Nachträglicher (?) Schrecken

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit der großen Friedensdemonstrationen Anfang der 80er Jahre. Was uns auf die Straßen brachte, war einerseits der NATO-Doppelbeschluss, andererseits die Tatsache, dass mit Ronald Reagan ein außenpolitischer "Falke" mit einfach gestricktem Gut-Böse Weltbild (er bezeichnete die UdSSR und den Warschauer Pakt gern als "Evil Empire) Präsident der USA war.
Der NATO-Doppelbeschluss war sozusagen ein "Verhandeln mit vorgehaltener Pistole" - für den Fall, dass die Verhandlungen über eine beidseitige Begrenzung sowjetischer und US-amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen scheitern, war eine automatische Stationierung neuer us-amerikanischer Mittelstreckenwaffen vorgesehen. Was dann auch so kam: nach dem Scheitern der Verhandlungen wurden 1983 Marschflugkörper und neue, sehr zielgenaue Mittelstreckeraketen von Typ Pershing II in der Bundesrepublik stationiert.

Dass der Anlass - oder, wie das kleine, aber lautstarke Häufchen moskautreuer Kommunisten, die scheinbar auf keiner noch so kleinen Demo fehlten, sagte: der Vorwand - für den NATO-Beschluss, die mobilen und zielgenauen sowjetischen nuklear bestückten Mittelstreckenraketen vom Typ RT-21M "Pioner" (Nato-Codebezeichnung: SS-20) auch auf uns gerichtet waren, trug nicht unbedingt zur Beruhigung bei.
Denn bis auf eine Handvoll hartnäckiger DKPler waren wir uns darüber im Klaren, dass die sowjetischen Kriegsplanungen aller Wahrscheinlichkeit nach genau so den Einsatz von "eurostrategischen" Waffen vorsah, wie die der USA.

Der springende Punkt dabei war, dass auch den hartnäckigsten Militaristen klar war, dass ein "strategisch-nuklearer Schlagabtausch", also ein atomarer Weltkrieg, zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht beherrschbar wäre. Tatsächlich beruhte das "Gleichgewicht des Schreckens" die gegenseitige Abschreckung, auf dem Prinzip "wer zuerst schießt, stirbt als zweiter" - oder anders ausgedrückt: alle Menschen der Erde, egal wo sie lebten oder was sie taten und dachten, waren Geiseln dafür, dass sich die Großmächte nicht gegenseitig an die Gurgeln gingen.

Anders sah es mit den Konzept eines "begrenzten Atomwaffeneinsatz" aus. Der erschien offensichtlich nicht wenigen Militärs "beherrschbar" zu sein. Zumindest von der NATO wussten wir, dass sie sich die "Option des atomaren Erstschlags" im Falle eines konventionellen (nicht nuklearen) Angriffs der Warschauer Pakts vorbehielt.

Nach 1983 kippe die Stimmung. Sarkastische Lieder wie "Besuchen Sie Europa, solange es noch steht" von Geier Sturzflug oder "Alles, alles geht vorbei, durch die Pershing II" von Ludwig Hirsch lösten auf Demos oft die "klassischen" Protestsongs ab und waren regelrechte Hits, sogar im Radio.

Was ich in Erinnerung habe, war ein Klima der unterschwelligen Hoffnungslosigkeit, in der "Alternative" immer häufiger "alte Naive" genannt wurden, in der sich ein Teil der damals jungen Leute in einen hedonistischen und egoistischen Lebenstil flüchtete (ich halte die "Popper" und später auch die "Yuppies" auch für ein indirektes Produkt der Atomkriegsangst), ein andere Teil ins apokalyptische Denken unterschiedlichen Ausprägung kippte.

Was wir damals allenfalls ahnten, wurde nun aufs Schrecklichste bestätigt - dass nämlich der rücksichtslose, menschenverachtende, bedenkenlos Millionen Menschenleben zugunsten des Siegs des eigenen "Systems" opfernde und deutlich paranoide Kriegsdoktrin der NATO eine ebenso rücksichtslose, menschenverachtende, bedenkenlos Millionen Menschenleben zugunsten des Siegs des eigenen "Systems" opfernde und möglicherweise noch paranoidere Kriegsdoktrin des Warschauer Paktes gegenüber stand.

