Montag, 15. September 2008

Gesetzgeberischer Ungehorsam gegenüber dem Bundesverfassungsgericht

Nur zur Erinnerung: Der Bundestag berät zur Zeit über den Gesetzentwurf für eine Novelle des BKA-Gesetze. Die parlamentarischen Sachverständigen-Anhörung findet heute (15. September) im Innenausschuss statt.

Nach den Worten des stellvertretende Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, dem Berliner Strafverteidiger Dr. Fredrik Roggan, der heute als Sachverständiger geladen ist, zeichne sich der Gesetzesentwurf einmal mehr durch einen "gesetzgeberischen Ungehorsam gegenüber dem Bundesverfassungsgericht" aus. Z. B. stünde der geplante Einsatz der Rasterfahndung in klarem Gegensatz zu den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.

Die wichtigsten Kritikpunkte am Entwurf des BKA-Gesetzes im Überblick:
  1. Keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die vorbeugende Verbrechensbekämpfung
  2. Keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die allgemeine Gefahrenabwehr
  3. Lückenhafter Schutz der Intimsphäre
  4. Richtervorbehalt teilweise außer Kraft gesetzt
  5. Starke Zweifel an der Notwendigkeit und Effektivität von Rasterfahndungen und Online-Durchsuchungen
  6. Online-Durchsuchungen sind unnötig, da die Verfolgung terroristischer Vereinigungen i.d.R. vor der Gefahrenabwehr einsetzt
  7. Die vorgeschlagenen Regelungen zur Online-Durchsuchung verstoßen gegen den Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseinschränkungen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
  8. Rasterfahndungen sind jenseits konkreter Gefahren unzulässig, was im Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck kommt.

Nachträglicher (?) Schrecken

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit der großen Friedensdemonstrationen Anfang der 80er Jahre. Was uns auf die Straßen brachte, war einerseits der NATO-Doppelbeschluss, andererseits die Tatsache, dass mit Ronald Reagan ein außenpolitischer "Falke" mit einfach gestricktem Gut-Böse Weltbild (er bezeichnete die UdSSR und den Warschauer Pakt gern als "Evil Empire) Präsident der USA war.
Der NATO-Doppelbeschluss war sozusagen ein "Verhandeln mit vorgehaltener Pistole" - für den Fall, dass die Verhandlungen über eine beidseitige Begrenzung sowjetischer und US-amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen scheitern, war eine automatische Stationierung neuer us-amerikanischer Mittelstreckenwaffen vorgesehen. Was dann auch so kam: nach dem Scheitern der Verhandlungen wurden 1983 Marschflugkörper und neue, sehr zielgenaue Mittelstreckeraketen von Typ Pershing II in der Bundesrepublik stationiert.

Dass der Anlass - oder, wie das kleine, aber lautstarke Häufchen moskautreuer Kommunisten, die scheinbar auf keiner noch so kleinen Demo fehlten, sagte: der Vorwand - für den NATO-Beschluss, die mobilen und zielgenauen sowjetischen nuklear bestückten Mittelstreckenraketen vom Typ RT-21M "Pioner" (Nato-Codebezeichnung: SS-20) auch auf uns gerichtet waren, trug nicht unbedingt zur Beruhigung bei.
Denn bis auf eine Handvoll hartnäckiger DKPler waren wir uns darüber im Klaren, dass die sowjetischen Kriegsplanungen aller Wahrscheinlichkeit nach genau so den Einsatz von "eurostrategischen" Waffen vorsah, wie die der USA.

Der springende Punkt dabei war, dass auch den hartnäckigsten Militaristen klar war, dass ein "strategisch-nuklearer Schlagabtausch", also ein atomarer Weltkrieg, zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht beherrschbar wäre. Tatsächlich beruhte das "Gleichgewicht des Schreckens" die gegenseitige Abschreckung, auf dem Prinzip "wer zuerst schießt, stirbt als zweiter" - oder anders ausgedrückt: alle Menschen der Erde, egal wo sie lebten oder was sie taten und dachten, waren Geiseln dafür, dass sich die Großmächte nicht gegenseitig an die Gurgeln gingen.

Anders sah es mit den Konzept eines "begrenzten Atomwaffeneinsatz" aus. Der erschien offensichtlich nicht wenigen Militärs "beherrschbar" zu sein. Zumindest von der NATO wussten wir, dass sie sich die "Option des atomaren Erstschlags" im Falle eines konventionellen (nicht nuklearen) Angriffs der Warschauer Pakts vorbehielt.

