"Summer of Love VI" - die unvollständige sexuelle Revolution

In lockerer Folge schreibe ich im Laufe der Sommermonate über den "Sommer of Love" 1967, der in Wirklichkeit ein politisch, gesellschaftlich und kulturell "heißer" Sommer war, schreiben. Bisher gab es schon einen kleinen ironischen Text zum "Sommer of Love", einen Artikel zum "heißen Frühsommer" im West-Berlin des Jahres 1967 und einen kleinen Aufsatz, in dem ich zu zeigen versuchte, dass die Hippies mehr als nur "Blumenkinder" waren. Das Ende des chemischen Pfingstens schließt sich inhaltlich an die Beitrag LSD - die "Wunderdroge" und den nicht zur "Serie" gehörenden Text 70 Jahre Marihuana-Verbot an.
Was wäre der "Summer of Love" ohne Freiluft-Sex? Und was wäre die "wilden 60er" ohne "Sexuelle Revolution"?

Die Theoretiker
Der Begriff "Sexuelle Revolution" geht auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich zurück. Er schrieb sein berühmtes Buch, das ursprünglich den Titel "Die Sexualität in Kulturkampf" trug, bereits 1936. Nach seiner Emigration in die USA schrieb er eine eine erweiterte englischsprachige Fassung "The Sexual Revolution", die 1945 erschien.
Nach Reichs Auffassung bringen Doppelmoral und Unterdrückung der vitalen sexuellen Triebe Persönlichkeitsdeformationen mit sich und führen so zu Aggression und Frustration, welche verdrängt würden und sich oft in Lust an Herrschaft und Hierarchie ein Ventil schaffen müssten.
Reich war der Ansicht, dass eine Befreiung der Sexualität eine friedliche Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen mit sich bringen würde, eine gewaltfreie Revolution. Menschen, die in befriedigenden sexuellen Zusammenhängen leben, lassen sich nicht so bereitwillig wie sexuell Frustrierte in Herrschaftsstrukturen einbinden oder zu Gewalttaten mobilisieren. (Wer hier den Ursprung des bekannten Hippiespruches "Make Love, not War" sucht, liegt richtig!) Eine unterdrückte Sexualität lähmt die kreativen Potenziale eines Menschen (in dieser Hinsicht vertrat er einen anderen Ansatz als Freud) - und können deshalb der Unterdrückung durch das kapitalistische System nicht viel entgegensetzen. Reich war Kommunist - allerdings einer, der schon 1936 die UdSSR als staatskapitalistisch und strukturell faschistisch entlarvte.

Der wesentliche "Vordenker" der "68er-Bewegung" war der "Freudomarxist" Herbert Marcuse, der sich ebenfalls Gedanken um eine "sexuelle Revolution" machte und dabei in seinem Werk "Triebstruktur und Gesellschaft" einen etwas Ansatz als Reich vertrat: Marcuse zentraler Begriff dabei war der "Eros", den er als (heute verdrängtes) Lustprinzip begriff und der weit mehr umfasste als "Sexualität". Er war der Ansicht, dass es ein "befreiter Eros" nicht zum Untergang der Kultur führen würde (was Freund befürchtete), sonders dass es zu einer Selbst-Sublimierung der Sexualität käme. Dank des "befreiten Eros" und des überwundenen Realitätsprinzips (das ich ganz grob mit "Sachzwang-Denken" umreißen möchte, und dessen herrschende Ausprägung das allgegenwärtige Leistungsprinzio ist) wäre "kultiviertere" Beziehungen der Individuen untereinander möglichen. Marcuse geht von einer dem Eros innewohnenden "libidinösen Moral" aus, die nach der Abschaffung der "zusätzlichen Unterdrückung" ( und der damit verbundenen Herrschaftsformen zur Ausprägung einer befreiten Gesellschaft führen könnte. Marcuse hielt eine Überwindung der patriarchaler und institutionalisierter Kleinfamilie für möglich und nötig.

