Mittwoch, 9. Juli 2008

"Hamburger Ebb' und Fluth"

Das ist der genaue Titel der gemeinhin als "Wassermusik Georg Philipp Telemanns" bekannten Orchestersuite, nicht zu verwechseln mit der noch berühmteren Wassermusik Georg Friedrich Händels.

Es gibt die Legende vom weltoffenen, toleranten Hamburg. Das ist, für den Kenner der hamburgischen Verhältnisse, doch recht erstaunlich, denn an staatlicher Pression und Repression mangelt es hier nun wirklich nicht. (Aktuelles Beispiel aus der regionalen taz: Operation Rote Flora - Die Razzia im Hamburger Schanzenviertel setzte eine interne Anweisung um, die auch im polizeilichen Dienstunterricht behandelt wird. Das autonome Zentrum klagt auf Schadensersatz.) In beinahe jeder Hinsicht ist Hamburg eine typisch deutsche Großstadt.

Aber irgend etwas ist in Hamburg anders als in Berlin, Köln, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Leipzig, München. Ich nenne es mal: Das maritime Flair.
"Was heißt hier maritim"? fragte mich vor einiger Zeit ein aus Mainfranken stammender Bekannter. "Hamburg liegt gut 70 - 80 Kilometer vom Meer entfernt." Bei Küstenstädten wie Bremerhaven, Kiel, vielleicht auch noch Lübeck oder Rostock, da sähe er es ein, aber Hamburg? Trotz Hafen sei doch vom Einfluss des Meeres wenig zu spüren!

Es ist aber zu spüren. Telemann brachte es auf den Punkt, als er 1723 aus Anlass der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Hamburger Admiralität seine "Wassermusik" schrieb: "Hamburger Ebb und Fluth".
Zur Illustration zwei Fotos, die ich neulich am St. Annen-Fleet in der "Speicherstadt" aufnahm.

Reparaturarbeiten an der Kaimauer (bei Ebbe):
Kaimauer01

Das St. Annen-Fleet, bei Flut:
Kaimauer02

Der mittlere Tidenhub (Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser) in Hamburg ist 2,52 Meter.

Poetisch gesprochen, ist es der Pulsschlag des Meeres. Ich erinnere mich (ungern!) an einen öden Bürojob, es ist schon einige Jahre her. Wie es der Zufall - oder sonstwer, der unter dem Pseudonym "Zufall" auftritt - so wollte, lag das Bürohaus an einem der unzähligen Kanäle, die weite Teile Hamburg durchziehen. ("Das Haus liegt direkt an einer Brücke über einen Kanal oder Fluss" - das mag in anderen Städten eine sinnvolle Orientierungshilfe sein. In Hamburg nicht: Insgesamt rund 2400 Bauwerke führen in der Hansestadt über Wasser, über Elbarme, Flüsse, Fleete, Kanäle und Hafenbecken.) Über die Bille stand dieser Kanal mit der Norderelbe in Verbindung, und obwohl an der Mündung der Bille ein Sperrwerk installiert ist, hob- und senkte sich der Wasserspiegel des Kanals im Takt der Gezeiten. Nicht so stark wie direkt wie an der Elbe, aber unübersehbar.
Ich ertappte mich oft bei dem Gedanken: Mit einem tüchtigen Segelboot könnste Du direkt von dieser elenden geistige Legebatterie ablegen und in See stechen. Einfach ablegen - und erst in Südengland, in der Bretagne, in Irland - oder auch erst in Amerika - wieder an Land gehen. "Ich träume oft davon, mir ein Segelboot zu klau'n / und einfach abzuhauen" (alter Song von Udo Lindenberg, aus der Zeit, als er noch Haar hatte).

Sicher, es kommen noch andere, historische, politische, ökonomische Umstände hinzu, die entscheiden, ob eine Hafenstadt auch "weltoffen" oder gar "kosmopolitisch" ist. Hamburg ist es ja auch nur begrenzt weltoffen und gewiss keine Weltstadt - aber wie begrenzt ist mitunter auch die Weltoffenheit z. B. der anerkannten Weltstadt London? Die Historie erinnert z. B. daran, dass Hamburg eine alte Stadtrepublik ist - und mehr noch daran, dass "allzu nah" vor den Toren Hamburg Altona lag - vor der Französischen Revolution 1789 der freiheitlichste Flecken Europas - und vermutlich auch noch einige Jahre darüber hinaus ...

Was unterscheidet Hamburg vom "Rest" Deutschlands? Vermutlich, dass Hamburg (manchmal) angenehm "undeutsch" ist ... (interessanterweise trifft das auch auf Teile Berlins zu).

Womit ich bei einer anderen Frage wäre: was unterscheidet Deutsche und Österreicher? Angeblich ja, dass ein Österreicher jemand sei, der Beethoven für einen Österreicher und Hitler für einen Deutschen hält. Aber dieser kleine Irrtum ist wahrlich kein Privileg der Österreicher. Wobei ich übrigens strikt zwischen Österreichern und Wienern unterscheide. Das sind zwei sehr verschiedene Spezies Mensch.

Besser lässt sich der Mentalitätsunterschied zwischen Deutschen und Österreichern so beschreiben: die Deutschen sehen mit Pessimismus in die Zukunft, die Österreicher aber voller Optimismus in die Vergangenheit.

Womit ich diese Folge locker aus meinem Hirn quellender Gedankensplitter abschließe.

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