Nach 1983 kippe die Stimmung. Sarkastische Lieder wie "Besuchen Sie Europa, solange es noch steht" von Geier Sturzflug oder "Alles, alles geht vorbei, durch die Pershing II" von Ludwig Hirsch lösten auf Demos oft die "klassischen" Protestsongs ab und waren regelrechte Hits, sogar im Radio.

Was ich in Erinnerung habe, war ein Klima der unterschwelligen Hoffnungslosigkeit, in der "Alternative" immer häufiger "alte Naive" genannt wurden, in der sich ein Teil der damals jungen Leute in einen hedonistischen und egoistischen Lebenstil flüchtete (ich halte die "Popper" und später auch die "Yuppies" auch für ein indirektes Produkt der Atomkriegsangst), ein andere Teil ins apokalyptische Denken unterschiedlichen Ausprägung kippte.

Was wir damals allenfalls ahnten, wurde nun aufs Schrecklichste bestätigt - dass nämlich der rücksichtslose, menschenverachtende, bedenkenlos Millionen Menschenleben zugunsten des Siegs des eigenen "Systems" opfernde und deutlich paranoide Kriegsdoktrin der NATO eine ebenso rücksichtslose, menschenverachtende, bedenkenlos Millionen Menschenleben zugunsten des Siegs des eigenen "Systems" opfernde und möglicherweise noch paranoidere Kriegsdoktrin des Warschauer Paktes gegenüber stand.

Sie war anscheinend noch paranoider, als wir damals fürchteten. Jedenfalls weist darauf ein Artikel in NZZ hin, in dem neuere Forschungsergebnisse zur Militärstrategie des Ostblocks präsentiert werden. Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa. (Gefunden beim A-Team.
Während Russland jede Einsicht in einschlägige Dokumente immer noch verweigert, haben andere osteuropäische Staaten Unterlagen freigegeben, aus denen sich die Kriegsplanungen des Warschauer Pakts, erschließen lassen. Zusammen mit der bereits aus Dokumenten aus dem "Nachlass" des DDR-Verteidigungsministeriums bekannten operativen Planung ergibt sich ein ebenso erschreckendes, wie leider glaubwürdiges, Bild der sowjetischen Kriegsplanung.

Einige Überlegungen waren mir aus Diskussionen während der 80er noch vertraut - zumindest einige Friedensforscher waren, in Kenntnis der stark ideologisch geprägten "Betonkopf"-Denkens der UdSSR-Führung, und der - historisch bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbaren - Invasions-Paranoia, schon zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Schlüsse, die sie, militärisch gesprochen, gegen die Illusion vor allem der Bundeswehrführung, man könne sich gegen einen konventionellen Angriff des Ostblocks durchaus konventionell verteidigen, die NATO-Erstschlagsoption sei also nur eine "allerletzte Möglichkeit", in Stellung brachten. Denn ihnen war klar, dass die sowjetische Führung der NATO das niemals glauben würde.
Warum also sollte der Warschaupakt in einem Krieg bis zum nuklearen Ersteinsatz der Nato warten, wenn doch die Möglichkeit bestand, durch den frühzeitigen eigenen nuklearen Ersteinsatz die Nato zumindest teilweise nuklear zu entwaffnen? Warum sollte der Warschaupakt trotz konventioneller Überlegenheit überhaupt einen konventionellen Beginn des Krieges planen, wenn durch einen in jedem Falle notwendigen Kernwaffeneinsatz der Nato der Krieg ohnehin ein nuklearer werden würde?
Was der NZZ-Artikel nun anspricht, wagte damals kaum jemand zu denken - auch wenn es völlig logisch ist:
Der Präventivkrieg bereitete keine Rechtfertigungsprobleme. Auch er war per definitionem ein Verteidigungskrieg. Natürlich würde der massive Einsatz von Nuklearwaffen Teile Westeuropas verwüsten. Doch der Sowjetunion ging es ohnehin nicht in erster Linie um die Besetzung möglichst unversehrten Territoriums, sondern zuerst und vor allem um die Zerschlagung des militärischen und politischen Gegners. Diese ideologisch geprägte Sicht erklärt zugleich, weshalb politische Entwicklungen wie die Entspannung keinen Einfluss auf die Kriegsplanung hatten. Nicht wenige hielten sie ohnehin für eine Finte des Westens.
Ich ahnte, dass die wachsende technische waffentechnische Überlegenheit des "Westens" vom "Osten" als Provokation gesehen würde und die Paranoia eine überalterten Sowjetführung anheizen würde, deren Mitglieder noch den Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die UdSSR miterlebt hatten.
Später, nach dem Ende des Ostblocks, wurde mir, auch durch Gespräche mit einem ehemaligen NVA-Offizier klar, dass die Sowjetunion jeden denkbaren Konflikt - und erst recht jeden denkbaren Krieg - mit dem "kapitalistischen Mächten" durch die Brille (oder die Scheuklappen) des Systemantagonismus sah. Es war offensichtlich: Man ging davon aus, dass die USA das sowjetische System in jedem Fall zu zerstören beabsichtigten. Interessanterweise hielt der ehemalige Hauptmann der NVA-Raketentruppen eisern daran fest, dass die Militärdoktrin des Warschauer Paktes rein defensiv gewesen wäre. Das kannte ich, bezogen auf die NATO, auch von Bundeswehroffizieren. Der Unterschied: die Überzeugung, die Gegenseite sei das "Reich des Bösen", war im "Westen" auf einige Scharfmacher beschränkt.

