Meinungsfreiheit und Gegenradikalismus

Die Presse hat das Recht, Informantenbeziehungen zu verheimlichen. Und zwar aus gutem Grund.
Briefe unterliegen dem Briefgeheimnis. Aus vielen guten Gründen.

Beides sind Grundrechte.

Beides auf einmal wurde vom BKA verletzt, als die Post an bestimmte Berliner Zeitungsverlage durchsucht wurde. Post der Berliner Presse durchsucht.
Ein Gericht billigte die Kontrolle durch das BKA. Die Behörde war auf der Suche nach Spuren der "Militanten Gruppe". Ein presserechtlich garantierter Schutz von Informanten ist so nicht möglich.
(Nur zur Erinnerung für jene, die sich beruhigt zurücklehnen, weil ja der Zugriff auf die auf Vorrat gespeicherten Verbindungsdaten "richterlich genehmigt" werden muss. Und auch zur Erinnerung: die "Militante Gruppe" tat durch Brandstiftungen an Autos in Erscheinung. So kriminell das auch ist: Terrorismus sieht anders aus.)

Tja, und ob das nicht genug wäre, wurden die Telefone der Redaktion auch gleich abgehört: Bundeskriminalamt spähte Tagesspiegel aus.
Auch andere Zeitungen sind betroffen.

Dass auch Journalisten des NDR abgehört wurden, passt ins Bild.

Nicht ins Bild passen will die eher zurückhaltende Reaktion der Medien. Und der fehlende öffentliche Aufschrei über die Aushebelung der Bürgerrechte. Nicht nur bei uns traditionell "obrigkeitshörigen" Deutschen, sondern auch in Ländern mit langer demokratischer Tradition: Großbritannien, die USA, Frankreich.

Der "vorauseilenden Gehorsam" des Mainstreams der Massenmedien hat meines Erachtens mehrere Ursachen. Eine ist auch für die freiheitsbedrohenden Bestrebungen in Politik, Polizei, Justiz mitverantwortlich: der "Gegenradikalismus".

1987, noch unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus und der staatlichen und öffentlichen Reaktion, schrieb Ralph Giordano:
Die bundesdeutsche Variante des internationalen Terrorismus nun hat einen Gegenradikalismus beflügelt, der lange auf solch glänzenden Vorwand gelauert hat, seine Ziele erfolgreicher als bisher durchzusetzen: mehr Staat, mehr Polizei, rigorosere Gesetze, Abbau der demokratischen Rechte und Freiheiten, ein Klima der geistiger Reglementierung, Diskriminierung von Intellektuellen - im ganzen Reaktionen, die haargenau denen des Terrorismus entsprechen, nämlich die andere Hälfte zur Zerstörung des Rechtsstaates beizutragen.
Keine Mißverständnisse - der Gegenradikalismus ist nicht das Produkt, nicht das Geschöpf des Terrorismus, sondern die zeitgenössische Spielart einer konservativen Kraft, die aus der Tiefe der deutschen Reichsgeschichte bis in unsere Gegenwart hinnein wirkt. Er ist die Entsprechung des Terrorismus auf der Palette der heutigen Gewaltskala - mit dem Unterschied, daß dem Gegenradikalismus der Staatsapparat zur Verfügung steht.
Aus: "Die zweite Schuld", Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1987.

Hier ein Einwurf: Giordarnos Beschreibung ist auch für den heutigen Gegenterrorismus gültig - mit der Einschränkung, dass er die Quelle der "zeitgenössische Spielart einer konservativen Kraft" in der (obrigkeitsstaatlichen) "deutschen Reichsgeschichte" sah. Das ist eine der Quellen des '"Gegenradikalismus", aber, wie ein Blick über die Grenzen zeigt, bei weitem nicht die Einzige.

