Mittwoch, 16. März 2011

Warum sind wir dumm?



Das geht über den konkreten Fall "Atomenergie" hinaus. Warum bin ich (und sind andere) dergestalt manipulierbar, dass wir uns gegen eigene, vitale Interessen entscheiden?

Einen Teil der Antwort gibt der kleine Spot schon selbst: "Meinungsmache - aufgebaut auf sorgsamer Beobachtung der Zielgruppe - funktioniert!"
Wie sie funktioniert, hat Albrecht Müller in seinem sehr empfehlenswerten Buch Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen dargestellt.
Wie die Meinungsmache "kontra Ausstieg" vielleicht im Fall der Fuskushima-Katastrophe und des Atomausstiegs aussehen könnte, beschreibt "Susanne" in ihrem Kommentar zu Claudia Klingers Blogbeitrag Moratorium: Beruhigungspille und Entlarvung vieler Lügen. Ob es so kommt, wie "Susanne" befürchtet, hängt weniger davon ab, welche und wie große Medienkampagnen usw. der Klüngel aus (Partei-)Politik und Energieoligopolisten fahren wird, sondern von den Reaktionen des Volkes, von unseren Reaktionen.
Meinungsmache erklärt nur die Hälfte des Problems, denn wie in der Produktwerbung muss die Zielgruppe zu "packen" sein, es muss potenzielle "Kunden" geben, die den Manipulatoren ihre Botschaft "abkaufen", propagandistisches Dünnblech für "bare Münze" nehmen.

Ich könnte jetzt, wie Burks es tut einfach sagen:
Die breite Masse denkt nicht rational, sondern instinktiv wie ein Tier. Argumente zählen nicht. Man kann sie in jede Richtung manipulieren, vor allem in Deutschland mit seiner obrigkeitshörigen Tradition.
(Wobei sich gegen die menschliche Natur wenig, aber gegen Ausprägungen wie die deutsche obrigkeitshörige Tradition usw. Einiges tun ließe.)

Wie kommt es, dass, sozusagen in Umkehr des Prinzips der Schwarmintelligenz, hundert Menschen zusammen so viel dümmer sein können als die meisten von ihnen alleine? Wieso die "breite Masse", wie schon Adolf H. in einem Anfall von Ehrlichkeit schrieb, leichter zu belügen ist als ein halbwegs intelligenter Einzelner?

Ein Artikel aus der neusten Ausgabe des populärwissenschaftlichen Magazins "Bild der Wissenschaft" stimmt da wenig optimistisch. "Betonkopf auf dem Wendehals" ist der Artikel von Rolf Degen überschrieben, und "Neue Experimente zeigen, dass sich Menschen rasch dem Gruppendruck beugen und voller Überzeugung die Unwahrheit verbreiten. Und: wer am heftigsten lügt, wirkt am glaubwürdigsten." Letzteres stimmt übrigens in dieser allgemein gehaltenen Form nicht. Was ein Problem des Wissenschaftsjournalismus beleuchtet: Wer vereinfacht, verfälscht damit oft auch.
Nun hege ich eine gewisse Skepsis gegen sozialpsychologische Experimente, wie ich eine gewisse Skepsis gegenüber der wissenschaftsjournalistischen Aufbereitung der Ergebnisse solcher Experimente hege. Wobei "Bild der Wissenschaft" um einige Zehnerpotenzen glaubwürdiger und seriöser ist als die BILD (ohne Wissenschaft), und ich Degen für einen seriösen und sorgfältigen Wissenschaftsjournalisten halte.

Das Fazit aus dem Artikel ist:
  • Durch kollektives Schweigen können sich Außenseiterpositionen durchsetzen.
    Degen nennt das Beispiel der Alkoholprohibition in den USA, die nur deshalb 14 Jahre fortbestehen konnte, weil der einzelne Amerikaner fürchtete, mit seiner Ablehnung allein dazustehen. (Wobei meiner Ansicht nach der Effekt nicht eingetreten wäre, wenn Alkoholkonsum in der Gesellschaft der USA nicht von vornherein extrem negativ, als "unmoralisch", bewertet gewesen wäre. Z. B. konnten sich Gesetzesvorstöße zur Prohibition in Schweden nicht durchsetzen, in Dänemark war selbst das schwedischen Modell der staatlichen Alkoholkontrolle politisch nicht durchsetzbar.)
  • Unter sozialem Druck laufen viele Menschen zur Mehrheitsmeinung über. Gruppendruck wirkt, was nicht überrascht, dann besonders stark, wenn die Mehrheit heftig auf den "Abweichlern" herumhackt. Soweit ist das Allgemeinwissen für jeden, der sich für "Meinungsmache" interessiert, aber:
  • Mitläufer, die ihre Meinung geändert haben, wirken erstaunlicherweise überzeugender als Standhafte.
Es ist dieser letzte Punkt, der vielleicht erklärt, wieso wir - ich nehme mich nicht aus - uns immer wieder für "dumm" verkaufen lassen. Die wahrscheinliche Erklärung ist einfach: wer unter Gruppendruck "umkippt" und sich der Norm unterwirft, ist unsicher, versucht das zu überspielen, tritt nach außen hin besonders entschieden auf, aus der Befürchtung, dass die anderen merken könnten, dass sie sich angebiedert hätten. Unbeteiligte bemerken diese Entschiedenheit und halten die "Wendehälse" für besonders überzeugend.
So werden sie zu Vollstreckern von Normen, die keiner haben will.
Ich ergänze:
So können sie auch zu Vollstreckern von Normen werden, die nur sehr wenige haben wollen.
"Wendehälse" und Opportunisten sind also für jeden "Meinungsmacher" attraktiv - es ist erst einmal wichtig, möglichst breite, wenn auch vielleicht nur oberflächliche oder sogar gespielte Zustimmung zu erzielen - der "Rest" fällt dann auch noch um, bis auf ganz wenige, die dann als "halsstarriger Querulanten" ausgegrenzt werden. "Falsche" Überzeugung kann also "echte" Überzeugung nach sich ziehen.