Sie war anscheinend noch paranoider, als wir damals fürchteten. Jedenfalls weist darauf ein Artikel in NZZ hin, in dem neuere Forschungsergebnisse zur Militärstrategie des Ostblocks präsentiert werden. Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa. (Gefunden beim A-Team.
Während Russland jede Einsicht in einschlägige Dokumente immer noch verweigert, haben andere osteuropäische Staaten Unterlagen freigegeben, aus denen sich die Kriegsplanungen des Warschauer Pakts, erschließen lassen. Zusammen mit der bereits aus Dokumenten aus dem "Nachlass" des DDR-Verteidigungsministeriums bekannten operativen Planung ergibt sich ein ebenso erschreckendes, wie leider glaubwürdiges, Bild der sowjetischen Kriegsplanung.

Einige Überlegungen waren mir aus Diskussionen während der 80er noch vertraut - zumindest einige Friedensforscher waren, in Kenntnis der stark ideologisch geprägten "Betonkopf"-Denkens der UdSSR-Führung, und der - historisch bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbaren - Invasions-Paranoia, schon zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Schlüsse, die sie, militärisch gesprochen, gegen die Illusion vor allem der Bundeswehrführung, man könne sich gegen einen konventionellen Angriff des Ostblocks durchaus konventionell verteidigen, die NATO-Erstschlagsoption sei also nur eine "allerletzte Möglichkeit", in Stellung brachten. Denn ihnen war klar, dass die sowjetische Führung der NATO das niemals glauben würde.
Warum also sollte der Warschaupakt in einem Krieg bis zum nuklearen Ersteinsatz der Nato warten, wenn doch die Möglichkeit bestand, durch den frühzeitigen eigenen nuklearen Ersteinsatz die Nato zumindest teilweise nuklear zu entwaffnen? Warum sollte der Warschaupakt trotz konventioneller Überlegenheit überhaupt einen konventionellen Beginn des Krieges planen, wenn durch einen in jedem Falle notwendigen Kernwaffeneinsatz der Nato der Krieg ohnehin ein nuklearer werden würde?
Was der NZZ-Artikel nun anspricht, wagte damals kaum jemand zu denken - auch wenn es völlig logisch ist:
Der Präventivkrieg bereitete keine Rechtfertigungsprobleme. Auch er war per definitionem ein Verteidigungskrieg. Natürlich würde der massive Einsatz von Nuklearwaffen Teile Westeuropas verwüsten. Doch der Sowjetunion ging es ohnehin nicht in erster Linie um die Besetzung möglichst unversehrten Territoriums, sondern zuerst und vor allem um die Zerschlagung des militärischen und politischen Gegners. Diese ideologisch geprägte Sicht erklärt zugleich, weshalb politische Entwicklungen wie die Entspannung keinen Einfluss auf die Kriegsplanung hatten. Nicht wenige hielten sie ohnehin für eine Finte des Westens.
Ich ahnte, dass die wachsende technische waffentechnische Überlegenheit des "Westens" vom "Osten" als Provokation gesehen würde und die Paranoia eine überalterten Sowjetführung anheizen würde, deren Mitglieder noch den Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die UdSSR miterlebt hatten.
Später, nach dem Ende des Ostblocks, wurde mir, auch durch Gespräche mit einem ehemaligen NVA-Offizier klar, dass die Sowjetunion jeden denkbaren Konflikt - und erst recht jeden denkbaren Krieg - mit dem "kapitalistischen Mächten" durch die Brille (oder die Scheuklappen) des Systemantagonismus sah. Es war offensichtlich: Man ging davon aus, dass die USA das sowjetische System in jedem Fall zu zerstören beabsichtigten. Interessanterweise hielt der ehemalige Hauptmann der NVA-Raketentruppen eisern daran fest, dass die Militärdoktrin des Warschauer Paktes rein defensiv gewesen wäre. Das kannte ich, bezogen auf die NATO, auch von Bundeswehroffizieren. Der Unterschied: die Überzeugung, die Gegenseite sei das "Reich des Bösen", war im "Westen" auf einige Scharfmacher beschränkt.

