"Religiöse Rechte" im toten Winkel

Im politischen Leben der USA gibt es schon lange den Begriff der "Religious Right" oder genauer Christian Right. Er beschreibt als Sammelbegriff Menschen, die aus religiöser Überzeugung (oder auch mit nachgeschobener religiösen Begründung) politisch sehr konservative bis reaktionäre Positionen vertreten.
Der Einfluss der konservativen evangelikalen Christen auf die politische Landschaft der USA verursacht bei allen ein flaues Gefühl, die selbst keine konservative evangelikale Christen sind.

Wir im gesellschaftlich weitgehend säkularen Deutschland neigen gerne dazu, die "Religiöse Rechten" für ein Phänomen des "Bibelgürtels" der USA zu halten. Weit gefehlt!

Tatsächlich haben die "großen Kirchen" in Deutschland eine politische und gesellschaftliche Machtstellung inne, die demokratisch nicht legitimiert ist. Ein Beispiel: In Deutschland müssen die Kirchen keine Spenden oder Mitgliedsbeiträge für sich sammeln, weil der Staat sie als Steuern für sie eintreibt. Deshalb sind sie auch nicht darauf angewiesen, so lautstark für sich Reklame zu machen, wie die Kirchen in der USA - dem ersten Land der Erde, in dem die Trennung von Staat und Kirche in die Verfassung aufgenommen wurde. Tatsächlich ist die Kirchensteuer nur die Spitze des Eisbergs im "Kirchenstaat Deutschland" Wer finanziert die Jesus GmbH? (jungle world)
Es gibt keinen vernünftigen Grund für die weitreichenden Privilegien der Kirchen.

Eine Hochburg der deutschen "Religiösen Rechte" ist interessanterweise Hessen. Nicht, weil es in Hessen besonders viele besonders fromme konservative Christen gäbe. Auch nicht, weil die hessische CDU, ähnlich der bayrischen Schwesterpartei CSU das "C" im Parteinamen besonders herausstellen würde.
Nein, der Einfluss konservativer Christen funktioniert nach dem auch von anderen Gruppierungen bekannten Prinzip des Klüngeln, Filzens und Einblasens. Er funktioniert vor allem aufgrund schon lange "eingeschliffener" Strukturen. Er funktioniert übrigens über Konfessiongrenzen hinweg - was konservative Christen eint, ist ihre Abneigung gegen alle, die der Idee einer "chrlstlichen Leitkultur" oder einer "christlichen Wertegemeinschaft" nichts abgewinnen können.
Es war wohl alles andere als ein Zufall, dass gerade in Hessen 2007 die damalige Kultusministerin Karin Wolff auf die eines amerikanischen "Christian Right" aus dem tiefen Süden "würdige" absurde Idee kam, man möge im Biologie-Unterricht auch die biblische "Schöpfungslehre" behandeln. Kreationismus im Biologie-Unterricht (hpd).
Das wäre in etwa so, als sollte in Erdkunde oder Astronomie auch das geozentrische Weltbild behandelt werden, weil es nun einmal besser mit den Aussagen der Bibel übereinstimmt, als das nach der Kopernikanischen Wende in der glaubensfernen Naturwissenschaft üblich gewordene. Ich stelle mir vor, was geschähe, wenn ich als Politiker fordern würde, dass in Biologie unterrichtet werden möge, wie Odin, Hœnir und Loðurr die ersten Menschen Askr und Embla aus am Strand angetriebenen Baumstämmen, einer Eibe und einer Ulme, schufen. Ich gehe jede Wette ein, dass ich nicht nur Minuten später alle Ämter los wäre und das Parteiausschlussverfahren eingeleitet würde, sondern unter Umständen müsste ich sogar mit einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik rechnen. Und das, obwohl ich "nur", genau wie Frau Wolff, wissenschaftliche Theorien und Mythologie durcheinander geworfen hätte.

