, ist ein bisher nicht annähernd erreichtes Ziel.
Eine reale Dystopie. Ich bin in den vergangenen Tagen oft gefragt worden, ob ich glaube, dass nun endlich der Punkt erreicht sei, an dem die Menschen aufhören, an die Versprechen des unaufhörlich wachsenden Wohlstands zu glauben, den Preis für dieses Versprechen zu hoch finden und umkehren zu einem anderen, vielleicht nicht ganz so bequemen und fremdversorgten Lebensstil. Ich glaube das nicht, leider.
Ich bin, hinsichtlich "des Systems", ebenfalls pessimistisch, nämlich eines System, in dem politische Entscheidungen von betriebswirtschaftliche Kriterien - in gar nicht so seltenen Fälle schlicht die Kapitalrendite - abhängen. (Das ist übrigens nicht nur eine Schwäche eines Kapitalismus, in dem faktisch die "freie Marktwirtschaft" nicht existiert, geschweige denn eine wirksame Kontrolle der monopolartigen "Marktbeherrscher" durch die Öffentlichkeit, sondern war auch eine des "real existierenden Sozialismus", in dem der Staat als Monopolist auftrat.)
Einem Denkfehler, den ich für fatal halte, unterliegt auch Welzer - der "Askesefalle". Wir - jetzt gesprochen für die großen Mehrheit der Menschen in den Industriestaaten - müssten, im Falle eines "Umbaus" auf rein regenerative Energieversorgung, auf wenig "verzichten", sondern "nur" anders konsumieren.

Ein großes "Nur". Rudolf Maresch schriebt dazu im November letzten Jahre in Reaktionäre westlicher Länder vereinigt euch! (telepolis)
[...] Darum mag es durchaus auch viele gute und gewichtige Gründe für eine Abschaltung der Atomkraftwerke geben, die Sicherheitsfrage ebenso wie die ungeklärte Frage der Endlagerung. Doch auch die Atomkraftgegner vermögen nicht zu sagen, wie der stetig wachsende Energiebedarf, etwa für all die annoncierten E-Autos, Speicher- und Rechenkapazitäten etc. in den nächsten Jahrzehnten herkommen soll.

Mit regenerativen Energien allein, mit Energieeffizienz, der stetigen Erhöhung des Strompreises und Vakuum verpackter Gebäuden wird er jedenfalls nicht zu decken sein. Zumindest nicht der eines Exportweltmeisters, der die soziale Wohlfahrt nur auf diese Weise gewährleisten kann. So schlau und schöngerechnet sich Prognosen der Solarlobby bis ins Jahr 2050 auch geben und darstellen lassen.[...]
Ich zitiere Maresch, weil er, vielleicht unbeabsichtigt, den entscheidenden Punkt berührt: der Energiebedarf eines "Exportweltmeisters" (verallgemeinert: einer stark exportabhängigen Industriegesellschaft ohne nennenswerte Rohstoffvorkommen - wie sie z. B. auch Japan ist), bei dem die Wohlfahrt durch hohe Wachstumsraten finanziert wird (und der zunehmende Reichtum einer kleine Oberschicht), dürfte damit nicht zu decken sein. Nebenbei macht er den Fehler vom heutigen Stand der Technik auszugehen. Das ist jetzt kein "Glaube an den Fortschritt" meinerseits, sondern ergibt sich aus der Kenntnis sich bereits in der Entwicklung befindlicher Technologien, auch wenn nicht alle die "Marktreife" erreichen werden.

Prognose wie diese: Wissenschaftler zeigen, wie eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien möglich ist sind nur dann "schöngerechnet", wenn die Bedarfsstrukturen in Zukunft die selben sind, wie heute.
"Bedarf" ist, im Sinne der Ökonomie, ein mit Kaufkraft versehenes Bedürfnis, ein "nachfragewirksames" Bedürfnis. Jemand, der von ALG II leben muss, hat folglich weniger Bedarf als ein gut verdienender leitender Angestellter, auch wenn er oder sie vielleicht die selben Bedürfnisse hat. Dem ALG II- Empfänger wird sogar vorgeschrieben, wie hoch sein / ihr Bedarf sein darf, damit er die ihm (oder ihr) zugestandenen Bedürfnisse erfüllen kann.

Als Beispiel nehmen wir das Bedürfnis nach Mobilität. Gehe ich zu Fuß oder benutze das Fahrrad, kann ich dieses Bedürfnis mit extrem wenig Energieeinsatz befriedigen - um den Preis einer sehr geringen Reisegeschwindigkeit. Oder noch deutlicher: Fahre ich mit dem Segelschiff, dann ist eine Reise auf die Kanarischen Inseln mit 100 % regenerativer Energieversorgung kein Problem. Die Problem bei der Mobilität ergeben sich im Falle der Kanarenreise daraus, dass der Jahresurlaub für diese sicherlich interessante und erholsame Form des Reisens nicht ausreicht.
Beim Auto ist das noch deutlicher. Ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem würde die meisten Autofahrten überflüssig machen - in vielen Fällen sogar mit kürzeren Reisezeiten. Hier spielen weitere Bedürfnisse eine Rolle, die nach Komfort und - bei Auto nach wie vor wichtig - nach Prestige. (Der Faktor "Prestige" dürfte auch bei vielen Geschäftsreisen entscheidend sein.)