Ich bin der Ansicht, dass die selbe "konservative Kraft" auch in anderen westlichen Demokratien am Werk ist. Sie hat viele Namen, einer ist "Gegenmoderne", und es ist bezeichnend, dass so unterschiedliche Denker wie Adorno, Popper und Foucault sich schon vor Jahrzehnten auf unterschiedliche Weise und mit sich ergänzenden Schlussfolgerungen mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben.

Der Gegenradikalismus ist, um auf Giordano zurückzukommen, geprägt von einer tiefen Furcht vor sozialen Veränderungen. Auch wenn sich technisch, ökonomisch, gesellschaftlich noch so viel verändert, die Verhältnisse sollen so bleiben, wie sie mal waren. Also faktisch eine reaktionäre Haltung, denn es geht nicht um die "Bewahrung des Bewährten", sondern um die Wiederherstellung eines vergangenen, nostalgisch herbeigesehnten, "Sollzustandes": "Es war noch alles in Ordnung damals, als Männer noch richtige Männer, Frauen noch richtige Frauen waren!" ("und kleine, pelzige Wesen von Alpha Centauri noch richtige kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri" - diesen Spruch kann ich mir einfach nicht verkneifen.)
Giordano erkannte damals richtig, dass die entscheidenden Veränderungen von der entstehenden "postindustriellen Computergesellschaft" ausgehen werden. Es ist m. E. also kein Zufall, dass das Misstrauen der heutigen Gegenradikalen sich vor allem auf die "Computerkultur" und die durch sie verursachten gesellschaftlichen Veränderungen richtet. Den Gegenradikalen geht es dabei nicht um die Abschaffung der technischen Mittel, sondern um ihre Kontrolle - und darum, sie möglichst unauffällig in bestehende Machtstrukturen einzubinden. Es soll z. B. im Journalismus so sein wie "in der guten alten Zeit": es gab Verleger, Redaktionen mit einem verantwortlichen Chefredakteur, und die Beteiligung des einfachen Bürgers bestand in Leserbriefen.
Oder in Musikindustrie: ohne die Musikindustrie lief einfach nichts. Oder in der Telekommunikation: jeder hatte nur ein Telefon, das stand fest bei ihm zuhause und wurde von einem staatlichen Monopolisten betrieben. Alles schön übersichtlich, streng hierarchisch, top-down. Und nun kommt z. B. dieses Internetdingens. Das grenzt ja an Anarchie. Das muss dringend kontrolliert, reglementiert und deformiert werden, auf das die "gute alte Zeit" wiederkehrt.

Am Rande bemerkt: auch die Dschihadisten, die gewalttätigen Islamisten, sind kulturelle Nostalgiker: gegen die technische Moderne haben sie nichts. Gesellschaftlich streben sie aber die Wiederherstellung der "gottgewollten" frühislamischen Gesellschaftsordnung (oder dem, was sie sich darunter vorstellen) an. Ihre (Propaganda-) Märchen beginnen wie die der westlichen konservativ-restaurativen Gegenradikalen mit "Es war einmal". Das ist der große Gegensatz z. B. zum Kommunismus, auch in seiner totalitären stalinistischen Variante, aber auch zu bürgerlichen und sogar neokonservativen Weltanschaungen, soweit diese auf Veränderungen, auf "Fortschritt" setzen, sogar zu weiten Teilen der faschistischen Ideologien: die Märchen dieser "Zwangsbeglücker" beginnen mit "Es wird einmal".

Um auf das Eingangsthema zurückzukommen: Ich bin der Ansicht, dass viele Verleger und "Qualitätsjournalisten" die Angst konservativ-restaurativer Politiker vor dem durch technischen Fortschritt ermöglichten gesellschaftlichen Wandel teilen, und deshalb die Gefahren, die auch ihnen durch die Überwachungsgesellschaft drohen, beiseite schieben. Hinzu kommt, dass es in den Medien nicht an angstgesteuerten Gegenradikalen mangelt - Gegenradikalen sowohl gegen den dschihadistischen Terror als auch gegen "bürgerlichen Ungehorsam", gegen Protestbewegungen.

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