Sonntag, 22. August 2010

1997 - Der Schritt aus der Besenkammer

Eine weitere autobiographische Episode über meinen "spirituellen Weg".
1974 - Sommer der Wandlung
1982 - Im Labyrinth der Eiszeit
1989 - "Paradigmas lost"

1997 war das Jahr, in dem ich mich zum ersten Mal öffentlich als "Neuheide" bezeichnete und zu GesinnungsgenossInnen - überwiegend "neuen Hexen" Kontakt aufnahm. Sozusagen ein "Coming out". Nach dem Klischee der auf Besen reitenden Hexen nennen amerikanische Wicca das öffentliche Bekenntnis, Hexe zu sein: "Coming out the broom closet".

1997 wird für viele Zeitgenossen als das Jahr in Erinnerung sein, in dem Princess of Wales Diana bei einem Autounfall starb. Was nüchtern betrachtet eines der unwichtigeren Ereignisse dieses Jahres war - Diana war nicht besonders schön, nicht besonders klug, nicht besonders wichtig - aber das Medienphänomen Di hatte sich schon längst von der realen, durchaus tragischen, Person gelöst.
Wichtiger für die Entwicklung der Welt seither war, dass bei den Wahlen zum britischen Unterhaus die reformierte (manche alte Sozialdemokraten sagen: deformierte) Labour Party ("New Labour") unter Tony Blair siegte. Jedenfalls zeigte seine Regierung, wie kapitalistisch und sozial rücksichtslos Sozialdemokraten sein können. Blair und seine "New Labour" war übrigens das erklärte Vorbild eines gewissen Gerhard Schröder, damals Ministerpräsident Niedersachsens.
Wichtig für die industrielle Entwicklung der "Volksrepublik" China war, dass Hongkong an China zurückgegeben wurde.
In Kyoto (Japan) fand eine internationale Klimakonferenz statt, auf der sich die Industrieländer verpflichten, ihre Treibhausgas-Emissionen zu senken. Ob das wichtig war, wird sich erst noch zeigen.
Ja, und in Deutschland regierte Helmut Kohl. Ein Ende oder eine Änderung war nicht abzusehen.
Was wirklich wichtig war: die Großmutter aller Onlinespiele, "Ultima Online", ging, na klar, online. (Gespielt habe ich das nie.) 1997 war auch das Jahr, in dem ich mir einen Internet-Zugang zulegte.

Image und Wirklichkeit passten wie bei Diana auch bei einer anderen prominenten Toten dieses Jahres nicht zusammen: bei Mutter Teresa. Sie war als Person ebenso ambivalent wie die christliche Ethik selbst.
Christopher Hitchens bezeichnete sie in seinem Buch "The Missionary Position" als "Gründerin eines Kults, der sich auf Tod und Leiden stützt". Womit er meiner Ansicht nach viel näher an der Wirklichkeit ist als ihr öffentliches Image eines selbstlosen "Engels der Armen". Immerhin scheint sie nach ihren Tagebüchern zu urteilen eine viel interessantere Persönlichkeit gewesen zu sein, als das fromme Heligenbild, dass die offizielle katholische Kirche von ihr malt. Keine Liebe, kein Glaube, eine von tiefen Zweifeln innerlich zerrissene Frau. Das Problem beim Katholizismus sehe ich darin, dass er dazu neigt, das Leid moralisch zu überhöhen und Leiden als Tugend darzustellen. In diesem Sinne verkörperte sie geradezu den Katholizismus. Mir persönlich kommt ihre Arbeit in den Slums von Kalkutta wie ein umgekehrter Mephisto vor: Sie war ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will - und stets das Böse schafft. Schon Anfang der 80er Jahre erzählte mir eine aus Kalkutta stammende Freundin, deren Vater dort Arzt war, dass die Hilfsbereitschaft ihres Ordens der "Missionarinnen der Nächstenliebe" zwar außer Frage stünde, aber dieser Orden mangels Sachkenntnis in der Krankenbetreuung und Sozialarbeit mehr Schaden als Nützen würde. Zum Beispiel sei selbst den heilbar Kranken kaum medizinische Hilfe zuteil geworden, die Zustände in den Heimen wären katastrophal gewesen. Noch vernichtender ist das, was Aroup Chatterjee, ein ehemaliger Mitarbeiter des Ordens, in seinem Buch The final verdict über Mutter Teresa schreibt: es hätte praktisch keine wirkliche Hilfstätigkeit des Ordens in Kalkutta gegeben.

Ich muss einräumen, dass unter anderem Mutter Teresa einiges dazu beigetragen hat, dass ich das Christentum als gut gemeinte, aber defekte Religion begriff, und mich ohne Scheu mit Alternativen beschäftigte. Zeitweilig fand ich das charismatische Christentum faszinierend - weil es eine der wenigen Richtung des Christentums ist, die wirklich von Spiritualität und persönlichem Glaubenserlebnis geprägt sind. Mir erscheinen die christlichen Großkirchen wie Religionsbehörden, in der herzlich wenig von "Gott", geschweige denn "Mystik" zu spüren ist. Bestenfalls leisten ihre Mitarbeiter recht gute Sozialarbeit, für die allerdings ein religiöser Überbau nicht von Nöten ist.
Nach außen hin machte ich bis 1997 auf "Agnostiker", manchmal sogar auf "Atheist" - innen war ich auf der Suche.
Apropos Suche - mir hätten damals Kriterien geholfen, anhand derer psycho-spirituelle Gruppen kritisch und differenziert betrachtet werden können: Pilzsuche im psycho-spirituellen Esoterik-Wald Als Faustregeln sind diese sechs Kriterien sehr brauchbar.