Das hier raubt mir noch nachträglich der Schlaf:
Mehr noch. Zwischen 1975 und 1988 häuften sich die Forderungen der sowjetischen Militärführung, einer technologischen Überlegenheit des Westens militärisch zuvorzukommen. Im September 1982 verglich Marschall Ogarkow anlässlich des Treffens der Generalstabschefs des Warschaupakts die politische Situation mit der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In Wirklichkeit hätten die USA der Sowjetunion und deren Verbündeten den Krieg bereits erklärt. Allen Anwesenden war klar, was gemeint war und was möglicherweise bevorstand
Und die NATO? Der NZZ-Artikel geht davon aus, dass die NATO-Planer schon frühzeitig erkennt hätte, dass es wahrscheinlich zu einem nuklearen Ersteinsatz durch den Warschaupakt kommen würde.
Laut NZZ hatte die NATO keine Alternative: Eine Eskalation hätte die Perspektive eines unkalkulierbaren nuklearen Schlagabtausches in Mitteleuropa bedeutet. Dieses Szenario wäre in den Nato-Staaten zu keiner Zeit vermittelbar gewesen.

Was zweifellos stimmt. So, wie die sowjetischen Kriegspläne der Bevölkerung der Ostblock-Staaten nie vermittelbar gewesen wären, weshalb sie denn auch geheim waren.

Es kam anders: Der Atomkrieg fand nicht statt. Einerseits durch der Generationswechsel in der Sowjetführung - Gorbatschow hatte weder hinsichtlich der Möglichkeit eines "gewinnbaren Atomkriegs" noch der Leistungsfähigkeit der sowjetischen Industrie irgendwelche Illusionen - und er war nicht mit dem Alptraum eines brutalen Vernichtungskriegs und dem alptraumhaften, bis in die Familien hinein von krankhaftem Misstrauen durchdrungenen, stalinschen System aufgewachsen.
Nicht zuletzt unter dem Druck ihrer Verbündeten - die wiederum nicht zuletzt vom "Druck der Straße" motiviert wurde - wurde die Politik der USA gegenüber der UdSSR pragmatischer, realistischer.

Letztes Ende hat der Umstand, dass "der Westen" wenigstens ansatzweise eine "offene Gesellschaft" war, entscheidend dazu beigetragen, dass der "heiße Krieg" in über 40 Jahren "Kaltem Krieg" nur Planspiel blieb. Hätte sich zwei autoritäre, ideologisch ausgerichtete, Blöcke gegenübergestanden, dann wäre es sehr wahrscheinlich zum Atomkrieg gekommen. (Auch so haben wir ein buchstäblich unwahrscheinliches Glück, dass wir die Jahrzehnte des "Kalten Krieges" überlebt haben.)

Ich fürchte aber, dass der Schrecken nicht wirklich zu ende ist. Ein Grund liegt darin, dass es nicht nur Veteranen des Kalten Krieges gibt, sondern auch Invaliden - geistige.
Machen wir uns nichts vor: die Generation von Politikern, die heute in den USA und in Russland regieren, die Generäle fast allen wichtigen militärischer Mächte (zu denen auch das wiedervereinigte Deutschland gehört) sind "Cold War Kids", im Kalten Krieg aufgewachsen, mit dem Weltbild des Kalten Krieges indoktriniert.
Menschen, die sozusagen automatisch in den Maßstäben militärischer Drohgebärden und militärischer Vergeltung denken. Nicht nur in der viel gescholtenen US-Regierung unter Bush jr. .

Es gibt daneben eine unangenehm große Anzahl Staaten, die sich die "Supermächte" im Kalten Krieg als Vorbild für ihre eigene Machtpolitik nehmen - "hasto Bombe, bistu Supermacht".
Der Alptraum eines politische völlig instabilen Staates mit Atomwaffen ist jedenfalls in Pakistan traurige Realität.

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