Welche Grundbedürfnisse können Nazis bedienen?

Einige Gedanken, angeregt vom Artikel: Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die sich die Rechtsextremen zu Nutze machen - wenn man sie lässt auf Netz gegen Nazis. Es ist ein Interview mit Prof. Dr. Andreas Zick, Sozialpsychologe an der Universität Bielefeld.

Auf diesen Artikel gestoßen bin ich durch einen Facebook-Beitrag von Karan, die meint:
Identität, Wertschätzung, Zugehörigkeit, Vertrauen. Bleiben diese Grundbedürfnisse unerfüllt, steht die Tür zum Hirn sperrangelweit offen für den Einmarsch extremer Ideologien. Das Netz gegen Nazis betreibt Ursachenforschung. (Schon seit einiger Zeit; hier sind die vorausgegangenen Artikel: http://www.netz-gegen-nazis.de/category/lexikon/ursachen)
In dem Interview sagt Dr. Zick:
Jeder Mensch hat bestimmte Bedürfnisse, die sich die Rechtsextremen zu Nutze machen, um UnterstützerInnen zu gewinnen. Zwei der Bedürfnisse sind die nach Identität und Selbstwert. Man sucht nach einer sinnvollen Form, das Selbst zu definieren und möchte Wertschätzung erfahren. Dies ist besonders bei Menschen aus einem problematischen familiären Hintergrund der Fall. Ein mangelnder Selbstwert wird durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgeglichen. Rechtsextreme bieten genau diese klare Definition des Selbst und die aufwertende Gruppenzugehörigkeit an.
Ich stimme nicht ganz mit Karan darin überein, dass, wenn Grundbedürfnisse nach Identität und Selbstwert unerfüllt bliebe, die Tür zum Hirn sperrangelweit offen für den Einmarsch extremer Ideologien stünde. Einmal, weil die Umweltfaktoren - da bin ich einer Meinung mit Dr. Zick - doch wichtiger sind, ob jemand "extremen Ideologien" zuneigt, und wenn ja, welchen.
(Da ich Karan kenne, gehe ich davon aus, dass sie mit "extremen Ideologien" nicht die Extremismustheorie, wie sie etwa Familienministerin Schröder vertritt, meint. Kurzfassung der Extremismustheorie: "Gute Mitte, böse Ränder, und je weiter jemand von der anständigen Mitte der Gesellschaft weg ist, desto böser. Und linke, rechte, religiöse Extremisten sind im Grunde das selbe." Ich verstehe sie so: extreme Ideologien sind als Ideologie extrem, d. h. ihre Anhänger sind extrem dogmatisch, extrem intolerant, extrem leicht fanatisierbar, extrem unzugänglich gegenüber allem, was ihrer Ideologie widerspricht oder auch nur widersprechen könnte.)

Der zweite Grund liegt darin, dass Nazis und ähnlich gestrickte Gruppen an den "inneren Primitivling" appellieren. Das ist zwar auch ein Einfallstor ins Bewusstsein (und Unterbewusstsein), aber eines, dass mit legitimen Grundbedürfnissen nichts zu tun hat. Das Bedürfnis, das die "Kackbraunen" wirklich bedienen können, ist das Bedürfnis, das "zivilisierte Verhalten", die für ein reibungsloses Zusammenleben zwischen Menschen nun einmal erforderliche Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme, in bestimmten Situationen einfach "vergessen" zu "dürfen". Nicht zur "Triebabfuhr" oder um auf eher harmlose Art die "Sau rauszulassen", sondern die (moralische) "Erlaubnis", ohne schlechtes Gewissen ihren Hass auf alles, was ihnen "fremd" oder "verkehrt" vorkommt, freien Lauf zu lassen. Die große Verführung, Aggressionen an Schwächeren auslassen zu "dürfen", und zwar ohne schlechtes Gewissen, da der Stärkere ja "von Natur aus" recht hätte. Es ist "in Ordnung" und "gesundes Volksempfinden" und überdies herrlich bequem, borniert zu sein, dumpfe Vorurteile nicht zu hinterfragen, sich als "Herrenmensch" zu fühlen, und so lange auf einen am Boden liegenden "Untermenschen" zu prügeln und zu treten, bis der nicht mehr aufsteht.
Das mögen Bedürfnisse sein, die die Nazis bedienen können, aber hoffentlich keine legitime Grundbedürfnisse. Es ist meines Erachtens eine Frage der Umwelt und der Erziehung, ob jemand solche Bedürfnisse entwickelt.

