Mittwoch, 3. November 2010

Beitrag zu einem Langzeitprojekt (1)

Es geht um ein "Langzeitprojekt" der "Nornirs Ætt", über dessen Einzelheiten, vor allem spiritueller Art, ich mich nicht öffentlich auslassen möchte. Wichtig ist an dieser Stelle eine meiner Ansicht nach notwendige Voraussetzung für das Ziel dieses Projektes: Es kann nur dann Gelingen, wenn die Denkstrukturen, die - unter anderem - die Nazi-Diktatur hervorgebracht haben, gebrochen sind.

Einer dieser Denkstrukturen oder besser Denkgewohnheiten, ist der Glaube an "den Staat" - hier: ganz konkret an die "Vergöttlichung" des Staates in Deutschland.
Wir müssen endlich Schluß machen mit dem alten deutschen Irrglauben, der Staat sei ein höheres Wesen, dem man sich blind anvertrauen dürfe.
Harro Schulze-Boysen, deutscher Offizier, Publizist und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, hingerichtet am 22. Dezember 1942

Xenophobie, Rassismus, "Leitkulturdebatten", Nationalismus, Antisemitismus, Homophobie, Hetze auf Minderheiten, Verachtung "sozial Abgehängter", Hass gegenüber "Außenseitern" usw. gab und gibt es leider so ziemlich überall. Dass es einen "deutschen Sonderweg" gäbe, der quasi zwangsläufig das aggressiv-imperialistische wilhelminische Deutschland und später mit Nazi-Deutschland das verbrecherischte Staatswesen der Weltgeschichte hervorbrachte, glaube ich immer weniger. Erst einmal, weil es in der Geschichte keine Zwangsläufigkeiten gibt - Brecht hatte Recht, als er seine Parabel auf Hitlers Aufstieg zur Macht Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui nannte. Die Nazis haben nicht die "Macht ergriffen", sie wurde ihnen vom deutschnationalen und konservativen Lager angetragen - aus Kalkül. Bis Ende Januar 1933 wäre die Nazidiktatur recht einfach aufzuhalten gewesen. Und die Weimarer Republik hat sich mit der Zustimmung fast aller Parteien selbst entmachtet.

Der zweite Grund ist der, dass es zwar viele Strukturen in der deutschen Gesellschaft gab, die den "Griff nach der Weltmacht" (1. Weltkrieg) und den Vernichtungskrieg Nazideutschlands begünstigten, aber eine "Kausalkette", die sozusagen von der "verspäteten Nation" über die bismarksche Reichsgründung zum 1. und 2. Weltkrieg und den Gaskammern von Auschwitz reichen würde, ist erkennbar "post festum" konstruiert. Ähnlich ist es mit dem "deutschen Nationalcharakter", den einige (auch deutsche) Schreiber schon bei den Kimbern und Teutonen festmachen wollen.

Es gibt aber tatsächlich deutsche Eigenarten, Denkgewohnheiten, die Diktatur und Machtmissbrauch sehr entgegen kommen. Eine seltsame, und auch heute noch (oder wieder) politisch wirksame deutsche Kontinuität liegt z. B. in der Überschätzung der eigenen Macht und der eigenen Möglichkeiten.
Die von Schulze-Boysen angesprochene "Vergottung" des Staates gehört für mich ohne Zweifel ebenfalls dazu.
Er hat leider immer noch recht.

Hinsichtlich anderer deutscher Denkstrukturen, etwa der Obrigkeitsgläubigkeit, hat sich seit Schulze-Boysens Tagen vieles zum Besseren gewandelt. Die quasi-religiöse Überhöhung des Staates - die auch beim wirtschaftsliberalen "Standortnationalismus" spürbar ist, nicht. Wenn von Standortnationalisten ein "schlanker Staat" gefordert wird, dann ist damit meiner Auffassung nach ein Staatswesen gemeint, dass auf maximale Effizienz getrimmt ist und dessen Zweck es ist, einer
Wesenheit namens "die Deutsche Wirtschaft" optimale Bedingen zu geben. (Natürlich ist "die Deutsche Wirtschaft" ein willkürliches ideologisches Konstrukt, das einerseits handfeste Eigeninteressen "metaphysisch" überhöht, anderseits Konflikte zwischen Interessengruppen - etwa den zwischen Großkonzernen und "Mittelstand" - verschleiert.) Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen "dem Volksganzen" der Völkischen, dem "Nationalstaat", wie ihn klassische Nationalisten vergöttern, der "deutschen Wirtschaft" einer Richtung, für die ich die historische Bezeichnung nationalliberal für treffend halte, oder auch dem Staatsbegriff der "Kasernenhofkommunisten", wie er einst in der DDR und heute noch in vielen Köpfen Linker und "Linker" steckt, ist, bei allen Unterschieden im Detail, kaum zu übersehen. Der "Staat" als Selbstzweck und zugleich höchste weltliche Autorität steckt uns Deutschen noch in den Knochen.

