Dienstag, 28. Juni 2011

Musik, Kunst und Kunsthonig

Mit Musik ist es so wie mit jeder anderen Kunst:
Wer, wie es so schön heißt, sich nicht genauer auf Musik "einlässt", wie es auf Formatradioreichweitenroptimiererdeutsch heißt, "temporärer Nutzer" ist, Musik also "nur so im Hintergrund" hört, dem werden nur wenige Stücke spontan gefallen.

Man muss kein Musikpsychologe sein, um voraussagen zu können, welche Musikstücke Hörern, die Musik nur als angenehme Geräuschtapete einsetzen, gefallen wird: sie muss eingängig, "leicht verständlich" sein - und vor allem: sie darf nicht stören, nicht irritieren.
Die hahnebüchene und verlogene Kunstauffassung der Nazis, die - ziemlich willkürlich - Kunstwerke für "entartet" erklärten, fand nicht deshalb so breite Zustimmung, weil so wenige die moderne Kunst "verstanden", sondern weil viele der modernen Künstler irritierten. Die Gemälde von Otto Dix wurden sehr wohl verstanden, ebenso die Surrealisten, und um von Picassos "Guernica" irritiert zu sein, muss man nicht Kunst studiert haben. Aber es ist für viele Menschen beruhigend, wenn das, was sie verstört, zu den Produkten von Geisteskranken, Pfuschern, Scharlatanen oder "Undeutschen" erklärt werden. Das Weltbild stimmt wieder, und das, was "schön" ist, was, wie Erich Kästner in Bezug auf Literatur meinte, "taugt, den Feierabend zu tapezieren", ist wieder die einzig wahre Kunst.
Dass in Nazideutschland auch Künstler verfolgt und ausgegrenzt wurden, die sehr populär und keineswegs verstörend waren, muss nicht dagegen sprechen. Auch Jazz und Swingmusik, alias "entartete Negermusik", war populär und verstörte ihre Hörer nicht. Aber sie passte nicht ins ideologische Raster. Der Mechanismus "Kunst, die Dich irritiert, ist in Wirklichkeit gar keine Kunst" war allerdings, vermute ich, der "Aufhänger", der die propagandistischen Verleumdungen über modernen Kunst oder über Jazzmusik plausibel machte - "die haben ja recht, und wenn sie da recht haben, wird das andere wohl auch stimmen".
Der Kunstbetrieb im "real existierenden Sozialismus" lief völlig anders ab als bei den Nazis, es wurden auch andere Ideale gefördert und gefördert, aber die Aversion gegen Kunst, die irritiert, wurde auch hier, vor allem natürlich unter Stalin, bedient, um propagandistische Behauptungen über "degenerierte bürgerliche Künstler", über "Formalisten", plausibel erscheinen zu lassen.
Ende des Exkurses. Ich will das Formatradio nicht mit den Nazis, und diese wiederum nicht mit Stalin gleichsetzen. "Dudelfunk" will keine Propagandabotschaft verkaufen, sondern Werbeminuten, mit denen wiederum Waren und Dienstleistungen verkauft werden. Und die Musik in solchen Programmen ist auch selbst wieder eine "Ware", die verkauft werden soll. Was ja an und für sich nichts Schlimmes ist. Schlimm ist allerdings die künstlerische Mut- und Entscheidungslosigkeit, die aus dem Bestreben resultiert, ja keinen Hörer zu verstören. Musik wie Kunsthonig (das Zeugs, dass korrekterweise "Invertzucker" genannt wird und seit einiger Zeit auch nur so genannt werden darf) - süß, energieliefernd (sogar zu viel), aber ohne weiteren Nährwert und ohne Aroma.

Also: Je eingängiger und je weniger "störend", desto besser. Das ist dann das was wir gemeinhin als "Mainstream" bezeichnen. Nicht unbedingt schlecht, oft gut gemacht, aber - mit weniger Ausnahmen - eher belanglos.
Es gibt Ausnahmen, bei denen auch Menschen, die sich eher von Musik berieseln lassen, als Musik zu hören, ein nicht im Windkanal der Marktforschung stromlinienförmig gestyltes, nicht auf "Gefälligkeit" gebürstetes, Lied oder Instrumentalstück spontan richtig gut gefällt.
Das können gewisse Stücke und Stilrichtungen dar, die gerade in eine persoenliche Phase des Hörer passen. Mit Kummer und Schwermut im Bauch hat mancher nicht nur den Blues gehabt, sondern auch die Musikrichtung Blues für sich entdeckt.
Es kann auch etwas sein, was man in einem speziellen Zusammenhang das erste Mal gehört hat - zum Beispiel Latino-Pop im Urlaub, oder eine Oper bei einem "gesellschaftlichem Anlass". Die Musik weckt angenehme Erinnerungen, darum hört man sie gerne, auch wenn sie nicht ins "Stromlinien-Schema" passt.
Umgekehrt mögen viele keinen Easy-Listening-Jazz hören, obwohl es kaum eine "ohrenschmeichelndere Musikgattung gibt, weil sie damit "Fahrstuhlmusik" oder "Kaufhausgedudel" assoziieren. Wagner-Hasser hassen, jedenfalls habe ich den Eindruck, oft nicht Wagners Musik, sondern das, wofür Wagner steht oder stehen könnte. Und ich fand lange Zeit keine Zugang zur Volksmusik, weil sie mich zu sehr an das Volksmusik-Zerrbild des "Musikantenstadls" usw. erinnerte.
Musik, die "eigentlich" nicht eingängig ist, kann gefallen, wenn sie gerade zu irgendeiner "Szene" passt, der man angehört. Wer Punker ist, wird auch Punkrock mögen, auch wenn die sperrigen Texte und die ungeschliffene und kantige Musik die selben Menschen, als sie noch keine Punker waren, eher abschreckte.
Übliches Phänomen, gerade bei Jugendlichen: man findet das gut, was sonst gerade alle Freunde gut finden.

Was alle Musikrichtungen jenseits des "Mainstreams" gemeinsam haben, von Musik der Renaissance-Zeit bis Black Metal, ist, dass erst die gar nicht einmal intensive, aber anhaltende Beschäftigung damit dazu führt (oder führen kann, es ist kein Automatismus), diese Musik zu "verstehen". Ich könnte mir vorstellen, dass Menschen, die sich in sehr viele Musikrichtungen aus unterschiedlichsten Kulturen "eingehört" haben, sich gar nicht mehr durch ungewohnte Klänge irritiert und zum "Abschalten" oder "Weghören" veranlasst sehen. Eine erworbene Vorurteilslosigkeit, die den Weg für echte Qualitätsurteile öffnet.

Das gilt natürlich auch für Literatur, bildende Kunst, Architektur, Mode usw. .

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