Die Liberalisierung des Sexualstrafrechts
Die "Sexuelle Revolution" der 1960er und 1970er war, gemessen an dem, was sich Reich vorstellte, allenfalls ein revolutionäres Geplänkel. Trotzdem veränderte sie die Gesellschaft grundliegend, und zwar nicht nur im "Westen".
In gewisser Hinsicht war die "sexuelle Revolution" z.B. in der DDR erfolgreicher als in der BRD. In der DDR gab es nur eine Gegenkraft, den Staat, der in Sachen sexuellen Freiheiten oft bereitwillig nachgab (bei andere Freiheiten dagegen umso weniger) und die Emanzipation der Frau schon aus Arbeitskräftemangel förderte. Im "Westen" hatten es die "sexuellen Revolutionäre" mit mehreren Gegnern zu tun, wobei die entschiedensten Gegner betont katholische Politiker, Publizisten und "Medienzaren" waren.
Was sich in der west-deutschen Gesellschaft seit den 1950 Jahren in Sachen sexuelle Selbstbestimmung alles veränderte, kann man deutlich an den Gesetzen erkennen: Bis zu den großen Strafrechtsreformen 1969 und 1973 waren außereheliche Sexualität, Homosexualität und Pornografie generell strafbar. Schutzgut war nicht die Sexuelle Selbstbestimmung, sondern die Sittlichkeit und öffentliche Moral. Neben dem § 175 StGB, nach dem jeder Schwule und jede Lesbe sozusagen mit einem Bein im Knast stand, war der "Kuppeleiparagraph" § 180 StGB besonders heikel, der die Förderung oder Tolerierung von vorehelichem Geschlechtsverkehr ("Unzucht") unter Strafe stellte. Es z. B. war unter Strafandrohung verboten, einem unverheirateten Paar ein gemeinsames Hotelzimmer zu vermieten.
Die Anhänger der "Sexuellen Revolution" waren für eine Abschaffung völlige Abschaffung des Sexualstrafrechts. Da dies auch die Streichung der Paragraphen 174 bis 176 des StGB, die den sexuellen Missbrauch von Gefangenen und Kranken sowie Abhängigen, homosexuelle Handlungen an Jugendlichen sowie den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellen, bedeuten würde, war diese Forderung selbst in linken und alternativen Kreisen nicht mehrheitsfähig. Als die GRÜNEN diese Forderung Anfang der 1980er Jahre noch einmal erhoben, wurde das von breiten Teilen der Presse und Öffentlichkeit als Beleg für eine pädophilenfreundliche Haltung innerhalb der GRÜNEN gesehen und von politischen Gegnern begierig aufgegriffen, was im Landtagswahlkampf 1985 zum "Kindersexskandal" führte. Tatsächlich gab es bei den GRÜNEN eine aktive pro-pädophile Gruppe, die die breite innerparteiliche Strömung für mehr sexuelle Freiheit instrumentalisierte.

Die "Pille" - und die Folgen
Es gab eine chemische Substanz, die vor allem jungen Menschen in den "wilden 60ern" mehr in Aufruhr versetzte, als Rockmusik und alle Drogen zusammen: Die "Pille".
An und für sich waren Medikamente zur Empfängnisverhütung "nur" weitere Verhütungsmittel. Aber der bloße Umstand, dass es Medikamente waren, und keine mechanischen Vorrichtungen wie Kondome oder die "Spirale" - die "Pille" verhieß die totale Emanzipation des Menschen von seiner Biologie. Was von kirchlicher, vor allem katholischer Seite gleich zum Vorwurf führte, dass die "Pille" Gottes Willen in die Hände pfuschen würde. Damit geriet die "Pille" von Anfang an in eine heftige Diskussion, die eine heftige Debatte der Sexualität, die Wiederum eine heftige Debatte über sexuelle Tabus, Familienstruktur, Patriarchat und Unterdrückung der Frau zu Folge hatte. Schließlich wurden, dank "Pille", endlich auch abseits der Fachkreise Sexualität und Vermehrung unabhängig voneinander diskutiert. Vorher hatte mehr oder weniger das Leitbild vorgeherrscht, dass der Spaß am Sex nur ein "Ausgleich der Natur" (oder Gottes) für die "Mühen von Schwangerschaft und Kinderaufzucht" seien, Sex "nur des Vergnügens wegen" also etwas "widernatürliches" sei.
Man kann sagen, dass ohne die "Pille" der "Summer of Love" nicht denkbar gewesen wäre.

Im Alltag führte das zuverlässige und diskrete Verhütungsmittel in Tabletten- oder Drageeform zu einem entspannteren Sexualleben, sowohl innerhalb wie außerhalb der Ehen. Was dann zu einer entspannteren Diskussion sexueller Fragen führte.
Davon profitierten auch andere Verhütungsmittel: Die fortschreitende sexuelle Befreiung ließ sich, zumindest in westdeutschen Großstädten, an den Kondom-Automaten ablesen. Um 1955 gab es sie noch nicht, Kondome gab es nur in der Apotheke, "unterm Ladentisch" bei Friseuren und in einigen Drogerien, und im diskreten Versandhandel (das war lange das Hauptgeschäft des Beate-Use-Versands). Um 1960 tauchten die ersten Automaten zunächst in Männerklos auf. Schließlich, Ende der 60er, gab es sie auch im "öffentlichen Raum". Es dauerte aber noch bis zum "AIDS-Zeitalter" Anfang der 80er bis die "Gummis" auch in allen Supermärkten mit "Vollsortiment" zu finden waren.

