Donnerstag, 7. Dezember 2006

Die Legende vom Perlenhafen

Heute ist der 65 Jahrestag des Angriffs eines Flugzeugträgerverbandes der japanischen Flotte auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor. Und wie immer anläßlich solch eines Jahrestages werden alte Verschwörungstheorien neu aufgewärmt. Zumal sich für den fortgeschrittenen V-Theoretiker die Parallelen zum "11. September" regelrecht aufdrängen. Auf der Website Gerhard Wisnewskis (ja, der mit der "im Studio insznierten Mondlandung") fand ich die z. Z. wichtigste Theorie - die von Robert B. Stinnett - in äußerster Knappheit dargestellt:
Das im Jahr 2000 veröffentlichte Ergebnis der siebzehnjährigen Recherchen und Quellenstudien von Robert B. Stinnett - in Deutschland veröffentlicht unter dem Titel 'Wie die US-Regierung den Angriff provozierte und 2.476 US-Bürger sterben ließ' - werde dabei vollständig ignoriert.

Die Ankündigung der 2003 bei Zweitausendeins erschienenen deutschsprachigen Ausgabe des Buches von Robert B. Stinnett führt einige Punkte auf, denen Stinnett nachgeht:
  • Die Funkstille, unter der die japanische Angriffsflotte angeblich operierte, war eine Lüge. Stinnett legt 129 Radiotelegramme vor, die sofort entschlüsselt wurden.
  • Dass die US-Navy in Pearl Harbor fast ausradiert wurde, ist eine Lüge. Alle modernen Schiffe wurden kurz vor dem 7. Dezember 1941 überraschend aus dem Hafen abkommandiert.
  • Dass die japanischen Angreifer ins Nichts verschwanden, ist eine Lüge. Man hätte sie verfolgen und vernichten können, aber das passte nicht ins Drehbuch der Tragödie.
Aus Gerhard Wisnewki: Kino der Angst (über das gleichnamige Buch von Peter Bürger).

Der erste Punkt entzieht sich einer Ad-Hoc-Überprüfung ohne größeren Rechercheaufwand. Man kann Stinnet glauben oder nicht. Immerhin ist seine Darstellung einigernmaßen plausibel. (Hierzu: Nebelbank: Pearl Harbor.)

Der Dritte Punkt kann nur dann stimmen, wenn der zweite Punkt stimmt, und die US-Flotte in Wirklichkeit nur ein paar veraltete Schlachtschiffe und Flugzeuge verlor, aber in ihrer Kampfkraft nicht beeinträchtigt war.
Die japanische Angriffsflotte bestand aus: 6 Flugzeugträgern, 2 Schlachtschiffen, 3 Kreuzern, 9 Zerstörern, 23 U-Booten und 5 Mini-U-Booten und hatte 441 Kampfflugzeuge. 29 Kampfflugzeuge und 5 Klein-U-Boote gingen verloren.
Schon vor dem Angriff wäre das ein harter Brocken für die US-Pazifikflotte gewesen. Unmittelbar nach dem Angriff waren die Flugplätze in Pearl Harbor durch Flugzeugwracks blockiert; in der Hafeneinfahrt des Flottenstützpunktes lagen gesunkene und beschädigte Schiffe. Ohne Aufräumarbeiten - die Wochen dauerten - hätten die noch unbeschädigten Schiffe und Flugzeuge gar nicht zum Einsatz kommen können.
In der Praxis hätten für einen "Gegenangriff", um die japanische Flotte zu "vernichten" nur der in See befindliche Flugzeugträger USS "Enterprise" und seine Begleitschiffe - 3 Kreuzer und 9 Zerstörer - und eventuell der weiter entfernt, in der Nähe von Midway stehende Verband um den Flugzeugträger USS "Lexington" und seinen 3 Kreuzern und 5 Zerstörern zur Verfügung gestanden. Also maximal 2 Flugzeugträger, 6 Kreuzer und 14 Zerstörer gegen 6 Flugzeugträger, 2 Schlachtschiffe, 3 Kreuzer und 9 Zerstörer - realistischerweise aber nur der Trägerverband der "Enterprise", weil die "Lexington" sich noch in der Nähe der Midway-Inseln befand, weit südlich des Heimatkurses der Japaner.