Aus der Perspektive der wirklich Armen kann der Umbau der Ökonomie auf eine ausschließlich mit erneuerbaren Energiequellen betriebenen "Kreislaufwirtschaft" sogar erheblich mehr an Lebensstandard bringen. Aber unser Wirtschaftssystem würde, wie
Manfred Max-Nee zurecht sagt, ohne Armut (womit er vor allem die Armut in sog. Schwellenländern meint) sofort kollabieren. In seinem Interview für die "taz" skizziert er eine Gegenbewegung:Wer überlebt, kann nicht dumm sein. Auch er drückt aus, dass die Verbindung zwischen Lebensstandard ("Wie viele meiner Bedürfnisse werden befriedigt?") und Umfang des Konsums falsch ist:
Wird in den reichen Ländern der Lebensstandard sinken?

Im Gegenteil, unser Lebensstandard wird besser sein. Warum brauchen wir mehr und mehr Konsum? Jeder sollte mal eine Liste machen mit den Dingen, die er wirklich braucht - und denen, die im Grunde überflüssig sind. Welche Liste wird wohl länger sein?
Das ist, so formuliert, fast eine Binsenwahrheit. Warum aber wird sie nicht erkannt?
Meiner Ansicht nach hat das sehr viel mit unserer geistige (und geistlichen) Kultur zu tun.
In unser Bewusstsein hat sich die Vermutung eingeschrieben, dass es immer nur zwei Möglichkeiten gäbe, eine richtige und eine falsche. (Dualistisches Denken, angefangen bei Platon und Aristoteles, von Augustinus vergröbert und verallgemeinert, in dieser Form seit der geistige Vorherrschaft der auf augustinäischem Denken aufbauenden katholischen Kirche im Mittelalter für das "abendländische Denken" charakteristisch, trotz Aufklärung). Der Kapitalismus ist, gemäß diesem Schwarzweißdenken, trotzt aller Fehler alternativlos, weil der Sozialismus versagt hätte. Weitere Möglichkeiten "dazwischen", "darüber hinaus" oder "daneben" sind nicht vorgesehen.
Die zweite Denkfalle entstand gerade während der Aufklärung. Es ergibt sich aus der damals geboren Vorstellung, dass jede Regel unversalierbar sein müsse, also immer und überall gälte. Besonders bei Kant kommt ein starker Rigorismus der Moral dazu: moralisches Verhalten duldet keine Ausnahmen. Kommt das von der katholischen Kirche übernommen dualistische "entweder-oder" Weltbild und die protestantische Pflicht-Ethik (die auch Kant stark prägte), dann ergibt sich daraus, dass freiwilliger Verzicht als "totale Entsagung", als Askese, verstanden wird.
Da außerdem aus ideologischem Denken die ökonomischen Grundlagen gesamtgesellschaftlich gesehen "unvernünftiger", aber im Sinne einer "instrumentellen Vernunft" (zweckrationaler) Entscheidungen verkannt werden, erscheinen die "Kollateralschäden" zweckrationaler Entscheidungen (etwa der, Koste es was es wolle, eine gute Zwischenbilanz zu erreichen, weil der gute Managerjob und die Prämie davon abhängen) als "menschliche Schwächen", und Habgier, "dummer" Konsum und Verdrängung von Risiken als anthropologische Konstanten. (Die "Erbsündelehre" verstärkt dieses fatalistische Denken sogar noch.) Es gibt sicherlich egoistische Manager, aber wir leben in einer Welt, in der sich Nicht-Egoisten nicht auf Managerposten halten können: das Problem liegt in der Struktur, und Manager gehen, Strukturen bleiben. In der Politik stimmt es zwar, dass Macht korrumpiert, aber die bestehenden Strukturen, etwa in den Parteien, verhindern, dass Menschen, die nicht korrumpierbar sind, überhaupt politische Karriere machen.

All dies führt dazu, dass sich viele eine "ökologisch nachhaltige" Gesellschaft gar nicht ohne erheblichen Druck auf die Einzelmenschen, die ja gut leben wollen, vorstellen können.
Oder anders gesagt, hat diese "grüne" Gesellschaft den Charakter eines Umerziehungslagers. "Öko-Diktatur" mit erzwungener Askese als "einzige Hoffnung" oder - häufiger - als Schreckgespenst.

Es geht anders, ich denke sogar, es wird anders gehen. Kein "Utopia", denn gerade utopisches Denken führt zur Diktatur und neuer Ungerechtigkeit, weil die Wirklichkeit da draußen sich nicht um unsere Pläne schert. Kein "idealer Endzustand", denn Wandel gibt es ständig. Eine "schmuddelige", konfliktreiche - soll es doch, solange die Konflikte nicht mit Waffen ausgetragen werden - dezentrale Welt, geprägt vom sich ständig pragmatisch durchwursteln. Kein "Einklang mit der Natur" (sowieso illusorisch, da es ein "ökologische Gleichgewicht" im Sinne perfekter Balance sowieso nicht gibt), sondern ein nachhaltiges Wirtschaften.
Nicht für jeden eine bessere Welt. Aber ein Welt, in der die Mehrheit besser leben kann, als jetzt.

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