Mittwoch, 21. Januar 2009

Dicke Panikmache

Im aktuellen Heft des populärwissenschaftlichen Magazins "Bild der Wissenschaft" findet sich ein Artikel, der über den eigentlichen Inhalt hinaus interessant ist:
Dicke Kinder, dünne Daten
In der Debatte um übergewichtige Kinder herrscht, dem Artikel zufolge, viel Hysterie. Es kursieren falsche Zahlen; es gibt gar nicht so viele krankhaft übergewichtige Minderjährige, wie immer wieder behauptet wird.
Kindliches Übergewicht ist schwer zu bewerten. Deshalb lässt sich heute kaum vorhersagen, wie krank dicke Kinder als Erwachsene sein werden - womit Szenenarien, wie sie etwa Gesundheitsministerin Ulla Schmidt öffentlich vertritt, fragwürdig werden. ("Übergewichtigte Kinder sind die Diabetiker und Diabetikerinnen und Herzinfarktopfer von morgen" - Sie beziffert die Folgekosten von Fehlernährung auf rund 70 Milliarden Euro pro Jahr.)
Betrachtet man etwa die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, dann wird schnell klar, dass Alarmmeldungen wie "Jedes Dritte Kind in Deutschland ist übergewichtig" (Familienministerin Ursula von der Leyen) übertrieben sind. 15 % der deutschen Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, und 6 % adipös, also fettsüchtig. Außerdem ergibt sich aus der Studie, dass vor allem Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien und aus armen Haushalten für Übergewicht anfällig sind.
Die Abhängigkeit von sozialen Umfeld zeige, "dass Übergewicht kein Problem von einzelnen Menschen ist, die sich nicht beherrschen können", folgert Manfred Müller, Ernährungsmediziner an der Universität Kiel.
Interessant und wenig bekannt ist auch, dass zwar die Kinder in Deutschland seit den 1980er Jahren bis zur Jahrtausendwende immer dicker geworden sind, dass aber die Entwicklung seitdem stagniert und teilweise sogar rückläufig ist.

Es ist auch bekannt, welche Maßnahmen gegen kindliches Übergewicht wirklich helfen - und welche nicht. Der Stuttgarter Soziologe Michael Zwick plädiert aus der praktischen Erfahrung heraus für Gesundheitserziehung in Kindergarten und Schule, womit er aber keinen Ernährungsunterricht, in dem nur über die Gefahren ungesunden Essens aufgeklärt wird, meint. Stattdessen sollten die Kinder die Möglichkeit haben, in der Schule das Kochen zu üben. Eine wirkungsvolle Ernährungserziehung sollte unbedingt mit mehr Schulsport einhergehen.
Ein bescheidenes, aber pragmatisches Programm, um ein reales, aber nicht dramatisches Problem zu lösen.

Warum dominieren statt dessen aber Horrorzahlen und schneidig formulierte Programme die öffentliche Debatte?
Zwick ist der Ansicht, dass Politiker gerne mit überzogenen Zahlen hantieren, weil ihr Engagement nur honoriert wird, wenn es auch tatsächlich ein Problem gibt. Deutsche Verbraucherminister, aber auch EU-Minister, könnten sich sicher sein, dass Aktionen im "Kampf gegen die Fettleibigkeit" bei den Wählern gut ankommen.
"Auch Wissenschaftler können leicht dafür Forschungsgelder akquirieren, und Journalisten können sich durch dieses Top-Thema hervortun".

Wieso aber werden die schneidig formulierten Programme nur halbherzig umgesetzt? Zwick vermutet, dass Teile der Wirtschaft erheblich von der Fettleibigkeit profitieren: etwa die Diätmittelindustrie. Auch die Ernährungsindustrie, etwa die Zuckerindustrie, hat massive Interessen. Hersteller von Spielkonsolen, Kurkliniken, Hersteller von Zubehör für Übergewichtige - all diese Branchen wollen in Zukunft noch Geschäfte machen, indem sie entweder zum Zunehmen verführen oder beim Abnehmen zu helfen versuchen.
Hinzu käme, dass übermäßige Fettpolster ein Mittel der sozialen Unterscheidung geworden sind: es ist die "gute Figur", an der man Bessergestellte erkennt. Auch diese Gruppe hätte also kein Interesse daran, dass alle rank und schlank sind.
Ich sehe das ein ein klein wenig anders: es gibt das, auch von den Medien verbreitete, Klischee vom faulen, fetten Unterschichtler, der nicht nach "oben" kommt, weil er eben faul, träge und willensschwach ist. Wenn nun allgemein bekannt würde, dass Übergewicht kein Problem von einzelnen Menschen ist, die sich nicht beherrschen können, sondern sozial bedingt ist (je ärmer, desto ungesunder ernährt), dann wäre auch der Mythos vom Unterschichtler, der "selber Schuld" ist, und damit auch der vom fitten, schlanken und willensstarken Erfolgsmenschen gefährdet. (Selbstverständlich ist jede in gewisser Hinsicht für seine Ernährung selbst verantwortlich. "Verantwortlich sein" und "Schuld haben" sind zwei völlig verschiedene, aber gern absichtlich verwechselte Begriffe.)

