Samstag, 22. November 2008

Kinderpornoterroristen

Moderne Legenden ("urban legends")haben oft etwas Lächerliches. Eine der lächerlichsten "urban legends" der letzten Monate waren die Kinderpornoterroristen - die Behauptung, dass islamistische Terroristen geheime Botschaften in Bildern durch Steganografie verschlüsseln und zwar ausgerechnet in Kinderpornos. (Hintergrund dieser hirnverbrannten Idee bei "telepolis": Die Terroristen und die Kinderpornografie.)
Offensichtlich wurde diese Legende von Geheimdienstlern lanciert. Es ist sicherlich nicht allzu "verschwörungstheoretisch" gedacht, wenn ich annehme, dass diese Geheimdienstler ihre "Pappenheimer" kannten.

Gesetzt den Fall, jemand beabsichtigt, massiv in der Privatsphäre von möglichst vielen Bürgern herumzuschnüffeln, ist das "Argument" Kinderpornographie taktisch gesehen dem "Argument" Terrorismus überlegen. Nicht nur, dass die Wahrscheinlich, bei einer spontanen Hausdurchsuchung auf Kinderpornographie (und erst recht auf Jugendpornographie) oder zumindest etwas, was als KiPo bzw. JuPo ausgelegt werden könnte, zu stoßen, weitaus größer ist, als die, etwas zu finden, was auch nur entfernt an Terrorpläne erinnert - die Kinderpornographie ist auch psychologisch zur Panikerzeugung besser geeignet als die "abstrakte Bedrohungslage durch Terroristen".

Wie psychologisch wirksam das Stichwort Kinderpornografie ist, erkennt man daran, das es das rationale Denken in den Redaktionsräumen komplett auszuschalten vermag. Von seriöser Recherche kann bei diesem Thema selbst bei "Qualitätsmedien" nur selten die Rede sein. Fakten sind bei diesem Thema nicht gefragt - es geht um Emotionen, um berechtigte, aber auch um oft irrationale Ängste, die wiederum durch die Medien verstärkt werden.

Dabei ist es erstaunlich, was alles behauptet und offensichtlich geglaubt wird - z. B. dass kinderpornographische Bilder und Videos massenhaft im World Wide Web vertrieben würden, was offensichtlich auch unsere Frau Ministerin von der Leyen meint. Es wäre auch sehr unwahrscheinlich, weil es für die Täter extrem riskant wäre. Was das BKA schon 1998 ganz richtig sagte, stimmt immer noch: Das WWW stellt nicht das Hauptpotential für Straftaten dar. Was allerdings stimmt: das Internet (von dem das WWW nur ein Teilbereich ist) spielt beim nicht-kommerziellen Tausch von Kinderpornographie eine wichtige Rolle, wobei File Sharing, IRC und in gewissen Umfang auch noch Usenet-Gruppen benutzt werden. Ein kommerzieller Anbieter gefährdet zwangsläufig seine Anonymität durch Bezahlung. Deshalb sind die viel zitierten "Kinderporno-Ringe" fast immer reine "Amateurveranstaltungen", in denen ohne Gewinnabsicht Kinderpornos getauscht werden. Die Behauptungen, Kinderpornographie sei ein Multi-Millionen-Geschäft, sind m. E. aus der Luft gegriffen.

Um eines Klarzustellen: Es geht mir, wenn ich mich mit medialen Legenden über "Kinderpornographie im Internet" auseinandersetze, nicht um den "Missbrauch" von Kindern (in Anführung, weil der Begriff "Missbrauch" suggeriert, es gäbe einen korrekten "Gebrauch" von Kindern) bzw. wie ich es lieber formuliere, um sexualisierte Kindesmisshandlung. Und Kinderpornographie ist nichts anderes als die bildliche Darstellung sexualisierter Kindesmisshandlung. Dass ich so etwas zutiefst verabscheue, müsste ich nicht eigens betonen, wenn ich nicht Kommentare auf frühere Artikel bekommen hätte, ich würde mit der "Kinderporno-Mafia" sympatisieren.