Die Praxis der "sexuellen Revolutionäre" in Westdeutschland
"Pille", Popkultur und allgemeine Ausbruchstimmung hatte schon längst einen Wandel der Sexualmoral eingeleitet, und die offen sexualfreundliche Hippie-Subkultur stand längst in voller Blüte, als die nachmals "68er" genannte, breite "linke" Strömung, die Forderung nach sexuellen Freiheiten aufgriff. Einig taten das nicht nur verbal ("Kommune 1" usw.).

Einerseits wollte man sich - wie andere, unpolitische junge und weniger junge Menschen auch - von der bigotten Prüderie der 1950er-Jahre befreien, andererseits war die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung groß - und Marcuse und Reich zeigten, wie wichtig eine befreite Sexualität für eine befreite Gesellschaft wäre. Durch die Unterdrückung von vitalen Trieben sahen viele 68er den Menschen in seiner Persönlichkeit deformiert; die Gedanken Reichs ("Die Massenpsychologie des Faschismus") legten nahe, in der sexuellen Unterdrückung die Ursache für die Bereitschaft, anderen Menschen so Entsetzliches anzutun, wie es die Nazis taten, zu sehen.

Wichtig für das Interesse vieler "68er" an der Sexuellen Revolution war die Tatsachen, dass die "neuen sexuellen Freiheiten" - die sich die Menschen einfach nahmen, die Strafrechtsreform folgte später - vehement von kirchlich/konservativen Kreisen bekämpft wurden. Sie hatten damit einen Gegner gefunden, der auch der Gegner gesellschaftlich liberal denkender Menschen aus anderen politischen Lagern war, was zu Folge hatte, dass die auf sexuelle Befreiung gerichteten Forderungen der "68er" sehr viel stärkere gesellschaftliche Veränderungen hervorriefen, als andere Ziele. Die "68er" politisierten die "stille Sexuelle Revolution", nutzten sie für ihre Zwecke - während umgekehrt die politisierte "Sexuelle Revolution" der "unpolitischen" sexuellen Emanzipation half. Zumindest meistens.
Aus der "68er-Bewegung" rekrutierten sich auch die ersten Vertreter der "zweiten deutschen Schwulenbewegung". Allerdings taten sich selbst viele "Linke" und "Emanzipierte" damals noch mit der Schwulenemanzipation schwer. Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander.
Das war ein zentrales Problem der "Sexuellen Revolution" war. Die theoretisierenden Studenten und Junggelehrte waren in der Praxis eher sexuell verklemmt als "sexuell befreit" - was allerdings, berücksichtigt man in welchen gesellschaftlichen Klima sie aufgewachsen waren, nicht überraschen mag.
Daneben gab es auch Unverklemmte, die einfach "loslegten", vor allem unter Einfluss der Hippie-Subkultur (wobei es auch verklemmte Hippies gab). Die Schnittmenge zwischen Theoretikern und Praktikern dürfte sehr klein gewesen sein. Ein weiteres Problem waren die "Übereifrigen" und Sektierer, die einzelne Aussagen Reichs und Marcuses quasi zu Dogmen erhoben, und z. B. die Kleinfamilie mit einem Eifer attackierten, der die Position der Gegner einer befreiten Sexualität eher stärkte.
Es lag, allen Übertreibungen, Missverständnissen, Ideologisierungsversuchen usw. zum Trotzt bestimmt nicht an den "68ern", dass die "sexuelle Revolution" unvollständig blieb.