Eine Struktur, die zwar nicht "religiös rechts" ist, aber sehr zum gedeihen religiös-konservativer Seilschaften beiträgt, ist die veröffentlichte Meinung.
Ich halte es auch nicht für einen Zufall, dass im hessischen Landtagswahlkampf im Januar 2009 der Linke-Kandidat Günter Biernoth in der Presse in die "Spinner-Ecke" gestellt wurde:
Auch ein Hexenmagier kandidiert (FR)
Üble Nachreden und Hexenkult: Linke in Hessen zerlegt sich (Bild.de)
Austritte erschüttern Hessens Linke (SpOn) unter: "Kuriose Leute arbeiten für die Fraktion"
Verraten und verkauft - Streit und Austritte bei der Linksparte (sueddeutsche.de)
Heidnischer 'Priester' will für 'Linke' in den hessischen Landtag (kath.net)

Nachtrag: Besonders hämisch äußerte sich eine Anti-"Linke" "Initiative" im hessischen Wahlkampf: DIE LINKE - Mit "schwarzer Magie" in den Landtag?

Günter Biernoth ist schon seit Jahrzehnten politisch engagiert, bei der SPD, den "Grünen" und schließlich bei der "Linken", und war lange Zeit aktiver Gewerkschaftler. Er ist allerdings auch Wicca und betreibt einen kleinen Hexenladen - vom Sortiment her in etwa mit einem Esoterik-Laden der soliden Sorte vergleichbar. Der Antwort der Parteichefin Ulrike Eifle ist eigentlich nichts hinzuzufügen: "Wenn es nicht offen sexistisch, rassistisch oder neoliberal ist, dann ist es seine Privatsache."
Eigentlich, denn hier greift eine weitere Struktur, die sich vor allem in der Kohl-Ära herausgebildet hatte, und die sicher auch vom (schlechten) Vorbild der US-Wahlkämpfe beeinflusst wurde: Politik als "Personality Show", in der das Privatleben der Politiker wichtiger ist als etwa ihre politischen Positionen, ihre Sachkenntnisse oder ihre Leistungen (und Fehlleistungen). Damit rückt etwa die Frage, ob jemand Katholik, Atheist oder Wicca ist, für die Medien in den Mittelpunkt des Interesses. Das starke Medieninteresse an solche Fragen verstärkt wiederum die Tendenz, Kandidaten nach nicht-politischen, nicht-fachlichen Kriterien wie z. B. der "richtigen Religionszugehörigkeit" auszuwählen. (Zur Abwechslung könnte man ja mal andere Dinge aus den USA übernehmen, z. B. eine Trennung zwischen Staat und Kirchen, die diesen Namen auch verdient. Oder eine Offenlegungspflicht der Einkommen der Abgeordneten, die diesen Namen verdient.)
Zum Vergleich stelle man sich einmal vor, eine Zeitung hätte thematisiert, dass ein CDU-Kandidat und engagierter Christ eine christliche Buchhandlung oder einen Devotionalienhandel betreiben würde. Auch bei einem "Grünen"-Kandidaten mit "New-Age"-Esoterikladen hätte sich die Skandalsierung sicher in Grenzen gehalten. Die Kombination "böse Linkspartei" und "komische Religion, vielleicht Satanist oder, weil Heide, Nazi-Mystiker" war ein gefundenes Fressen.
Tendenzen zu einem religiös begründeten Konservativismus gibt es auch im benachbarten Thüringen, wo mit Dieter Althaus ein aktiver Förderer des Kreationismus Ministerpräsident war, und die derzeitige Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht Mitglied in der evangelikalen missionarisch tätigen Organisation Pro Christ ist.