Erst wenn Schulze-Boysen nicht mehr Recht haben wird; wenn die deutsche Regulierungswut und ausgeprägte Paragraphengläubigkeit genau so Vergangenheit seien werden, wie "Leitkulturturdebatten" und öffentlich geschürte Verhöhnung der Verlierer, dann wird die Vergötterung des Staates, die den Untergang Nazideutschlands so mühelos überstand, beendet sein.

Meiner Ansicht nach geht die deutsche Staatsgläubigkeit zum Teil auf Luther und die Reformation zurück, sicherlich auch auf das "preußische Gesellschaftsverständnis" seit Friedrich II. und die - romantisch überhöhte - Sehnsucht nach einem (noch nicht existierenden) mächtigen deutschen Nationalstaat in der Zeit zwischen den "Befreiungskriegen" und bismarkscher Reichsgründung. Diese Reichsgründung mit Gewalt ("Eisen und Blut") und List - und die damit verbundenen "Revolution von oben" - dürfte einer der wichtigsten Faktoren bei der Herausbildung des "typisch deutschen" Staatsverständnisses sein.

Ein wichtiger Faktor für die "Vergötterung des Staates" ist das eigentümliche Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland. Einerseits gibt es keine Staatskirche, anderseits sind Staat und Kirche nicht, wie in westlichen Demokratien üblich, deutlich getrennt. Die großen Kirchen spielen die seltsame Rolle einer "offiziellen moralischen Anstalt", in der politischen Praxis werden bei schwierigen ethischen Fragen gern kirchliche Organisationen quasi als "Fachbehörden" herangezogen. (Beispiel: das Embryonenschutzgesetz von 1990, in dem sich die römisch-katholische Auffassung, dass bereits die befruchtete Eizelle ein menschliches Individuum sei, durchsetzte.) Es ist fast so etwas wie ein Tauschgeschäft: die Kirchen "liefern" klare Wegweisungen und Grenzziehungen, mit den Vorteil, dass sie, jedenfalls für gläubige Christen, aus berufenem Munde kommen, und in ewigen Werten und Wahrheiten verankert sind. Als Gegenleistung für diesen politisch nützlichen Dienst erhalten die "Amtskirchen" Privilegien, die für einen Staat ohne offizielle Staatsreligion einmalig sein dürften. Die moralische Legitimation durch die Religion dürfte "göttliche" Stellung "des Staates" im deutschen Denken jedenfalls stärken.

Kein Wunder also, dass die Pfarrerstochter Angela Merkel unter großem Beifall auf der CDU-Regionalkonferenz in Berlin-Brandenburg sagte, dass wer sich nicht am christlichen Menschenbild orientiere, fehl am Platz sei. (Siehe Eigene Identität statt "Multikulti-eiapopeia" (Tagesspiegel.de).) Bei einem Treffen mit Vertretern der "Deutschen Evangelischen Allianz" (DEA) stellte Kanzlerin Merkel klar, dass sie nicht den Islam fürchte, sondern sich Sorgen um den nachlassenden christlichen Glauben in Deutschland mache.
Die Logik ist, aus Sicht einer CDU-Politikerin, nachvollziehbar: Es ist ja durchaus denkbar, islamische Organisationen nach dem Vorbild der Kirchen in das Legitimationssystem des "deutschen Staates" einzubauen. Umgekehrt liegt der Verdacht nahe, dass viele Menschen, die aus den großen etablierten Kirchen austreten, sich gar nicht von der Religion, sondern von den Amtskirchen als "Religionsbehörden" verabschieden - der anhaltende Boom der "Freikirchen" und der "neuen religiöse Bewegungen" spräche dafür.
Aber auch die "echt nichtreligiösen" Menschen unter den Konfessionsfreien sind für das "traditionelle" deutsche System der moralischen Legitimation politischen Handels durch Kirchenvertreter eindeutig "verloren". Vom Wirken der Kirchen sind sehr viele Menschen moralisch, politisch und ökonomisch enttäuscht. Vor allem haben die Kirchen, entgegen der moralischen Autorität, die ihnen auch von SPD-Politikern zugebilligt wird, nach 1945 keine Neubegründung der Moral geleistet - statt dessen wurden alte Moralvorstellungen wieder etabliert. Die Beiträge der Kirchen zu Demokratie und Rechtsstaat kann man mit der Lupe suchen.

In einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung (wie wir sie hoffentlich noch haben) kommt es auf die Vernunft der Politiker und auf deren Integrität, aber nicht aber deren religiöses Bekenntnis an.

Trotzdem: In gewisser Weise können die Kirchen auch meiner Ansicht nach ein Gegengewicht gegen (etwas pathetisch formuliert) moralischen Verfall sein - etwa gegen die weit verbreitete Ellenbogenmentalität und ihre ideologische Rechtfertigung, den "Sozialdarwinismus". Sie vermitteln auch Werte, die sich vom monetären Wertsystem des radikalen Kapitalismus und dem des "am Glück der Vielen" orientierten Utilitarismus deutlich - und wie ich finde, angenehm - unterscheiden. Ich verstehe unter "Werten" beispielsweise Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit - zwingend verbunden mit Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit und Rücksichtnahme. Ob die Kirchen diese Werte immer überzeugend vertreten und vermitteln, ist fraglich - aber immerhin sind sie im kirchlichen Raum noch relevant.

Aber wenn die Kirchen nur bedingt als ethische Institution taugen, und wegen ihrer Rolle in einem System der "Staatsvergottung" als Institutionen problematisch sind - wer oder was könnte die "moralische Richtschnur" für politisches Handeln liefern?
Das in der deutschen Geschichte schon praktizierte Modell, dass "der Staat" (bzw. das politische System) diese Funktion gleich miterledigt, wäre im deutschen Irrglauben, der Staat sei ein höheres Wesen, dem man sich ohne Bedenken anvertrauen könne, nur konsequent. Ein Blick in die Geschichtsbücher enthüllt die Konsequenzen dieses Denkens.

Wir wäre es mit dem Weltethos?
Ich halte es für wenig hilfreich, denn das "Projekt Weltethos" wendet sich an die (großen) Religionen der Welt und berücksichtigt Menschen, die diesen Religionen fern stehen, nur am Rande.
Ein weiteres Problem karikierte ein Freund von mir, der auf einem "Weltethos"-Kongress zu Gast war, mit den Worten "Von Weltethikern wird alles gnadenlos niedertoleriert".
Wer an einem "nicht integrierbaren" Wahrheitsanspruch festhält, schließt sich selbst aus dem Kreis der Diskussions- und Gesprächswürdigen aus. Das mag bei religiösen Fundamentalisten noch verständlich sein, aber auch z. B. Naturalisten haben einen Wahrheitsanspruch, und zwar einen, der innerhalb der großen Religionen nicht konsensfähig wäre. Selbst der (bewusst eingeschränkte und vorläufige) Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften kollidiert mit dem "Weltethos", das einerseits im Namen der Toleranz alle Wahrheitsansprüche ausschließt, andererseits eine ziemlich genaue, im interreligiösen Dialog ermittelte, Vorstellung davon hat, was das eine Wahre und Gute ist
Alles in Allem riecht mir das Weltethos mehr und mehr nach einer Neuauflage des Modells "Kirche als Fachbehörde für ethische Fragen".

Besser gefällt mir da schon ein vom Einzelnen ausgehender Ansatz, wie ihn Roland Alton in Ethify Yourself vertritt. (Auch wenn Altons Ansatz auch diesen mir nicht behagenden "Patentrezept"-Beigeschmack hat.) Dem Wertekanon aus neun Werte mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit für einen breiten Kulturkreis kann ich jedenfalls zustimmen.

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