Das hier raubt mir noch nachträglich der Schlaf:
Mehr noch. Zwischen 1975 und 1988 häuften sich die Forderungen der sowjetischen Militärführung, einer technologischen Überlegenheit des Westens militärisch zuvorzukommen. Im September 1982 verglich Marschall Ogarkow anlässlich des Treffens der Generalstabschefs des Warschaupakts die politische Situation mit der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In Wirklichkeit hätten die USA der Sowjetunion und deren Verbündeten den Krieg bereits erklärt. Allen Anwesenden war klar, was gemeint war und was möglicherweise bevorstand
Und die NATO? Der NZZ-Artikel geht davon aus, dass die NATO-Planer schon frühzeitig erkennt hätte, dass es wahrscheinlich zu einem nuklearen Ersteinsatz durch den Warschaupakt kommen würde.
Laut NZZ hatte die NATO keine Alternative: Eine Eskalation hätte die Perspektive eines unkalkulierbaren nuklearen Schlagabtausches in Mitteleuropa bedeutet. Dieses Szenario wäre in den Nato-Staaten zu keiner Zeit vermittelbar gewesen.

Was zweifellos stimmt. So, wie die sowjetischen Kriegspläne der Bevölkerung der Ostblock-Staaten nie vermittelbar gewesen wären, weshalb sie denn auch geheim waren.

Es kam anders: Der Atomkrieg fand nicht statt. Einerseits durch der Generationswechsel in der Sowjetführung - Gorbatschow hatte weder hinsichtlich der Möglichkeit eines "gewinnbaren Atomkriegs" noch der Leistungsfähigkeit der sowjetischen Industrie irgendwelche Illusionen - und er war nicht mit dem Alptraum eines brutalen Vernichtungskriegs und dem alptraumhaften, bis in die Familien hinein von krankhaftem Misstrauen durchdrungenen, stalinschen System aufgewachsen.
Nicht zuletzt unter dem Druck ihrer Verbündeten - die wiederum nicht zuletzt vom "Druck der Straße" motiviert wurde - wurde die Politik der USA gegenüber der UdSSR pragmatischer, realistischer.

Letztes Ende hat der Umstand, dass "der Westen" wenigstens ansatzweise eine "offene Gesellschaft" war, entscheidend dazu beigetragen, dass der "heiße Krieg" in über 40 Jahren "Kaltem Krieg" nur Planspiel blieb. Hätte sich zwei autoritäre, ideologisch ausgerichtete, Blöcke gegenübergestanden, dann wäre es sehr wahrscheinlich zum Atomkrieg gekommen. (Auch so haben wir ein buchstäblich unwahrscheinliches Glück, dass wir die Jahrzehnte des "Kalten Krieges" überlebt haben.)

Ich fürchte aber, dass der Schrecken nicht wirklich zu ende ist. Ein Grund liegt darin, dass es nicht nur Veteranen des Kalten Krieges gibt, sondern auch Invaliden - geistige.
Machen wir uns nichts vor: die Generation von Politikern, die heute in den USA und in Russland regieren, die Generäle fast allen wichtigen militärischer Mächte (zu denen auch das wiedervereinigte Deutschland gehört) sind "Cold War Kids", im Kalten Krieg aufgewachsen, mit dem Weltbild des Kalten Krieges indoktriniert.
Menschen, die sozusagen automatisch in den Maßstäben militärischer Drohgebärden und militärischer Vergeltung denken. Nicht nur in der viel gescholtenen US-Regierung unter Bush jr. .

Es gibt daneben eine unangenehm große Anzahl Staaten, die sich die "Supermächte" im Kalten Krieg als Vorbild für ihre eigene Machtpolitik nehmen - "hasto Bombe, bistu Supermacht".
Der Alptraum eines politische völlig instabilen Staates mit Atomwaffen ist jedenfalls in Pakistan traurige Realität.
John Dean (Gast) - 16. Sep, 23:50

Nunja - nunja.

Zunächst muss man prüfen, auch bei dem Artikel der NZZ, wie hoch die Beweisqualität ist. Handelte es sich um einen ernsthaften Plan? Gab es diesen wirklich? Oder war es nur ein Szenario?

Denn, das sollte man wissen, wenn man sich für Militärstrategie interessiert: Wenn es nur ein Szenario war, dann gab es das Gleiche auf auf NATO-Seite.

(derartige Sandkastenspiele gehören eben zum Militär - kann man nix machen)

Oder war es mehr? War es ein ernsthafter Plan, der kurz vor der Ausführung stand? Das schreibt die NZZ:
So wartet der tschechische Historiker Petr Lunak, dessen vielbeachtetes Buch über die tschechoslowakische Kriegsplanung von 1950 bis 1990 demnächst in einer englischen Übersetzung erscheinen wird, mit zahlreichen neuen Erkenntnissen auf.
Bereits die erste Google-Fundstelle besagt zu Petr Lunak:
Petr Lunak is outreach editor in NATO's Office of Information (...)
Unabhängige Forschung funktioniert anders.