Die "Sexwelle"
Die sexuellen Revolution, die auf die Befreiung der sexuellen Bedürfnisse und letzten Endes auf grundlegende Veränderung der Gesellschaft abzielte, blieb unvollständig: sie kam über trotz allem wichtig Ansätze nicht hinaus. Es gab eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts, erste Erfolge der Schwulen- und Lesbenemanzipation, die (teilweise) sexuell liberale Hippiekultur. Vor allem aber gab es die "Sexwelle". Die liberaleren Gesetze und das allgemein "sexfreundlicher" gesellschaftliche Klima ermöglichten ab Mitte der 60er Jahre eine bisher nicht dagewesene Vermarktung der Sexualität - wobei die besonders gewinnträchtige Pornographie in der Bundesrepublik Deutschland erst 1971 legalisiert wurde. Auf Verlauf und bizarre Auswüchse der "Sexwelle" gehe ich hier nicht näher ein, es sollte aber erwähnt werden, dass die Anhänger der Sexuellen Revolution von dieser Entwicklung nicht gerade begeistert waren. Besonders kritisiert wurde, dass fast nur die überkommenen sexuellen Normen und Verhaltensweisen, also die "unbefreite" Sexualität, dargestellt und propagiert wurde, und dass das "Gefühl" gegenüber der "Orgasmus-Mechanik" ins Hintertreffen geriet. Das Frauenbild der "Sexwelle" war - vorsichtig ausdrückt - meistens arg emanzipationsfeindlich, es wurden fast nur "Männerphantasien" bedient. Sex wurde lediglich vermarktet und das ursprüngliche Ziel der Sexuellen Revolution in Sinne Reichs, die "charakterliche Selbststeuerung des Menschen" - nicht einmal angestrebt. Im Rückblick lässt sich aber sagen, dass die viel geschmähte Sexwelle doch einiges zur sexuellen Emanzipation beitrug, einfach, weil sie zur Auseinandersetzung mit Sexualität förmlich zwang. Eine Verdrängung der Sexualität hinter verschlossen Schlafzimmertüren, wie noch in den 50er Jahren, war in einer Gesellschaft, in der die Kioske voller "Softpornos" hängen, einfach nicht mehr möglich.

Der vorzeitige Abbruch der "Sexuellen Revolution"
Nicht nur gemessen an den tendenziell utopischen Maßstäben Reichs und ganz bestimmt utopischen Marcuses, sondern auch an den pragmatischen einer echten "sexuellen Selbstbestimmung", einer "befreiten Sexualität", ist die "Sexuelle Revolution" ein Torso geblieben. Schlimmer noch: spätestens seit den 80er Jahren ist auf vielen Gebieten eine "sexuelle Gegenrevolution" zu spüren, die heute, im Zuge des Rückgriffs auf "christlich-abendländische" Werte, auch gesetzgeberische Errungenschaften der "sexuellen Revolution" angreift - ich denke da z. B. an den Gesetzentwurf für den neuen §184b StGB und den neuen §182 StGB, die möglichen Konsequenzen dieser Sexualstraftrechtsreform hat "Twister" auf telepolis beschrieben: Starker Anstieg der Kinderpornographie im Netz erwartet. Wieso?
Der Begriff Kinderpornographie wird durch das Gesetz verändert, durch Kinder- und Jugendpornographie ersetzt. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass das in Diskussionen oft verwandte "Bild des penetrierten Säuglings" mit dem Bild eines fast 18-Jährigen gleichgesetzt wird, welcher sich nackt zeigt.
Eine Beschreibung des "Rollbacks" und seiner Ursachen sprengt den Rahmen dieses Artikels; ich werde mich aber des Themas wider annehmen.

Einer der Gründe dafür, dass die "Sexuelle Revoltion" ein Torso blieb, war die Macht der Gegenkräfte, von den Kirchen bis zu den überwiegend kulturell konservativen Medien. Die (die Doppelmoral lässt grüßen!) dennoch in vielen Fällen gern von der "Sexwelle" profitierten. Ein besonders drastisches Beispiel dieser Doppelmoral ist bis heute die BILD.

Ein weitere liegt schlicht in der "Macht des Gewohnten". Was man immer auch über lebenslange Einehe, Kleinfamilie mit Hausvorstand und das Rollenmodell "treusorgende Hausfrau und Mutter" denkt - solche Ideale bieten Halt, so wenig die Realität den damit verbundenen "Heile Welt"-Vorstellungen entspricht. Auch der rigide Moralkodex der Kirchen bietet Halt und Orientierung - und der der katholischen Kirche sogar den Service der Gewissens-Erleichterung durch Beichte. Dem gläubigen Protestant steht diese Möglichkeit nicht offen - und wenn besagte Protestant dann noch einer Richtung mit besonders rigidem Moralkodex anhängt, dürfte das schlechte Gewissen zum alles beherrschenden Lebensgefühl werden. Ein schlechtes Gewissen, das (so meine Hypothese) sich im moralischen Aktionismus Luft macht.
Oft wird behauptet, ein Fehler der "68er" sei es gewesen, den "Sex politisiert" zu haben. Das sehe ich nicht ganz so. Problematisch war aber bestimmt die enge Verknüpfung linker politischer Utopien mit der Idee der sexuellen Befreiung. Dadurch konnte bei einem großen Teil der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen / erweckt werden, dass jeder, der sich für mehr sexuelle Freiheit einsetzt, ein "Linksradikaler" und ein "Feind der Familie" sei. Womit dann konservative (und reaktionäre) Medien und Parteien bis heute hausieren gehen.

