Wie faschistisch war Roosevelts "New Deal"?

Ein gekoppelter Linktipp: Auf eine sehr lesenwerte Besprechung von Walfgang Schivelbuschs Buch Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal 1933-1939 von statler (liberaler Volkswirt) Entfernte Verwandtschaft und die sehr treffende und kenntnisreiche Entgegnung ches (autonom-linker Historiker): Die historische Notwendigkeit von Keynes.
Rayson - 6. Okt, 17:07

"Sehr treffend und kenntnisreich"? Hm, zum Teil. Aber Faschismus und Nationalsozialismus als Rettungsaktionen für den Kapitalismus anzusehen, das ist wirklich extrem-linke Folklore.

Wie auch die Bezeichnung deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute als "neoliberal" - aber gut, mit dem quantenmechanisch begründeten Ausspruch, Objektivität gäbe es sowieso nicht, kann ich natürlich jede Wissenschaft unter Ideologieverdacht stellen. Vielleicht fordert in einem Paralleluniversum Sinn ja die "Verstaatlichung von Schlüsselindustrien"...

MMarheinecke - 6. Okt, 19:07

Faschismus und Nationalsozialismus vor allem Anderen als Rettungsaktion für den Kapitalismus anzusehen, wäre IMO extrem-linke Folklore. Das ändert nichts daran, dass die wirtschaftpolitischen Maßnahmen, die vom Faschismus und Nationalsozialismus ergriffen wurden, tatsächlich "den Kapitalismus retteten" bzw. eine schwere Wirtschaftskrise ohne wesendliche Änderung der Eigentumsverhältnisse beendeten - mit einer "Medizin", die schlimmer als die "Krankheit" war, aber immerhin.

"Neoliberal" werte ich jetzt mal als ein - nicht ganz passendes, aber populäres - Ettikett. Wenn che statt dessen "wirtschaftsliberal" oder besser noch "marktradikal" geschrieben hätte, würde ich ihm völlig zustimmen.

Ausführungen über Wissenschaftstheorie erspare ich mir an dieser Stelle. Nur so viel: selbst in der Physik gibt es, wie wir spätestens seit der Quantentheorie wissen, so etwas wie eine "objektive" (vom Beobachter und dem Prozeß des Beobachtens, sprich Messens unabhängige) Realität nicht. Das heißt nicht, dass jedes Streben nach Objektivität (Annäherung an das nicht zu erreichende Ideal Objektivität) nichtig, jede Form des Erkenntnisgewinns gleichwertig oder jede Wissenschaft ideologisch wäre.
Es heißt aber: wer als Wissenschaftler behauptet, im Besitz "der objektiven Wahrheit" zu sein, der irrt, lügt - oder (einschließendes oder!) hängt einer Ideologie an. Gut, das che das weiß.
(Und das ideologisches Denken in der VWL viel weiter verbreitet ist, als sagen wir mal in der Astrophysik, halte ich für keine objektive Wahrheit, aber eine Binsenwahrheit.)
Rayson - 6. Okt, 22:00

Ich halte es für ein Gerücht, dass der Nationalsozialismus in Deutschland "den Kapitalismus gerettet" hätte. Im Gegenteil sprechen Studien wohl dafür, dass zum Zeitpunkt, als die Nazis das Ruder übernahmen, das Schlimmste der Krise bereits überstanden war. Das System "Kapitalismus" außerdem auf die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Eigentumsverhältnisse zu beschränken, hielte ich ebenfalls für verfehlt. Dass die Nazis sich mit den Großindustriellen arrangierten, hat nichts mit ihrer Einstellung zum Kapitalismus zu tun: Eine in wesentlichen Teilen von einem autoritären Staat gelenkte Wirtschaft ist alles andere als kapitalistisch.

Und was die Wirtschaftsinstitute angeht: Man wird auch in der Ökonomie nichts durch die Heftigkeit seines Bekenntnisses, sondern durch seine wissenschaftliche Arbeit, die in international renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht wird. Es ist zwar der Wunsch aller, die die Ergebnisse von Fachökonomen stören, diesen politische Interessen unterstellen zu können, aber die Heftigkeit dieses Wunsches lässt ihn seiner Erfüllung nicht näher kommen.

Deine Binsenwahrheit ist mir zu allgemein. Es geht um konkrete deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute, und da hätte ich den Ideologieverdacht doch gerne mal belegt.
First_Dr.Dean - 6. Okt, 19:16

Rechtsliberal bis hin zum Ermächtigungsgesetz

Rechtsliberale Folklore, und vor allem unsachlich ist es, wenn behauptet wird, dass sozialistische und nationalsozialistische Vorstellungen im Wesentlichen gleiche Wesenszüge hätten - und dieses Argumentationsmuster ausgerechnet auf den New Deal angewendet wird...

Der New Deal war in gesellschaftlicher Hinsicht nicht entfernt so anti-liberal, demokratiefeindlich und autoritär wie es für den Faschismus typisch ist.

