Mittwoch, 8. Dezember 2010

Wunschzettel aus meiner Kindheit - oder: Ende einer Illusion

Meine Eltern bewahren einige Andenken aus meiner Kindheit auf. Es ist schon faszinierend, Schreibhefte aus meiner Grundschulzeit zu lesen - ich muss sehr schnell lesen und schreiben gelernt haben, allerdings mit starkem Hang zur eigenwilligen Rechtschreibung und noch eigenwilligerer Grammatik (was sich angeblich bis heute gehalten hat).
Noch aufschlussreicher ist ein Wunschzettel, den ich als Siebenjähriger mehr gemalt als geschrieben hatte. An den Weihnachtsmann glaubte ich nicht mehr, der Brief war an meine Eltern gerichtet.
Auch ich liebe die Illusion, als Kind wäre ich irgendwie unverdorben gewesen, die Idee der "unschuldigen Kinder" und der "kindlichen Naivität" spukt auch in meinem Kopf.

Auf dem Wunschzettel stand unter anderem der Wunsch nach einer weiteren Lok für meine Modelleisenbahn. Modellbahn war prima, weil damit auch mein Vater gerne spielte. Neben den gemeinsamen Angelausflügen war das so ziemlich die einzige Gelegenheit, bei der ich etwas gemeinsam mit Papi machte. Ich beneidete andere Kinder um ihre Väter, die so viel mehr gemeinsam mit ihren Kindern unternahmen. Es gab aber, das wusste ich, auch Schulkameraden, deren Väter sich überhaupt nicht um ihre Kinder scherten, solange sie nicht störten.
Etwas überraschend ist der Wunsch nach einem Pfandbrief. Als Grundschüler wollte ich gerne Pfandbriefe haben. Wie kam ich auf diesen für einen Siebenjährigen doch überraschend kapitalistischen Wunsch?

Ende der 1960er Jahre gab es eine mehrere Jahre laufende aufwendige Werbekampagne der Banken und Sparkassen für Pfandbriefe und Kommunalobligationen: "Das Huhn, das goldene Eier legt".
Ich hatte schon ein Taschengeldsparbuch, und wusste, dass es da auf Geld Zinsen gab, weshalb meine Spargroschen nicht da nicht nur sicherer untergebracht waren, als im Sparschwein, sondern sich auch noch ein klein wenig vermehrten. Ein faszinierendes Konzept: die Erwachsenen erzählten alle, dass sie für Geld arbeiten müssten, aber offensichtlich gab es noch eine andere, gar nicht anstrengende, Methode zu Geld zu kommen. Aus der Perspektive eines nicht unnötig fleißigen Grundschülers eine ungeheuerliche Erkenntnis. Wenn auch die Zinsen auf das Taschengeld-Konto, wie auch ich fand, furchtbar kläglich waren. Gerade mal ein Fruchteisbecher pro Jahr. (Ich neigte dazu, mein Taschengeld in Speiseeis umzurechnen.)
Aber - da gab es noch Pfandbriefe, da in der Werbung. Ein Zitat aus einer Werbeanzeige, anno 1970:
Das Huhn, das goldene Eier legt, ist der Pfandbrief, der hohe Zinsen bringt. Wenn Sie für die Zinsen wieder Pfandbriefe kaufen, arbeiten bald viele Pfandbriefe für Sie. Produzieren ein mehrstelliges Vermögen.
Das klang schon ganz anders als so ein Taschengeld-Konto. Man konnte also Geld für sich arbeiten lassen. Super Sache! Da mich meine Eltern und Großeltern zur Sparsamkeit erzogen (man kann sogar sagen: faktisch erzogen sie mich systematisch zur Geldgier, eher ungeplant übrigens), erschien mir ein Pfandbrief ganz im Sinne meiner Eltern zu sein.
Ich bekam die Lok, aber nicht den Pfandbrief. Für beides, erklärte mein Vater, war eben nicht genug Geld da, das ja auch irgendwie verdient werden musste. Ich vermute, dass meinen Vater die "E 41" von Märklin (Spur H0, aufwendige Druckguss-Ausführung) einfach mehr reizte als so ein schnödes Papier.

Der der Kampagne zugrunde stehende Mythos wurde zu dieser Zeit übrigens schon kräftig demontiert:
(...) Denn an den Pfandbriefen, die Westdeutschlands Hypothekenbanken Kleinsparern als legefreudiges Federvieh seit Jahren empfehlen, verdienten bisher fast nur Großbanken und Versicherungen. In den vergangenen Jahren verkauften die privaten und öffentlichen Real-Kreditinstitute dank einer aufwendigen Werbung ("Das Huhn, das goldene Eier legt" und "Hast Du was, bist Du was") Pfandbriefe für insgesamt 48 Milliarden Mark. (...)
Richtiges Nest ("Spiegel"-Artikel zur Pfandbriefreform vom 07.09.1970).

Ich glaubte nicht mehr an den Weihnachtsmann. Den "herrlich naiven" Kinderglauben hatte ich schon im Grundschulalter abgelegt. Aber aus meinem Wunschzettel sprach der naive, von der Werbung der Banken genährte, "Erwachsenenglauben", dass Geld arbeiten könne.

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