Ich halte es daher auch nicht für einen Zufall, dass mit Kristina Köhler ein Mitglied der sehr konservativen Selbständigen Evangelisch-Lutherische Kirche neue Bundesfamilienministerin wurde. Einerseits gilt Frau Köhler in Familienangelegenheiten als relativ liberal - jedenfalls im Vergleich zum in den Unionsparteien nach wie vor sehr stark präsenten konservativ-patriarchalischen Familienbild.
Anderseits ist ihre Position gegenüber dem Islam - nicht nur dem politisch radikalen Islamismus - die ihr sogar den (hoffentlich unerwünschten) Beifall der Anti-Islamisten des Blogs "Politically Incorrect" eintrugen - ohne ihren ausgeprägt christlich-konservativen Standpunkt kaum zu verstehen. Ich vermute, dass der christlich-konservative "Stallgeruch" ein entscheidender Faktor bei ihrer steilen Karriere ist.

Einen interessanten Aspekt der deutschen Neigung, christlich-konservative Einflüsse einfach auszublenden, zeigt ein kleines Gedankenexperiment des "Science Bloggers" und Astronomen Florian Freistetter: Kommunistische Kinderbücher?.
Während politische indoktrinierende Bücher für Vorschulkinder zurecht allgemein abgelehnt werden, sehen die meisten Menschen religiöse Bücher, wie etwa die beliebten Kinderbibeln, für Kindergartenkinder offensichtlich nicht als Problem. Genausowenig wie ein Fünfjähriger eine vernünftige und objektive Vorstellung vom Kommunismus erhalten kann, kann er religiöse Vorstellungen objektiv einschätzen.
Please don't label me
Ein häufiger Einwand ist, dass die biblischen Geschichten von den Kindern lediglich als Geschichten, etwa wie Märchen, wahrgenommen würden. Es wäre schön, wenn das immer so wäre.
Ich bin der Ansicht, dass für Kinder mythologische Texte, und das sind viele Märchen nun einmal ("gesunkene Mythen" im Sinne Jakob Grimms), Fabeln und Parabeln wichtig sind - auch und gerade für die Vermittlung von Werten. Dennoch stelle ich Kinderbibeln und Märchenbücher nicht auf die gleiche Stufe.
Bei Märchen besteht nämlich ein gesellschaftlicher Konsens, dass es sich dabei nicht um wörtlich zu nehmende Beschreibungen historischer oder naturwissenschaftlicher Tatsachen handelt.
Ein Kind bekommt in unserer Gesellschaft zwangsläufig mit, dass Märchen eben "nur" Geschichten sind, die vielleicht "irgendwo" wichtige Dinge und Wahrheiten enthalten, aber dass es die böse Hexe aus Hänsel und Gretel oder den König Drosselbart "in echt" gar nicht gibt.
Bei der Bibel ist das anders. Dieser mythologische Text ist für viele Menschen weit über die Kreise der Fundamentalisten im engeren Sinne historische oder - siehe Kreationismus - sogar naturwissenschaftliche Realität. Wenn das Kind Pech hat, hört es erst sehr spät in seinem Leben von anderen Ansichten zum Realitätsgehalt der Bibel.
So gesehen ist ein Buch, das Kinder "den christlichen Glauben vermitteln" will, immer auch ein Mittel der Indoktrination.
tom-ate - 13. Dez, 16:37

Guter Beitrag.

Eine wirkliche Trennung von Kirche und Staat steht immer noch an. Momentan treibt die Antiislamismus-Debatte viele verwirrte Geister aber eher zur Vorstellung, Kreuze würden sich in unseren Schulstuben gut machen... Die PI-Leute schaffen es, ihren Mist unter die Leute zu bringen, weil von links bis liberal alle tom-aten auf den Augen haben. Wenn das mal gut geht.

Thomas Lahme (Gast) - 18. Dez, 16:40

Die Trennung von Staat und Kirche übersieht die Psychiatrie

Dieser Artikel finde ich sehr gut. Doch wird hier ein Thema kaum berührt. Ich spreche hier von der Frage wer das Normalle bestimmt. Dabei sehe ich dass diese Frage sich vor allem in der Psychiatrie stellen tut. Hier bleibt dem Menschen entweder sich dem Artzt zu öffnen, oder lieber gleich dem Seelsorger. Der Artzt enimmt aber seine Vortsellung von Gesund und Krank einer zu tiefst von den Kirchen geprägten Kultur.

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