Präventionitis

Dieser Beitrag schließt sich an meine Gedanken zu Kultur der Angst an.

"Ängstliche Angstmacher", wie unser Bundesinnenminister, rufen gerne nach Prävention. Das Wort "Prävention", oder schlicht "Vorsorge", hat einen guten Ruf, der sich aus der Alltagserfahrung ergibt - regelmäßig Zähneputzen erspart schmerzhafte Karies, Ölstandkontrolle den Motorschaden und ein vernünftiges Türschloss so manchen Einbruchsdiebstahl.
Für ängstliche Menschen hat die Prävention noch eine andere Funktion: Angstabwehr. Ich erinnere mich an eine Nachbarin, die schreckliche Angst vor Einbrechern hatte. Bevor sie schlafen ging, kontrollierte sie jedes Mal ihre Schlösser - das gab ihr das nötige Gefühl der Sicherheit, um ruhig schlafen zu können. Sie war sich allerdings bewusst, dass ihre Turschloßkontrolle eine Marotte war, wie sie sagte. Angsterfüllte Politiker oder "Sicherheitsexperten" reflektieren ihre Ängste und ihre Angst-Abwehr-Rituale dagegen nicht - im Gegenteil, sie bestreiten nicht selten, dass sie überhaupt Angst hätten.

Manchmal müssen Experten, die nach Prävention rufen, erst die Angst erwecken, die mit der jeweils vorgeschlagene Maßnahme abgewehrt werden soll.
Wenn also das Gesundheitsministerium feststellt, dass 63 Prozent der Jugendlichen gerne besser aussehen würden, dann zucke spontan mit den Achseln: Na und? In der Pubertät ist man eben mit sich selbst und der Welt nicht im Reinen, ich fand damals z. B. meine unreine Haut katastrophal, obwohl ich sonst nicht sonderlich eitel war, und habe Unmengen an Aknemitteln durchprobiert. Irgendwann war diese Phase vorbei, übrigens vor dem Ende der Pubertätsakne.
Im Kontext mit Magersucht und ähnlichen Selbstwahrnehmungsstörungen ist es vielleicht interessant zu wissen, wie weit verbreitet die Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen ist, vor allem, ob diese Unzufriedenheit zugenommen hat, aber "beunruhigend" finde ich diese Zahlen nicht.
Aber der Verbraucherminister findet es beunruhigend - und fordert (wieder einmal) mehr Anleitung zum gesunden Essen. Als Patentrezept sowohl gegen Übergewicht wie gegen Magersucht.
(Mein Vorschlag: da weder Gesundheitsministerin Ulla Schmidt noch Verbraucherminister Horst Seehofer sonderlich schlank und durchtrainiert aussehen, sollten sie solche Ermahnungen besser der hageren Familienministerin Ursula von der Leyen überlassen.)

So wie es auf eine konkrete Gefahr gerichtete Ängste und abstrakte Ängste gibt, so gibt es auch auf die Abwehr konkreter Gefahren gerichtete Präventionsmaßnahmen, deren Erfolg oder Misserfolg eindeutig erkennbar sind - ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen wären Schutzimpfungen - und solche, bei denen die Gefahr diffus ist und Erfolge oder Misserfolge schwer nachweisbar sind - ein Beispiel wären Kampagnen zur "gesunden Ernährung". Antiraucherprogramme liegen in etwa dazwischen.

Präventionsprogrammen gegen diffuse Bedrohungen, egal, ob sie aus dem Bereich Gesundheit, Jugendschutz ("Killerspiele") oder Terrorismusbekämpfung stammen, haben folgende gemeinsame Merkmale:
  • Für "abstrakte" Präventionsprogramme ist grundsätzlich jeder Einzelne ein Risikofaktor. Die "Schuld" wird auf den Einzelnen abgeladen. Bei Gesundheitsprogrammen äußert sich das in Bevormundung, bei der Kriminalprävention im Generalverdacht - im Falle Jugendschutz ist beides möglich.
  • Wer Zweifel am Sinn der Präventionsmaßnahme hegt, dem wird Angst gemacht. Gelingt das nicht, wird der Zweifler mit Hinweisen auf die Dringlichkeit des Problems zum Schweigen gebracht. Nicht selten wird der Kritiker selbst als "Gefährder" wahrgenommen oder als "kriminell" angeprangert.
  • Blinder Aktionismus: Immer muss sofort etwas geschehen. Egal, ob es überhaupt handfeste Erkenntnisse über Art und Ausmaß der Bedrohung gibt. Oft reichen schon vermutete oder gefühlte Bedrohungen aus.
  • Präventive Logik ist expansiv: Wenn eine Präventionsmaßnahme nichts gefruchtet hat, dann muss eben die nächste Maßnahme nachgeschoben werden. Reflexionen darüber, ob die Prävention überhaupt sinnvoll ist, unterbleiben. (Anders etwa als bei Vorbeugung mit konkreter Zielsetzung.)
Egal, auf welchem Gebiet diese von politischen Angstbeißern angestoßenen Präventionsprogramme wirken, ob gegen die "demographische Zeitbombe" oder die "Jugendkriminatlität", gegen "Volkskrankheiten" oder "Terrorismus" - rechtsstaatliche Regularien, vor allem Bürgerrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, gelten als hinderliche Förmlichkeiten. (Einige durch Präventionitis berohte Rechte: Ärztliche Schweigepflicht, Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Fernmeldegeheimnis, Recht auf freie Berufswahl, Versammlungsrecht, Elternrecht usw. usw. .)

Die ängstlichen Angstmacher bahnen den Weg in den Präventionsstaat.

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