Aber wie kam ich auf die Idee, mich dem Neopaganismus zuzuwenden?
Ein Grund ist offensichtlich, dass ich es mit den "alten Göttern" und vor allem einer Göttin hatte. Aber ohne die Science Fiction- und Fantasy-Szene wären mir nicht zuerst die neue Hexerei und später Asatrú zugestoßen.

Feuerechsen
Dieses Aquarell heißt "Wunschdenken oder der Tanz der Feuerechsen". Es ist die gemalte Version einer Titelbildzeitung von Kirstin Tanger (damals noch: Scholz) für das von ihr herausgegebene Filk-Fanzines "Let's Filk about". Angesiedelt ist das Bild auf der "Drachenwelt" Pern aus Anne McCaffreys Science Fantasy-Zyklus Dragonriders of Pern. Die Flötenspielerin malte ich nach einer Zeichenpuppe und "frei nach Schnauze" - denn die Vorlage die ich gerne gehabt hätte, gab es noch nicht.

Viele Wiccas sind über The Mists of Avalon von Marion Zimmer Bradley, einem stark vom Wicca beeinflussten Roman, in dem die Arthus-Legende aus weiblicher Sicht nacherzählt wird, zum modernen Heidentum gekommen. Ich nicht, bei mir war es komplizierter.

Ich lese Science Fiction und Fantasy seitdem ich lesen kann. Allerdings stieß ich erst relativ spät zum "Fandom" - die deutsche SF-Szene schien mir eine Mischung aus eher säuerlicher Literaturkritik und Vereinsmeierei zu sein. Nach 1989 suchte ich Spaß an SF und Fantasy, Kontakt mit möglichst vielen, möglichst verschiedenen Menschen, Freunde am Selbermachen, Selbstschreiben, Weiterspinnen, Unterhaltung, Spinnerei bei Bier und Wein bis spät in die Nacht, Geselligkeit usw. - weshalb ich die "ernsthafte" SF-Szene nur am Rande berührte und mich mit Wonne in die bunte Welt eines "Star Trek"-Fanclubs stürzte. Später kam noch "Perry Rhodan" hinzu, aber auch sonst vieles, was bunt, phantastisch, abenteuerlich war. Ich hörte nicht auf anspruchsvolle SF zu lesen, aber ich fühlte mich bei den "Spinnern", Trekkies, LARPern usw. einfach wohl.
Um ein Haar wäre ich schon 1992 auf Asatrú gestoßen - genauer gesagt, stieß ich auf einem Science Fiction-Stammtisch auf zwei Asatrúar. Ich wusste aber im Groben und Ganzen über die deutsche "Heidenszene" der damaligen Zeit Bescheid. Sie war stark vom Armanen-Orden und seinem Umfeld geprägt, also deutlich "völkisch" bis braunstichig. Es gab zahlreiche "Möchtegern-Gurus", "Heidenfürsten" und ganz doll magische "Druiden", "Goden" oder "Hohepriesterinnen". Also begegnete ich den beiden Freunden der alten Göttern mit Misstrauen. (Aus heutiges Sicht: wahrscheinlich zu Unrecht.)
Nun gibt es ziemlich viele ziemlich bizarre Querverbindungen zwischen neuen Heiden / neuen Hexen und Science Fiction und Fantasy. Vor allem in der Fantasy gibt es ziemlich viele heidnische Autoren - Patricia Kenneally-Morrison, eine keltische Hexe, Marion Zimmer Bradley (bei ihr ist es allerdings umstritten - ich halte es für durchaus möglich, dass sie zugleich Wicca und auf ihre Art Christin war), Diana L. Paxson, die mit MZB zusammenarbeitete und eine der führenden Persönlichkeiten des "nicht-völkischen" Asatrú ist, Stephan Grundy, der dann doch eher zum "völkischen" Asatrú neigt, um nur Einige zu nennen. Aber auch nicht-pagane Fantasy und SF-Schreiber bedienen sich heidnischer Spiritualität - es ist kein Zufall, dass die erste neopagane Gemeinschaft, die in den USA als Kirche anerkannt wurde, die "Church of all Worlds", indirekt auf einem SF-Roman von Robert A. Heinlein beruht.
Es blieb also nicht aus, dass ich sowohl mit neuheidnischem Gedankengut wie mit echten, lebendigen neuen Hexen und Heiden in Berührung kam. Hätte ich allerdings keine entsprechende Neigung gehabt, hätte ich es ignoriert oder als Kuriosum abgetan.

Irgendwann "bastelte" ich mir, mit Hintergedanken in Richtung eines zu schreibenden Fantasy-Epos (das ich dann nie schrieb), eine "eigene" Patchwork-Religion. Ich merkte, dass ich mich immer stärker selbst "bekehrte", das heißt, meiner "Religion" für plausibel hielt. Irgendwann stolperte ich dann über Vivian Crowleys "Wicca: Die alte Religion im neuen Zeitalter" - und merkte, dass es "meine" Religion es längst gab: Sie nannte sich "Wicca". (Weniger mysteriös als es klingt, ich hatte mich bei zahlreichen Fantasy-Autoren bedient und alles verworfen, was ich für nicht plausibel hielt.)

Wenn man so will, war das SF- und Fantasy-Fandom eine mentale und personelle Vorbereitung dafür, dass ich "bekennender Neuheide" wurde.

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