Im Grunde können die kackbraunen Kameraden nur ein (echtes) Grundbedürfnis erfüllen: das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach einem Wir-Gefühl. (Denn Identität, Wertschätzung, Vertrauen können sie ja allenfalls versprechen. Identität setzt ein gewisses Maß an Individualität voraus und Wertschätzung ein gewisses Maß an Toleranz - beides ist bei alten und neuen Nazis eher wenig zu finden. Und schon aufgrund ihrer Ideologie sind Neonazis zutiefst misstrauisch. Auch gegenüber Gruppenmitglieder.)

Ein häufiges Problem beim Menschen, die sich intensiv mit rechtsextremen Denken auseinandersetzen, ist es ja, dass wir (ich schließe mich ausdrücklich ein) irgendwann beinahe zwangsläufig ein tiefes Misstrauen gegen viele Arten des Wir-Gefühls bekommen. Etwa gegen Fähnchenschwenken zur Fußball-WM. Das ist so, weil diese Art "Wir-Gefühl" etwas mit nationaler, ethnischer oder historischer Identität zu tun hat. Wir haben Angst, uns selbst zu beschmutzen, wenn wir solche Dinge wie nationale oder ethnische oder historische Identität auch nur mit der Kohlenzange anfassen, und wir haben den Hang, im Zweifel im Wir-Gefühl etwas Gefährliches zu sehen.

Ich denke, dass ein Wir-Gefühl, das nicht auf Kosten anderer geht, eher positiv ist. Aber nur dann.
Karan (Gast) - 13. Jul, 12:04

Was ich mit "extreme Ideologien" meinte, hast Du völlig richtig verstanden. :-)

Ich denke, es kommt auf die Gesamtheit der unerfüllten Grundbedürfnisse an. Teilweise Defizite lassen sich natürlich ausgleichen - wenn jedoch die ganze Palette zusammenkommt, dann wächst m. E. schon die Wahrscheinlichkeit einer Orientierung in RIchtung einer abgrenzenden und polarisierenden Ideologie (es könnte aber genausogut eine rigide religiöse Vereinigung sein).

Identität, Wertschätzung und Vertrauen werden m. E. dort schon über ein bloßes Versprechen hinaus tatsächlich empfunden - weil die Systeme dieser Gruppierungen eine derartige Geschlossenheit annehmen, daß das "Außen" gar nicht mehr in Betracht gezogen wird und das "Drinnen" genügt. Totaler Tunnelblick.

Das mit der Legitimierung des Aufgebens ziviler Verhaltensweisen kommt noch dazu. Ich denke gerade darüber nach, ob dies auch unabhängig von den oben erwähnten defizitiären Strukturen auftreten kann. Bin mir da nicht sicher...

wurzelfrau (Gast) - 13. Jul, 18:10

"Im Grunde können die kackbraunen Kameraden nur ein (echtes) Grundbedürfnis erfüllen: das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach einem Wir-Gefühl. (Denn Identität, Wertschätzung, Vertrauen können sie ja allenfalls versprechen. Identität setzt ein gewisses Maß an Individualität voraus und Wertschätzung ein gewisses Maß an Toleranz."

Den Absatz find ich toll! Er setzt allerdings auch etwas voraus, das Mitglieder dieser Strömung sicher nicht aufweisen: Differenzierungsvermögen. Identität unterscheidet man neuerlich, wie ich las, nochmal in Ich- und Wir- Identität. Letztes können Nazis natürlich erfolgreich bedienen. Bei Erstem ist Deine Definition sicherlich richtig. Wertschätzung, da stimme ich Dir zu, ist sicher nicht zu erwarten. Denn diese würde ja nicht nur Toleranz, sondern auch das Anerkennen einer Person unabhängig von ihren Taten voraussetzen. Da ist der Rahmen natürlich in dieser Szene recht eng gesteckt.

Mit dem Misstrauen gegen das Wir- Gefühl geht es mir ganz ähnlich. Das trifft aber in erhöhtem Maße auf spirituelle Gruppierungen zu, nicht nur auf politische oder gesellschaftliche. Aber das ist ein anderes Thema :)

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