Samstag, 6. Juni 2009

Moraltheologischer Fehlschluss

Es ist bekanntlich ein naturalistischer Fehlschluss aus einer beobachteten biologischen Tatsache, etwa der Evolution, moralische Grundsätze für das menschliche Verhalten ableiten zu wollen.

Dem umgekehrter Fehlschluss unterliegen zumeist christliche Apologeten, deren Argumentation darauf hinausläuft, die Evolutionstheorie aus "moralischen Gründen" zu diskreditieren. In der platten Form "die Evolutionstheorie widerspricht den christlichen Moralvorstellungen, also muss ein Christ sie ablehnen" findet man ihn bei Fundamentalisten - eine genaue Umkehrung des naturalistisches Fehlschlusses: was unmoralisch ist, kann es in der Natur nicht geben.

Eine Variante findet sich in einem Vortrag des früheren Pressesprechers des Vatikans, Thomas D. Williams an der Universität Witten/Herdecke.
Keine Moralpredigt.
„Hilft Religion dabei, moralischer zu leben?” Um diese Frage zu beantworten, müsse er die Unterschiede zwischen Moral bei Christen und Atheisten deutlich herausheben. Der Theologe beleuchtet zunächst die Frage nach dem Leben nach dem Tod. „Wenn der Mensch nur über seine rein biochemische Zusammensetzung definiert wird”, so Williams, „dann wäre sein Wert sehr reduziert.” Er glaube, dass alle Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, ihre Mitmenschen besser behandeln würden.
Ein extremes, aber reales Gegenbeispiel ist ein islamistisch motivierter Selbstmordattentäter, der zum einen fest damit rechnet, nachdem er sich selbst und andere in Luft gesprengt hat, ins Paradies einzugehen, und der ferner seinem Gott zumutet, dass er jene unter seinen Opfern, die es verdienen, in die Hölle wirft, aber eventuelle unschuldige Opfer ins Paradies eingehen lässt.*) Ein anderes Beispiel: "Bringt sie alle um, Gott wird die Seinen erkennen," soll 1209 der päpstliche Legat geantwortet haben, als ein Kommandeur zögerte, den Dom von Béziers anzünden zu lassen, weil sich vielleicht ja auch "Rechtgläubige" und nicht nur "böser Ketzer" (Katharer), in ihn geflüchtet hätten. In beiden Fällen ist das gegen moralische Grundsätze auch des Islam bzw. Christentum gerichtete mörderische Handeln nur durch den festen Glauben an ein Leben nach dem Tod und die ebenso feste Überzeugung, Vollstrecker des Willens ihres Gottes zu sein, möglich. Außerdem liegt das ethische Verhalten von Atheisten und Religiösen nach mehreren Studien insgesamt nahe beieinander - allerdings halten sich religöse Menschen oft für moralisch überlegen, ohne es zu sein.

In der Frage nach der Willensfreiheit und der Moral greift Williams zu einem Strohmann-Argument:
Auch an den freien Willen würden Materialisten nicht glauben. „Sie sagen, dass alle Handlungen nur Reaktionen auf äußere Umstände seien”, so der Medienfachmann. Wenn der freie Wille aber im Leben eines Menschen fehle, dann fehle auch die Möglichkeit, moralisch zu handeln. „Dann gibt es kein Gut und Böse, jeder wäre dann halt so, wie er ist.”
Die wenigsten Materialisten leugnen die Existenz des Willens, und selbst jene Hirnforscher, die bewusste Entscheidungen für empirisch widerlegt halten und das Bewusstsein für ein nachgeordnetes Phänomen, eine Illusion, halten, halten Menschen deshalb nicht automatisch für Automaten, in denen wie in einem Computer einfach ein Programm abläuft. Wie auch immer: Wenn ein freier Wille existiert, dann haben auch extreme Deterministen einen freien Willen, und wenn es keine freien Willen gibt, dann haben eben auch Gläubige keinen freien Willen. In jedem Falle - egal ob mit freiem Willen oder ohne, ob gläubig oder nicht, ist offensichtlich moralisches Handeln möglich.