Außerdem hatten die amerikanischen Flugzeugträger nur einen Teil ihrer Sollstärke an Flugzeugen an Bord, die "Enterprise" hatte zudem einige ihrer Flugzeuge beim Kampf um Pearl Harbor verloren. Bei diesem Kräfteverhältnis wäre ein Angriff auf die japanische Flotte - wenn ihr Standort denn bekannt gewesen wäre - viel zu riskant gewesen.

Der kritische Punkt ist Punkt 2: lagen wirklich nur veraltete Schiffe in Pearl Harbor? Und: wieso lagen ausgerechnet die drei Flugzeugträger der Pazifik-Flotte nicht im Hafen?

Die erste Frage läßt sich relativ einfach beantworten, wenn man sich z. B. auf der Website der US-Navy oder im Dictionary of American Naval Fighting Ships, ansieht, welche Schiffe am 7. Dezember 1941 in Pearl Harbor lagen, wann sie in Dienst gestellt wurden.
Der älteste Kreuzer in Pearl Harbor war die USS Raleigh (CL-8), in Dienst gestellt 1922, der neueste die USS Helena (CL-50) in Dienst gestellt 1936. Der älteste Zerstörer war die USS Allen (DD-66) im Dienst seit 1917, was allerdings einen falschen Eindruck vermittelt, denn nur drei der 29 im Hafen liegenden Zerstörer waren vor 1935 gebaut worden; der neueste Zerstörer war die USS Jarvis (DD-393) im Dienst seit 1937.
Aufällig ist aber das relativ hohe Alter der schwersten Einheiten, der Schlachtschiffe. Das älteste aktive Schlachtschiff in Pearl Harbor war die USS Nevada (BB-36), in Dienst gestellt 1916, das neueste die USS West Virginia (BB-48), im Dienst seit 1923.
Haben die "Verschwörer" also dafür gesorgt, dass die besseren und neueren Schlachtschiffe nicht im Hafen lagen?
Die US-Navy hatte 1941 keine besseren und neueren Schlachtschiffe: Alle "Big Five", die 5 Schlachtschiffe der Tennessee- und der Maryland - Klasse, die erst nach dem Ersten Weltkrieg gebaut worden waren, und die die kampfstärksten Schlachtschiffe zwischen den Weltkriegen waren, gehörten zur Pazifik-Flotte.
Das hohe Durchschnittsalter der Schlachtschiffe war die Folge des Washingtoner Flottenabkommens von 1922 und der folgende Flottenverträge von London 1930 und 1936. Zwischen 1923 und 1936 wurden nur sehr wenige Schlachtschiffe gebaut, darunter kein amerikanisches und auch kein japanisches. Die japanische Schlachtflotte war also ähnlich alt wie die amerikanische. Erst nach 1936 legten alle größere Seemächte wieder Schlachtschiffe auf Kiel. 1941 hatten die USA zwei Neubauten in Dienst gestellt, die USS North Carolina und die USS Washington. Sie waren im Dezember 1941 noch nicht voll einsatzfähig und befanden sich noch auf Ausbildungsfahrt. Nach "Pearl Harbor" kamen sie praktisch sofort nach Erlangung der Einsatzreife zur Pazifikflotte.
Die japanische Neubauten, die Superschlachtschiffe "Yamato" und "Musashi" - deren alle Vertragsgrenzen sprengenden Dimensionen einer der Gründe waren, aus denen die Flottenabkommen ab etwa 1938 nur noch Papier waren - stellten erst nach "Pearl Harbor" in Dienst.
Anzumerken bliebe, dass Schlachtschiffe als langlebige Einheiten konzipiert waren. Gemäß dem Washingtoner Flottenabkommen durfte ein Schlachtschiff frühestens nach 20 Jahren durch einen Neubau ersetzt werden. (Mit dem Abkommen von London 1930 wurde das Mindestalter für zu ersetzende Schlachtschiffe auf 26 Jahre erhöht.) Tatsächlich waren Schlachtschiffe sogar für 40 - 50 Jahre Lebensdauer ausgelegt. (Dass nur wenige Schlachtschiffe dieses Alter erreichten, lag nicht an ihre Bauweise.) Ein 20 Jahre altes Schlachtschiff war also keineswegs ein "Oldtimer". Bis auf die nicht mehr zu hebende "Arizona" und die gekenterte "Oklahoma" wurden alle versenkten US-Schlachtschiffe gehoben, repariert und im 2. Weltkrieg eingesetzt, sogar die gestrandete und sehr schwer beschädigte "Nevada" - was nicht dafür spricht, dass sie als "entbehrliche alte Kähne" angesehen wurden.