Es gut möglich, sogar sehr gut, dass dieser Mann zur Rechtfertigung von NATO-Politik und NATO-Strategie forscht - sozusagen als Informationskrieger.

Dann schreibt die NZZ:
Hinzu kommt, dass die echten Kriegspläne vielfach dicht an den Übungsszenarien liegen, die dem Westen in Ostberlin in die Hände gefallen waren.
Wenn es nach den Übungsplänen von Militärs geht, ist "der Westen" dann ja wohl auch seiner imperialistischen Bestrebungen überführt. Oft gibt es bei diesen Übungen a) eine verteidigende und b) eine angreifende Seite.

Überführt! Zumal diese Seiten für Übungszwecke gerne mal ausgetauscht werden. Das also soll ein Beweis sein??

Die Gegenschlagfähigkeit der NATO ließ sich bereits in den 50er Jahren nicht ausschalten. Stichworte: Interkontinental-Raketen. B-52. Atomschlagfähigkeit von Frankreich und Großbritannien.

Es ist ja nicht so, dass ein atomar angegriffener Gegner damit seine Gegenschlagfähigkeit einbüßt. Wie denn? Insofern habe ich da doch ein paar Zweifel daran, wie ernsthaft diese angeblichen - und ausgerechnet von Petr Lunak rekonstruierten - Pläne waren.

Dann schreibt die NZZ:
Der präemptive Krieg war schon früh in der sowjetischen Strategie etabliert. Diese sah auch die Möglichkeit vor, ihn von Anfang an auf gegnerischem Territorium auszutragen.
Öhm, das war doch über viele Jahre auch NATO-Strategie und nannte sich dort "Vorwärtsverteidigung".

MartinM, ich breche meine erste Augenscheinnahme hier mal ab. Für mich ist ziemlich klar, dass der Artikel der NZZ folgendes ist:

Militär-Propaganda

Übrigens, Petr Lunak gehört nicht zu den in der Fachwelt anerkannten Militärhistorikern.

Und ganz ähnliche Propaganda-Machwerke gab es übrigens auch in der Sowjetunion....

Jaja. Die NZZ.

John Dean (Gast) - 17. Sep, 00:03

Öhm. Es wird ja noch viel übler. Zum Autor heißt es:

"Michael Rühle leitet den Planungsstab in der politischen Abteilung der NATO in Brüssel. "

Es gab übrigens tatsächlich (und in der militärhistorischen Forschung allgemein anerkannt) eine Situation in der Weltgeschichte, wo die Welt kurz vor einem Atomkrieg stand.

Die Thematik ist allerdings durchaus angetan, insgesamt, um ein gewisses Unwohlsein zu empfinden - und nicht unbedingt Dankbarkeit gegenüber eskalativ eingestellten kalten Kriegern.

Siehe:
dieser Überblick.

Scheißthema. Einem NATO-Historiker oder gar einem Leiter der Propaganda-Abteilung der NATO glaube ich da erst einmal NICHTS. Exakt genauso wenig, wie ich Putin unbesehen etwas glauben würde.

Die NATO verfolgt eigene Interessen - aber sicherlich nicht die historisch korrekte Information der Öffentlchkeit.

Laut NATO-"Informationen" (dieselbe politische Abteilung von Herrn Rühle!) wurde Georgien im August gänzlich unprovoziert von Russland überfallen.

Deutlicher gesagt: Rühle lügt.

Möge er in der Hölle schmoren.
MMarheinecke - 17. Sep, 08:22

Militärpropaganda? Na und!

Die entscheidenden Aussagen über die Pläne des Warschauer Paktes halte ich dennoch für glaubwürdig. Gerade weil sie den eigenen Plänen der NATO aus der Zeit des kalten Krieges ziemlich ähnlich sehen - abgesehen von einer Extraportion ideologischer Verhärtung und Paranoia, die aber sehr gut zu dem passt, was über die Regierung der UdSSR in der Breschnew-Ära bekannt ist.