Kommen wir nun zu dem Punkt, bei dem Williams ähnlich argumentiert wie Evolutionsgegner, die die Evolutionstheorie aus moralischen Gründen ablehnen. Obwohl er eigentlich kein Evolutionsgegner ist:
Die Moral des Menschen habe sich natürlich entwickelt. „So jedenfalls glauben Christen.” Aber auch in diesem Punkt macht Thomas D. Williams eklatante Unterschiede zu nichtgläubigen Menschen aus: „Bei ihnen steht die Evolution im Mittelpunkt.”. Auch die Moral sei dann das Ergebnis der Evolution. „Sie glauben, dass Gott damit nichts zu tun hätte.” Aber mit diesem Ansatz sei Moral nicht möglich.
Anders formuliert: Williams ist davon überzeugt, dass Moral nicht ohne Gott möglich sei, also kann Moral auch nicht das Ergebnis einer Evolution ohne göttlichen Eingriff sein.

Thomas D. Williams kommt zum Schluss, dass die Frage nach Glaube oder Nichtglaube keinen Einfluss auf das moralische Verhalten eines Menschen habe. Da gebe ich ihm Recht. Hingegen lügt er - anders kann ich es leider nicht nennen - wenn er behauptet:
"Werte wie Demokratie, Gleichheit und Freiheit sind biblische Werte.” Deswegen würden Christen großzügiger mit ihrem Geld und mit ihrer Zeit umgehen.
Erst einmal ist die Demokratie kein Wert, sondern ein politisches System, das erstmals von Heiden praktiziert wurde, und zwar in der attischen Demokratie. Auch die Thing-Demokratie gab es auf Island und der Isle of Man schon vor der Christianisierung. Dann stimmt es nicht, dass die Ideen der Freiheit und Gleichheit biblische Werte wären - es gab und gibt sie bekanntlich auch in Kulturen, in den die Bibel, auch indirekt, keine Einfluss hat. In der europäischen Geistesgeschichte ist es zwar tatsächlich so, dass die jüdische Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott entscheidend dazu beitrug, auch die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zu etablieren - was aber nicht bedeutet, dass die Idee, allen Menschen stünden die gleichen Rechte zu, immer und überall auf biblisches Denken zurückgeht. Anderseits darf nicht verschwiegen werden, dass eine extreme Form der Ungleichheit und Unfreiheit, nämlich die Sklaverei, in der Bibel nicht angetastet wird - es wird lediglich behauptet, dass ein Sklave vor Gott nicht weniger Wert sei, als ein Freier. Ein eindeutiges Gebot, etwa: "Du sollst keinen anderen Menschen als dein Eigentum betrachten" gibt es nicht - im Gegenteil, es gibt eine Unzahl von Vorschriften zur Behandlung von Sklaven. Das noch größer Fass der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann mache ich gar nicht erst auf.

Und dass Christen großzügiger mit ihrem Geld und mit ihrer Zeit umgingen, entspricht einfach nicht den Tatsachen. Es spricht einiges dafür, dass stark moralorientierte Menschen, dann, wenn Großzügigkeit in ihrem Wertesystem eine Tugend ist, großzügiger mit Geld und Zeit umgehen, als solche, die sich um Werte nicht scheren. Das ist aber unabhängig davon, ob jemand religiös ist oder nicht. Großzügigkeit mit Geld und Zeit ist auch auch in den meisten heidnischen Gesellschaften (genauer gesagt: in allen, die ich kenne) eine Tugend - aber längst nicht in allen Varianten des Christentums (zugegeben, im Katholizismus ist Freigiebigkeit eine Tugend).

*)Wäre ich ein Gott, würde ich dem Kerl was husten, aber gewaltig!

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