Samstag, 8. November 2008

Broder über "60 Jahre Progromnacht" - wo er recht hat, hat er recht

Meine Wertschätzung für Henryk M.Broder nahm zwar in den letzten Jahren deutlich ab, aber wenn es um das Thema "Antisemitismus in Deutschland" geht, schätze ich ihn als nach wie vor ein ebenso scharfsinnigen wie scharfzüngigen Analysten.

Morgen jähren sich zum 70. Mal die Novemberpogrome der Nazis von 1938. Wozu Broder Einiges zu sagen hat - im Gegensatz zu vielen phrasendreschenden Gedenktagsabhakern. Broder kritisiert "Soße der Betroffenheit" (D-Radio Kultur).
Broder fordert, auf Betroffenheitsrituale, die wie Kammermusikveranstaltungen in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert werden, zu verzichten.
(...) Und ich finde es im Prinzip auch gut, dass die Vergangenheit langsam in der Vergangenheit versinkt. Und es stimmt nicht, dass die Deutschen mit der Vergangenheit nicht klarkommen. Sie kommen mit der Vergangenheit sehr gut klar. Womit sie nicht klarkommen, ist die Gegenwart. Und das betrübt mich immer mehr. Es gibt, wenn Sie sich angucken, was heute passiert, Dafur, im Kongo fängt wieder der alte Völkermord an, der nie zu Ende war. Das beansprucht einen Hauch der Aufmerksamkeit, den wir auf die Vergangenheit richten. Und diese Besessenheit in der Vergangenheit hat, glaube ich, inzwischen Alibicharakter. Und es kommt auch daher, dass in der Tat so gut wie alle Täter ausgestorben sind. Man kann keinem mehr wehtun.
Broder meint, man könnte, z. B. im Geschichtsunterricht, vielleicht einfach faktisch-historisch berichten, ohne die "Soße der Betroffenheit", die über diese Geschichte ausgebreitet würde, denn die Leute seien nicht wirklich betroffen.
Sie wären nicht wirklich betroffen, sonst würden sie sich nicht dermaßen in die Vergangenheit stürzen und dabei die Gegenwart leugnen. Es ist laut Broder ein Skandal, dass heute die Existenz Israels zur Disposition stünde.
Sie steht zwar in Deutschland meines Erachtens nicht ernsthaft zur Disposition; ich beobachte aber auch, dass viele Bekenntnisse zum Existenzrecht Israels sich sehr nach Lippenbekenntnis anhören - oder, bei "Antizionisten", nach Heuchelei. In dieser Beziehung sind mir die Antisemiten in der NPD und noch weiter rechtsaußen beinahe lieber - bei ihnen besteht wenigstens kein Zweifel an ihrem Hass auf alles Jüdische und das, was sie dafür halten.

Broder meint, wir seien sozusagen dabei, die Machtübernahme von '33 heute zu verhindern. Ihn wundert und empört, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit so einflusslos und folgenlos für die Beschäftigung mit der Gegenwart bliebe.
Wenn zum Beispiel in Köln ein paar Tausend Demonstranten den Aufmarsch von ein, zwei Dutzend Rechten verhindern, dann hat man wirklich den Eindruck, die Leute holen etwas nach, was die Eltern und Großeltern 33, 38 versäumt haben. Und das sind nur noch Aktionen, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, ein retrospektiv gutes Gewissen.
Ich halte die Aktion gegen die Antiislamisten von "Pro Köln" für insofern gelungen halte, als das sie sich in der wirklichen, heutigen Welt mit Rechtsextremisten, die überwiegend keine Neonazis sind, auseinandersetzte. Allerdings gebe ich Broder insofern recht, dass die Frage der "historische Schuld" und der Gewissensentlastung eine nicht unwichtige Rolle bei dieser Protestaktion spielten. Als Deutscher hat "man" die "historische Pflicht" gefälligst tolerant gegenüber anderen Religionen und Kulturen zu sein. Allerdings ist "Toleranz" aus Gehorsam und schlechtem Gewissen keine wirkliche Toleranz - und, wenn es hart auf hart kommt, keinen Schuss Pulver wer.

Bei vielen anderen "Aktionen gegen Nazis" fehlt die realweltliche Auseinandersetzung mit heutigem Rassismus und Antisemitismus, heutigen Gefahren für Rechtsstaat und Demokratie, und meist sogar mit heutigen Nazis. Sie sind reine "Moraltheologie", mit dem einzigen Sinn und Zweck, symbolisch "ein Zeichen zu setzen" - eben eines, dass man nicht mit den deutschen Nazis von 1933 - 1945 identisch ist und dass man der Pflicht, Nazis von Herzen zu verabscheuen, nachkommt. Wobei regelmäßig vergessen oder verdrängt wird, dass "Rechtsextreme" streng genommen keine "Extremisten am rechten Rand" der Gesellschaft sind, also irgendwie böse Exoten, sondern das der "Rechtextremismus" ein Extremismus der Mitte ist, und das junge Schlägernazis nicht selten genau das in die Tat umsetzen, was sie tagtäglich am Küchentisch, am Kantinentisch oder am Kneipentisch von "ganz normalen" Menschen zu hören bekommen.

Von daher ist es kein Wunder, dass der "Kampf gegen rechts" gescheitert ist. Kein Wunder, da er vor allem aus heiße Luft und besorgte Attitüde, flankiert durch die dazu passenden hysterischen Berichte, besteht. Und aus Verbots- und Kontrollforderungen, die ab und an auch tatsächlich umgesetzt werden. Ohne dass es die realen Nazis sonderlich jucken würde. Hingegen gefährden Verbote, Überwachungsmaßnahmen und "hartes Durchgreifen" (nicht mit "Null Toleranz" zu verwechseln) genau die Demokratie, die angeblich dadurch geschützt werden soll.

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