Was von den westlichen Plänen zur "Verwärtsverteidigung" zu halten ist, wussten wir schon in den 80ern: Klar, die NATO will den Krieg möglichst auf dem Territorium des Gegners ausfechten - das ist noch heute ihr erklärtes Prinzip, wenn man die beschönigenden Phrasen weglässt, und ebenso klar, der Ersteinsatz von Atomwaffen war vorgesehen.

Der (für meinen Geschmack viel zu geringe) Unterschied zwischen den beiden Seiten des Kalten Krieges lag nicht in den Plänen für den Kriegsfall, sondern in der gesellschaftlichen Struktur. Wäre sie im Westen ähnlich starr und monolitisch gewesen wie in der UdSSR, wäre der Krieg sicherlich ausgebrochen. Es gab zwar auch auf NATO-Seite mehr Hardliner und Präemtivschlags-Anhänger, als für ein, nach eigenen Angaben, Verteidigungsbündnis gut wäre (für den Frieden sowieso), und auch hier gab es Politiker, die die Entspannung für einen Bluff hielten (einen der UdSSR), aber sie waren zum Glück nicht im Besitz der uneingeschränkten und unkontrollierten Macht.

Und nebenbei: es stimmt zwar nicht, dass Georgien völlig unprovoziert von Russland überfallen wurde - aber eine so extrem schnelle und harte Reaktion Russlands "aus dem Stand heraus", wie sie wirklich erfolgte, wäre ein militärisches Wunder.
John Dean (Gast) - 17. Sep, 20:39

Martin, ich teile die meisten deiner Anmerkungen, an diesem Punkt hänge ich mich mal trotzdem auf (und das - obwohl ich meinen Standpunkt nicht beweisen kann):
aber eine so extrem schnelle und harte Reaktion Russlands "aus dem Stand heraus", wie sie wirklich erfolgte, wäre ein militärisches Wunder.

1. War der schnelle Einsatz der Russen ein militärisches Wunder - oder erfolgte er vorbereitet?
2. Sind die Georgier in eine Falle gelaufen?
3. Ist der Artikel-Autor Rühle ein Lügner?

Punkt 2

Den zweiten Punkt, glaube ich, kann man schnell beantworten: Nein. Die Georgier sind in keine Falle gelaufen. Wer mitten in der Nacht mit schweren Waffen, und gut vorbereitet einen massiven Beschuss von Zivilisten in der Stadt Tschinwali vornimmt (Ziel: Vertreibung und Mord), der ist meiner Einschätzung nach in keine Falle gelaufen, sondern verfolgte dabei eigene Ziele.

Ich halte SaakaSchwili für einen Kriegsverbrecher.

Allerdings gab es in den zwei Wochen vor dem Überall Georgiens bereits schwere (mehrere Tote!) Eskalationen auf beiden Seiten, und die Mehrzahl der Verletzten und Getöteten lag dabei auf Südossetischer Seite.

(dies könnte ich bei Interesse mit Links belegen)

Es gab rund eine Woche vor Ausbruch des Krieges (habe ich über eine mit Google übersetzte russische Webseite erfahren - und das deckte sich auch mit georgischen Angaben) eine Art "Konflikt-Verschickung" von rund 500 südossetischen Kindern und Jugendlichen nach Nord-Ossetien.

Beide Seiten rechneten im Laufe der Eskalation bereits mit dem Schlimmsten - einem Kriegsausbruch. Nur teile ich nicht den Standpunkt, erstens, dass der Blitzkrieg von Georgien "notwendig" oder gar gerechtfertigt gewesen war, zweitens glaube ich, dass ein wahrhaft demokratischer georgischer Präsident die weitere Eskalation einen Kriegsausbruch hätte verhindern können. SaakaSchwili wollte jedoch das Gegenteil.

Punkt 1

Der erste Punkt ist schwieriger. Ich versuche mal, eine Antwort in drei Teilen zu geben.

(Mit einem hoffentlich weitgehend zutreffenden Halb- und Dreiviertelwissen, das ich hier habe)

A) Ich bin kein Militärexperte, allerdings zeigt der Blick auf die Landkarte, dass es in Nord-Ossetien einen großes russischen Stützpunkt gibt, und meines Wissens dauert die Durchquerung des Tunnels für schweres militärisches Gerät nur wenige Stunden.

Insofern bezweifle ich, dass die Reakton der Russen notwendiger Weise unmittelbar "geplant" war. Eher denke ich, auch vor den Hintergrund früherer Konflikte, dass es fertige Aufmarschpläne der Russen gab - ja sogar geben musste im Rahmen des russischen Mandats für Süd-Ossetien.