Es geht darum, dass Abbildungen von sexualisierten Kindesmisshandlungen im "Internet" (gemeint ist meistens nur das WWW) zu finden wären. In dieser Hinsicht kann ich beruhigen: im "Internet" gibt es nicht so große Gefahren für Kinder und Jugendliche, wie gemeinhin vermutet wird. Die Chance, beim Surfen "per Zufall" auf (harte) Kinderpornographie zu stoßen, ist gleich Null.
Es gibt allerdings noch sog. "Posing"-Fotos, d. h. sexualisierte Darstellungen von Kindern "im Internet", weil die Rechtslage auf diesem Gebiet national sehr unterschiedlich ist. Da diese Bilder aber in der Regel nicht infolge sexualisierter Gewalt gegen Kinder zustande kommen, bezeichne ich sie als "weiche Kinderpornographie" - vulgo: Wichsvorlagen für Pädophile. Und dann gibt es zahllose nicht-sexualisierte Fotos nackter Kinder "im Internet" - die zwar auch unter Umstände Wichsvorlagen für Pädophile abgeben, aber das sollte kein Kriterium für die Strafbarkeit sein. Es gibt Pädophile, die sich an den Kinderwäscheseiten im Otto-Katalog und ähnlicher Werbung aufgeilen.

Das bedeutet nicht, dass die Kinderporno-Hysterie nun bei langer Zeit als völlig harmlos angesehener Werbung nicht zubeißen würde. Zumindest in den USA ist es längst so weit:
coppertone-heute
Was auffällt: das kleine Coppertone-Mädchen hat keine Gesäßfalte / "Poritze".
Zum Vergleich das gleiche Motiv vor 50 Jahren - wohlgemerkt: aus den "prüden 50ern", als es in den USA verboten war, im Fernsehen zwei Menschen in einem Bett zu zeigen, auch wenn sie angekleidet waren:
coppertone-damals
Dass das damalige Coppertone-Mädchen sehr braungebrannt ist, was dem herunter gezogenen Höschen erst seinen werblichen Wert gab ("extrem braun ohne Sonnenbrand dank Coppertone"), während das heutige eher blass wirkt, ist ein anderes Thema.

Es ist in der Soziologie schon lange bekannt, welchen Sinn Gebote und Tabus gesellschaftlich machen: Gesellschaftliche Regeln und Tabus grenzen ein, was gesagt und gedacht werden kann. Sie stärken damit Identität und Zusammenhang einer Gruppe und ritualisieren den öffentlichen Diskurs. Wer sich außerhalb des Konsens stellt, wird schnell moralisch ausgegrenzt - und eignet sich daher ideal zur Konstruktion eines Feindbildes.

Wie dieses Konsens aussieht, und was jeweils für "moralisch zutiefst verwerflich" gehalten wird, unterliegt Schwankungen. (Das "Coppertone-Mädchen" ist dafür ein gutes Beispiel.)

Im "Internet" gibt es z. B. Informationen darüber, welche Cannabis-Sorten in Holland gerade besonders günstig zu erwerben ist. In den 1970er Jahren hätte das, hätte es das "Internet für Jedermann" schon gegeben, sicherlich zu einem medialen Aufschrei geführt. Heute gibt es zwar immer noch gesellschaftliche Probleme wegen des Missbrauchs illegaler Drogen, aber die Hysterie darüber ist abgeklungen, womit z. B. eine Entdämonisierung des Hasch-Rauchens, nach 70er-Jahre-Konsens noch "der gefährlichsten Einstiegsdroge", einherging.
Die Verbindung zwischen Drogenhandel und Terrorismus wäre leicht herzustellen (in einigen Fällen ist sie sogar nachgewiesen). Dennoch spielt das Thema "Drogen im Internet" bei Initiativen für mehr Kontrolle kaum eine Rolle, weder in den Medien, noch seitens der Politik oder der Interessenverbände. Einfach, weil der Hype schon lange "durch" ist.

Die Hysterie beim Thema "Kinderpornografie im Internet" konnte nur deshalb zum "moralischen Mainstream" eskalieren, weil die Selbstkontrolle der Medien versagte: die Behauptungen wurden praktisch nie nachgeprüft. Ein rein ökonomischer Vorgang: Die quotenträchtige, weil angstbesetzte Schlagzeilen wie "immer mehr Kinder-Pornografie im Netz" versprechen Nachfrage (verkaufte Auflage, Einschaltquote), Recherchen, die diese Behauptung schnell ad absurdum geführt hätte, unterblieben deshalb.

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