Nicht ganz neu, aber aufs Neue bestätigt, ist die Einsicht, dass die Manipulierbarkeit durch Gruppendruck nicht von Einstellungen wie "besonders rebellisch" oder "besonders mitfühlend" und auch nicht von Glaube, Bildungsniveau oder politischer Einstellung abhängt. (Das ist keine Entschuldigung für die "deutsche Obrigkeitshörigkeit", könnte aber erklären, wie sie überhaupt zur "Tradition" werden konnte, und wieso sie sich von "rechts" bis "links" in allen politischen Lagern findet.)
Da sie um die Stärke des Gruppendrucks wissen, operieren Meinungsmacher gerne mit (ruhig einmal fingierten) Umfrageergebnissen. ("80% Zustimmung zu Karl-Theodor zu Guttenberg!")

Warum wir "Herdentiere" sind, erklärt sich zwanglos daraus, dass unsere Vorfahren in Herden bzw. größeren Gruppen lebende Primaten waren. Auch in der bereits menschlichen Geschichte war es oft so, dass unsere Vorfahren oft in Gruppen steckten, die auf Gedeih und Verderb auf die Loyalität jedes einzelnen Gruppenmitgliedes angewiesen waren. Umgekehrt konnte kaum jemand auf Dauer außerhalb der Gemeinschaft überleben. Die Furcht, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, sitzt uns tief im limbischen System.
Das heißt aber noch lange nicht, dass Meinungsmacher uns beliebig in den Händen hätten!

Die Psychologin Linda SKita von der University of Minesota konstatiert, dass nur Menschen, bei denen gewisse Themen moralisch stark besetzt sind, dem Gruppendruck widerständen. Das erklärt die Standhaftigkeit von Umweltschützern, aber auch die von religiösen Fundamentalisten.
Wer der festen Überzeugung ist, dass etwas richtig oder falsch ist, dass etwas "so sein muss" oder "so nicht sein darf", bleibt trotz widerstrebender Mehrheit seinen Überzeugungen treu.
(Was unter politisch-praktischen Gesichtspunkten leider auch heißen kann, dass sich Fanatiker gegen "Normale" durchsetzen oder wenigstens mit ihrem Fanatismus durchkommen.)

Folgt man dem Psychologen Dale T. Miller, dann tolerieren Menschen ungerechte soziale Bedingungen, dulden schlechte Entscheidungen und unterlassen das Drängen auf Reformen, weil sie annehmen, dass die Mehrheit ihre Meinung nicht teilt, und weil sie glauben, dass die Enthüllung der Wahrheit ihnen außer Beschämung nichts bringen wird.

Daher ist der erste Schritt aus der selbst verschuldeten Dummheit die Frage: "Weiß ich überhaupt, was die Mehrheit wirklich denkt?"

Es meiner Ansicht nach keine schlechte Idee, wie Miller vorschlägt, zu versuchen, im Einklang mit unseren privaten Ansichten zu handeln und auch nach außen zu unseren Gefühlen zu stehen.
Wer zu einer Gruppe gehört, sollte sich als "Advocatus Diaboli" betätigen und Gegenargumente ausloten. Personen, die übereifrig auf die Parteilinie pochen und sich vor Zweifeln abschotten, sollten unsere Alarmanlagen schrillen lassen.

Das hilft alles nicht immer im Kampf gegen die "kollektive Dummheit" (die manchmal, das darf man auch nicht übersehen, auch "kollektive Weisheit" sein kann). Aber es ist ganz hilfreich, wenn man uns für dumm verkaufen will.

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