Einen wesentlichen Grund für den Abbruch der "Sexuellen Revolution" sehe ich darin, dass die "Sexuellen Befreier" und große Teile die Frauenbewegung seit Anfang der 70er Jahre unnötigerweise gegeneinander arbeiteten. Tatsächlich muss man Feministinnen vom Schlage Alice Schwarzers de facto zu den "Gegnerinnen der Sexuellen Revolution" zählen, obwohl auch ihr Ideal das der sexuellen Befreiung ist. Leider waren viele Vertreter der Idee der "sexuellen Revolution" noch tief in alten patriarchalischen Vorstellungen gefangen - was in der Praxis zu "Macho-Verhalten" führte, dass von den Feministinnen natürlich nicht geduldet wurde. Noch schwerer wirkte es sich aus, dass die "Sexwelle" eine Flut frauen-verachtender Klischees produzierte, gegen die die Feministinnen sich zurecht wehrten. (Der entblößte Frauen-Po auf dem "Stern"-Titelblatt, gegen den Alice Schwarzer prozessierte, war allerdings ein vergleichsweise harmloses "Macho-Klischee".)
Wahrscheinlich waren es sogar Auseinandersetzung innerhalb der Frauenbewegung, die berüchtigten "Feminist Sex Wars", die zu dieser verhärteten Position führte: der "sexuellen Revolution" einschließlich der Toleranz gegenüber Pornographie, sadomasochistischer Praktiken und freiwilliger Prostitution ohne Zuhälter gegenüber wohlwollende (oft lesbische) Feministinnen gegen Feministinnen, die sich in erster Linie durch Männergewalt bedroht sahen, in der Angst- und Gewaltfreiheit das Ziel der sexuellen Befreiung sahen, und deshalb Pornographie, freiwillige Prostitution und BDSM in jeder Form wegen der Verknüfung von Gewalt und Sex ablehnten.
Als dann um 1978 die "Sexismus-Kampagne" begann, die Mitte der 80er in die "PorNo!"-Kampagne zum Verbot der Pornographie mündete, war der Bruch zwischen "sexuellen Befreiern" und dem "Mainstream" der Frauenbewegung längst vollzogen.
Die Idee, dass der Hauptzweck jeder Pornografie nicht die sexuelle Erregung des Betrachters, sondern die Unterdrückung der Frau sei, stammt ironischerweise aus den patriachatskritischen Diskursen der 60er-Jahre, die bei anderen Teilnehmern zur Forderung nach Freigabe der Pornographie mündeten. Interessant ist, dass schwule und lesbische Pornografie und lesbische BDSM bei der Diskussion lange Zeit weitgehend ausgeblendet blieben. Feministische Kritik an Pornografie im Sinne der PorNO-Kampagne gleicht der traditionellen Sexualmoral: jegliche Toleranz gegenüber von der "Norm" (die weiter gefasst ist als die tradionelle "Norm" -- gleichgeschlechtlicher Kuschelsex geht immerhin Ordnung) abweichenden Sexualitätsformen zu katastrophalen gesellschaftlichen Wirkungen. Also genau das Gegenteil der Positionen der "Sexuellen Revolution".

Ein weiterer, oft genannter Grund für den "Abbruch" der Sexuellen Revolution ist der "AIDS"-Schock der 80er Jahre. Ich bin allerdings der Ansicht, dass dieser Schock ohne flankierende, oft bewusst zugunsten der "traditionellen Sexualmoral" geschürte "AIDS-Panik" nicht annähernd die tatsächlich beobachteten Auswirkungen auf die sexuelle Selbstbestimmung gehabt hätte. Auf einmal gab es ein "medizinisches Argument" gegen Schwule und gegen außerehelichen Sex. Die traditionelle Sexualmoral wurden von da an nicht nur als "gesund" im moralischen, sondern auch im medizinischen Sinne propagiert.

Eine ganz andere Frage ist die nach dem Missbrauch der Ideale der "Sexuellen Revolution", z. B. durch von den Medien so genannte "Sex-Gurus" wie Otto Mühl. Aber auch das sprengt den Rahmen dieses Beitrags - aber ich werde darüber schreiben.

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panthol.twoday.net - 29. Aug, 10:11

Was unterdrückte Triebe so anrichten ....

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