B) Nach allen Nachrichtenquellen, die ich kenne, dauerte es mehrere Stunden (nach dem massiven Beschuss von Tschinwali durch georgisches Militär), bis die ersten russischen Panzer aus dem Tunnel auftauchten.

Eine kleinere militärische Kolonne der Russen (zur Verstärkung der zuvor beschossenen russischen Friedenstruppen) war allerdings schon unterwegs - und zwar vor dem Zeitpukt, unter dem Tschinwali unter Beschuss genommen wurde.

(Das wäre m.E. ein Indiz dafür, dass Russland nicht mit einem georgischen Blitzkrieg gerechnet hat)

Die Sache mit den Friedenstruppen - sowie die Ausrüstung der Russen änderte sich in den ersten Stunden des Konkfliktverlaufes allerdings mächtig, die dann - mit einiger Verzögerung - nachfolgenden Truppen der Russen waren schwer bewaffnet und zahlreich - und genau das musste m.E. vom georgischen Militär eigentlich vorhergesehen werden.

Es ist doch eigentlich klar: Schwerer Beschuss auf Tschinwali, dazu georgische Ultimaten an die südossetische Bevölkerung, das Land zu verlassen => sehr schwere russiche Gegenreaktion.

C) Im Gefolge der ersten 24 Stunden der Schlacht misslang die georgische Blitzkriegs-Taktik: Man hat nicht etwa den Tunnel in den ersten Kriegsstunden in Trümmer geschossen, was angeblich möglich gewesen wäre (u.a. mit NATO-GRAD-Raketenwerfern, wenn man diese schnell genug nach Norden verlegt hätte) sondern das georgische Militär rechnete darauf, dass man die Pass-Straßen kontrollieren könne - und den wertvollen Tunnel nicht zerstören müsse. Luftschläge der Russen unterbanden allerdings das weitere Vorrücken des georgischen Militärs - die wichtigen Pass-Straßen konnten nicht kontrolliert werden.

Das war offenkundig ein schwerer strategischer Irrtum des georgischen Militärs - aber deutet vom Ablauf dahin, dass es die Russen waren, die überrascht wurden.

Und nicht umgekehrt.

Punkt 3

Ja. Die Darstellungen von Rühle sind ganz offenkundig erlogen und erstunken. Die OSZE (die ich für deutlich objektiver halte als Rühle) hatte eine komplett andere Darstellung. Diese beinhaltete allerdings auch russiche und südossetische Kriegsverbrechen - allerdings nachdem der Krieg von Georgien von Zaum gebrochen wurde.

Rühle lügt.

Sein NZZ-Artikel dient ganz offenkundig dem Zweck, Militarismus, Hochrüstung, NATO-Strategien und politisches Kaltekriegertum zu rechtfertigen.

Ich habe wenig Grund dafür, Breschnew für einen guten Mann zu halten - aber ich verlasse mich anstelle von Rühle dann doch eher auf seriöse Militärhistoriker.

Dass jemand wie Achim aufgrund eines offenkundigen Propaganda-Artikels der Propaganda-Abteilung der NATO in der NZZ "Abbitte" leistet - das wirkt auf mich schon etwas skurril.

Wenn man sich der NATO-Geschichtsschreibung kritiklos anschließt, dann ist natürlich klar, was dabei heraus kommt. Umgekehrt gibt es auch wenig Grund, der Geschichtsdeutung des Warschauer Paktes zu folgen. In den letzten Wochen hat z.B. Putin mehrfach bewiesen, dass auch er ein Lügner ist.

(wobei ich ein gewisses russiches Misstrauen gegenüber der NATO durchaus gut nachvollziehen kann - das Fälschen von Beweisen und das Anmeiern der eigenen Öffentlichkeit zeigt allerdings, dass Putin ein lupenreiner Lügner ist - so wie eben auch Rühle)

John Dean (Gast) - 17. Sep, 23:28

Als Lesetipp (quasi als Ausgleich zum Rühle-Artikel in der NZZ) empfehle ich diesen älteren Spiegel-Artikel. (PDF)

(Martin, ich schätze, dir ist das alles schon bekannt. Vielleicht guckt aber mal Achim rein. Oft haben die militärstrategische Fragen mehr als nur eine Seite.)

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