Fazit: Obwohl keine "werftneuen" Schiffe in "Pearl" lagen, waren die Einheiten durchweg modern. Bis auf die alte "Allen" und das längst aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene, nur noch für Zielübungen verwendetete Schlachtschiff USS Utah (BB-31) - waren keine leicht zu entbehrende veraltete "Pötte" dabei.
(Übrigens standen einige Pearl Harbor-Veteranen noch lange nach dem 2. Weltkrieg im Dienst. Der "berühmteste" von ihnen wurde die USS Phoenix (CL-46), ab 1952 unter argentinischer Flagge unter dem Namen "General Belgrano", am 2. Mai 1982 während des Falklandkrieges durch ein britisches U-Boot versenkt.)

Was ist aber mit den drei Flugzeugträgern der Pazifikflotte?
Bei der USS Saratoga (CV 3) ist die Frage leicht zu beantworten: sie war nach einem Werftaufenthalt in Bremerton auf dem Weg nach San Diego, ihrem Heimatstützpunkt.
Der Flugzeugträger USS Enterprise (CV 6) hätte theoretisch seit dem 6. Dezember in Pearl Harbor liegen sollen, er hatte mit 3 Kreuzern und 9 Zerstörern eine Staffel Jagdflugzeuge nach Wake Island transportiert. Der Verband musste jedoch auf dem Weg zurück durch einen Sturm laufen, was zu einer Verspätung von 24 Stunden und einem Einlaufen erst am Nachmittag des 7. führte. (Flugzeuge der "Enterprise" griffen gegen die 2. Angriffswell der Japaner ein, allerding glücklos - einige fielen der desorganisierten US-Flak zum Opfer.) Die USS Lexington, (CV 2) transportierte mit 3 Kreuzern und 5 Zerstörern eine weitere Jagdstaffel nach Midway. Da die Verlegung der beiden Staffeln jedoch nach Möglichkeit geheim gehalten werden sollte, befanden sich die Träger offiziell auf Übungsmissionen. Teilweise hat sich diese Tarngeschichte bis zum heutigen Tag gehalten; in nicht wenigen Artikeln und Büchern steht noch immer, dass die Träger kurz vor dem Angriff den Hafen zum Üben verließen. (Was natürlich Spekulationen Vorschub leistete: warum übten beide Trägerverbände zur gleichen Zeit? Das war nicht üblich.)
Dass die Flugzeugträger Jagdflugzeuge zu vorgeschobenen Stützpunkten brachten, deutet darauf hin, dass man auf US-Seite tatsächlich mit einem unmittelbar bevorstehenden japanischen Angriff rechnete, allerdings eher auf die "schwachen" vorgeschobenen Stützpunkte als auf den "gut verteidigten" Hauptstützpunkt Pearl Harbor.

Das wirkliche Rätsel um Pearl Habor- und das "Glück im Unglück" für die USA - war ein anderes: Nach der ursprünglichen Planung hätte auf die ersten beiden Angriffswellen mindestens eine weitere folgen sollen, um die Werftanlagen und Treibstofftanks zu zerstören. Der Verlust dieser Anlagen und Vorräte hätte Operationen der US-Streitkräfte im Pazifik in den folgenden Monaten massiv eingeschränkt. Angesichts des Kriegsverlaufs sind viele Historiker der Auffassung, dass das Ausschalten von Pearl Harbor als Flottenstützpunkt für die USA ein weit schwererer Verlust gewesen wäre als die ausgeschalteten Schlachtschiffe.
Dennoch entschloss sich Admiral Nagumo, die dritte Welle nicht zu starten, sondern sich zurückzuziehen, sobald die Angriffsverbände zurückgekehrt waren. Er hatte zwar seine Gründe, aber seine Vorsicht ist, im Vergleich zum tollkühnen "Draufgängergeist" anderer japanischer Offiziere, doch erstaunlich.

(Ausgezeichneter, kritischer und ausführlicher Artikel in der Wikipedia: Angriff auf Pearl Harbor - Ja, Wisnewski mißtraut der Wikipedia.)

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