Sonntag, 14. Juni 2009

Volk 1.0?

verlierer

"Verlierer des Tages" am 12.Juni.2009 war, laut BILD, Björm Böhning:
Der Sprecher der SPD-Linken, Björn Böhning (31), will den Gesetzentwurf der Großen Koalition zur Sperrung von Kinderporno-Seiten im Internet zu Fall bringen. Der Entwurf sieht vor, dass solche Websites durch Stoppschilder gekennzeichnet werden. Wer sie trotzdem aufruft, wird strafrechtlich verfolgt. Für Böhning ist das laut "Spiegel Online" nur "Alibi-Politik".

BILD meint: Stoppt Böhning!
Wer ist schon gegen Kinderporno-Gegner? (bildblog)

Offensichtlich wähnt sich BILD - mal wieder - auf der Seite der "schweigenden Mehrheit". Womit BILD, trotz Petition gegen Internetsperren und fühlbarem Gegenwind, der Bundesminsterin von der Leyen entgegenweht, leider nicht ganz unrecht haben dürfte. Bei Themen wie "Kinderpornographie" setzt nicht nur in Deutschland bei vor lauter Empörung vielen Menschen der kritische Verstand aus - sonst wären die Sperren in den skandinavischen Ländern und in Großbritannien nicht so reibungslos durchgesetzt worden.
Für Kenner der deutschen Mentalität ist die Internet-Bürgerrechtsbewegung, wie ich sie mangels eines besseren Begriffs nenne, keine Selbstverständlichkeit.

Daniel Kulla meinte 2007 in einem Kommentar für die "Jungle World" (Volk 1.0), dass Schäuble keine neue Stasi aufbauen wolle: er würde nur das verwirklichen, was sich die Deutschen wünschen.
Das ist, angesichts des Eifers, mit dem im Innen-, Wirtschafts- und Familienministerium, unterstützt u. A. von der BKA-Leitung, immer schlimmere Bedrohungen an die Wand gemalt werden, gegen die immer härter und mit immer mehr Kompetenzen für den Innenminister bzw. das ihm unterstellte BKA durchgegriffen werden muss, eine etwas überraschende Feststellung.

Andererseits: der "deutsche autoritäre Beißreflex" (nach Burks "Härter durchgreifen! Melden, durchführen und verbieten!") ist ja nicht nur in der BILD und ähnlichen Boulevardmedien (also gefühlten 90% der deutschen Medienlandschaft) und auf dem "rechten Flügel" der Unionsparteien sehr präsent. Der Eindruck, den Deutschen sei mehrheitlich "mehr Sicherheit" so viel Wert, dass sie dafür Freiheitsrechte und Privatsphäre willig opfern, oder ihnen seien Bürgerrechte einigermaßen schnuppe, solange sie "ihre Ruhe" hätten (und sie selber hätten natürlich nichts zu verbergen), ist angesichts dem, was Kulla zurecht feststellt, kaum zu zerstreuen:
Wer sich in Deutschland für das Recht auf Privatsphäre einsetzt, vertritt eine Minderheitenposition und kann sich auf keine Civil Liberties Union stützen, nicht auf libertäre Fraktionen in den Regierungsparteien oder auf eine starke Bürgerbewegung, die wie in Irland Biometrie in den Ausweisen verhindern könnte.
Es gab auch in der BRD und zwar schon lange vor "1968" Ansätze zu einer breiten Bürgerrechtsbewegung. Es darf auch nicht die Rolle der DDR-Bürgerrechtler beim Sturz des "Kasernenhof-Sozialismus" unterschätzt werden. Aber breiter Konsens wurden die Bürgerrechte in der angeblichen deutschen "Konsensgesellschaft" nicht.
Seit einigen Jahren gibt es, von beflissenen Medien unterfüttert, einen deutlichen "Rollback" der Bürger- und Menschenrechte. (Übrigens ein europaweit zu beobachtendes Phänomen.) In dieser Sichtweise stehen die "alten 68er" für Werteverfall, Gruppenegoismus, heimliche Herrschaft über gesellschaftliche Diskurs. Die "Internetrebellen" und "Piraten" von heute sind, aus dieser Perspektive, in jeder Hinsicht die Nachfahren der langhaarigen Gammler und Haschrebellen von damals: Menschen, deren Motive und Ziel "man", nicht nur in der BILD, nicht versteht oder nicht verstehen will, und denen man alles, aber nur nichts Gutes, zutraut.

Ein zweiter Punkt trägt sehr zum Eindruck des "Volkes 1.0" bei: die schnelle Resignation.

Da finde ich ein Beispiel aus einem immer noch ziemlich autoritär geprägtem Land ermutigend, Widerstand ist zweckmäßig:
Im Jahr 1950 unterzeichneten die Philippinen das Abkommen von Florenz, das den Import von Büchern aus dem Ausland jeglicher Zollgebühren enthebt. Entgegen dieses Vertrages wurden aber in den letzten Jahren Zölle auf importierte Bücher erhoben - ein nicht zu vernachlässigendes Hindernis für die Bildung der Massen. Seit Beginn dieses Jahres eskalierte die Situation. Die Buchhändler, mit massiven Verkaufsrückgängen konfrontiert, zahlten die Zollgebühren zähneknirschend. Eine "Sturzflut von Kritik und Widerstand" brachte Präsident Arroyo dazu, das Finanzministerium anzuweisen, keine Zölle mehr auf importierte Bücher zu erheben.

Ich hoffe, dass der noch lauer Gegenwind, der den regierungsamtlichen Verfassungsgegnern ins Gesicht weht, zum Sturm wird, auf dass auch hier eine Sturzflut von Kritik und Widerstand den sich abzeichnenden neuen Obrigkeitsstaat hinwegspült.

Dabei darf ein Hindernis nicht aus den Augen verloren werden:
Vielleicht täte eine Kampagne gut, die diesem Schlag von Blockwarten klarmacht, dass die Grundlage ihrer Häme darin besteht, dass niemand etwas über sie selbst herausfindet.
Also: JEDER hat etwas zu verbergen - und sei es vor den neugierigen Nachbarn, dem Chef, dem Finanzamt - oder gegebenenfalls den hartnäckigen BILD-Reportern!

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