Die Schäden haben die übergewichtigen Kinder. Sie werden stigmatisiert, gelten als dumm, faul und unsympathisch - auch bei Altersgenossen. Es ist kein gutes Zeichen, wenn gemäß der DONALD-Studie jeder dritte Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren nicht mehr mit "gesundem Appetit" isst, sondern Kalorien zählt und sich bei Tisch zügelt. Viele dieser jungen Menschen halten sich fälschlicherweise für zu dick: Magersucht als Folge politischer und medialer Aufgeregtheit über die "Fettsuchtepidemie bei Kindern".

Die Vermutung liegt nahe, dass auch bei anderen politisch oder medial hochgejazzten tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Problemen ähnliche Mechanismen am Werk sind.
Ein Problem wird hochgekocht, weil es sich für Politiker, wirtschaftliche Interessengruppen, interessierte Wissenschaftler und nicht zuletzt die Medien lohnt, es zu instrumentalisieren.
Es wird aber nicht gelöst, weil an dem Problem auch noch gut verdient wird.
Hinzu kommt - was im "Bild der Wissenschaft"-Artikel nicht weiter erläutert wird - dass die angestoßenen Präventionsprogramme, etwa gegen Fehlernährung, nicht etwa pragmatisch da ansetzen, wo sie am effektivsten Helfen (Kochunterricht in der Schule usw.), sondern grundsätzlich wird die "Schuld" auf den Einzelnen abgeladen. Bei Ernährungsprogrammen äußerst sich das in Bevormundung - etwas, was sich betroffene Eltern nachweislich ungern bieten lassen.
Wer Zweifel am Sinn der Präventionsmaßnahmen hegt, dem wird Angst gemacht. ("Die erste Generation, die vor ihren Eltern stirbt".)
Greift die Angstmache nicht, wird der Zweifler mit Hinweisen auf die Dringlichkeit des Problems zum Schweigen gebracht. Die dritte Stufe, nämlich dass der Kritiker selbst als "Gefährder" dargestellt wird, kommt beim Problem "kindliches Übergewicht" noch nicht zum Tragen. Bei anderen hochgekochten Problemen, wie dem der "Killerspiele", ist das schon gang und gebe.

Auch bei den "dicken Kindern" zeigt sich, dass präventive Logik ist expansiv ist: Wenn eine schneidig formulierte Präventionsmaßnahme nichts gefruchtet hat (vielleicht, weil sie gar nicht fruchten sollte), dann muss eben die nächste, noch drastischere Maßnahme nachgeschoben werden. Eine Vorbeugung mit konkreter Zielsetzung, wie sie im Falle "dicke Kinder" z. B. Zwick vorschlägt, wird hingegen vernachlässigt. (Es wäre ja auch zu schade, wenn sich das schöne Problem erledigen würde, und zwar ohne spektakuläre Großprogramme und Zwangsmaßnahmen, mit denen man sich so schön profilieren und ggf. so schön verdienen kann ... )

Horrorprognosen, egal, ob aus dem Bereich Gesundheit, Umwelt, Demographie, Kriminalität oder Wirtschaft, dienen, ab einem gewissen Schrecklichkeitsgrad, übrigens nicht der Aufklärung, sondern der Angstmache. Angst ist "politisch nützlich", denn wer Angst hat, wird passiv. Und ist damit gut beherrschbar.

Ein weiteres Problem ist, dass die Beschäftigung mit den hochgekochten Problemen Ressourcen bindet, die bei der Bewältigung echter Probleme, die aber nicht "in" sind, fehlen.

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