Selbstverständlich findet sich bei den gegebenen fundamentalen Unterschieden durchaus auch Ähnlichkeiten der verschiedenen politischen Richtungen dieser Zeit,.. aber dies auch in Bezug auf die politischen Vorfahren der heutigen FDP, und zwar ganz besonders in Gestalt wirtschaftsfreundlicher Nationalliberaler der Weimarer Zeit!

Genau aus dieser Richtung, Rayson müsste das eigentlich wissen, wurde der deutsche Faschismus oftmals als Rettung für das Privateigentum bzw. als Bollwerk vor dem "Bolschewismus" angesehen.

Und bis hin zum Ermächtigungsgesetz unterstützt.

MMarheinecke - 6. Okt, 21:35

Rechtsliberale Folkore?

Soweit ich es verstanden habe, hat Statler sehr wohl und, wie ich dachte, unmißverständlich darauf hingewiesen, dass der "New Deal" nicht annähernd so anti-liberal, demokratiefeindlich und autoritär wie der Faschismus war.

Ich habe in dem Artikel auch keinen Hinweis auf die (eher in konservativen Kreisen zu findende) Idee gefunden, dass sozialistische und nationalsozialistische Vorstellungen im Wesentlichen gleiche Wesenszüge hätten - abgesehen vom gemeinsamen Nenner Etaismus.
Statler schreibt z. B. ausdrücklich:
Und man kann sich schließlich auch — mit heutigem Wissen voller Unverständnis — darüber wundern, daß noch am Anfang der dreißiger Jahre das Modell des italienischen Faschismus bis weit ins linke politische Spektrum hinein bewundernd beobachtet wurde.
Ich jedenfalls sehe darin eine klare Unterscheidung zwischen der politischen Linken und dem Faschismus.

Das heißt nicht, dass ich mit allem einverstanden wäre, was Statler da geschrieben hat. Aber der kritischen Entgegnung ches habe ich nichts hinzuzufügen - aus meiner politischen Sicht hätte ich sogar Einiges herauszunehmen.
che2001 - 6. Okt, 23:33

Was die "Folklore" angeht, ist diese anerkannte Position in der Geschichtswissenschaft, ich kann mich dann also mit den Mommsens, Heim, Aly, Abelshauser usw. in einer Folkloregruppe treffen. Ansonsten stimme ich Martin völlig zu: Statler hat nicht die blöde Gleichsetzung von staatlicher Dirigismus - Faschismus gezogen, sondern sehr differenziert und relativiert bestimmte - tatsächliche oder vermeintliche Ähnlichkeiten - vorgetragen. Wenn Stimmen aus seiner eigenen Fankurve oder Gelegenheitskommentatoren bei mir daraus durchgeknallte Plattheiten ableiten, ist das deren Problem.

@Und man kann sich schließlich auch — mit heutigem Wissen voller Unverständnis — darüber wundern, daß noch am Anfang der dreißiger Jahre das Modell des italienischen Faschismus bis weit ins linke politische Spektrum hinein bewundernd beobachtet wurde.

- war Roosevelt links? Was haben denn Mühsam, Trotzky, Gramsci, Orwell oder Durutti zum Faschismus gesagt?


@"Im Gegenteil sprechen Studien wohl dafür, dass zum Zeitpunkt, als die Nazis das Ruder übernahmen, das Schlimmste der Krise bereits überstanden war. Das System "Kapitalismus" außerdem auf die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Eigentumsverhältnisse zu beschränken, hielte ich ebenfalls für verfehlt. Dass die Nazis sich mit den Großindustriellen arrangierten, hat nichts mit ihrer Einstellung zum Kapitalismus zu tun: Eine in wesentlichen Teilen von einem autoritären Staat gelenkte Wirtschaft ist alles andere als kapitalistisch."

- Also, es ist richtig, dass z.B. Maßnahmen wie der Autobahnbau, die Hitler als seine Projekte für sich beanspruchte, eigentlich auf die letzte demokratisch gewählte, rechtskonservative Reichsregierung Brüning zurückgingen (was nebenbei mal wieder zeigt, dass keynesianische Krisenregulationsmaßnahmen eben nicht an eine bestimmte politische Ideologie gebunden, sondern zunächst technisches Werkzeug zur Behebung eines bestimmten Problems sind). Dies bedeutet wiederum, dass schon vor Hitlers Machtübernahme eine Gesundung der deutschen Wirtschaft eingeleitet war, dies aber wiederum durch im weiteren Sinne keynesianische Maßnahmen.


Kapitalismus ist nichts Anderes als ein Eigentums- und ein Produktionsverhältnis, das gänzlich unabhängig ist von der Staatsform, unter der es existiert. Kapitalismus definiert sich dadurch, dass die Produktionsmittel in Privathand sind, dass die Erzielung eines Mehrwerts Produktionszweck ist und dass es keine autoritative Zuweisung von Arbeit, sondern einen Arbeitsmarkt gibt. Kurz: Kapitalismus ist Marktwirtschaft mit Produktionsmitteln in Privatbesitz, nichts Anderes. Ob der wirtschaftliche Rahmen in hohem Maße von der Regierung gestaltet wird oder nicht, ist hierbei erstmal sekundär, ebenso wie die Frage nach der Staats- und Regierungsform. Der Kapitalismus ist über Jahrhunderte sehr gut mit dem Feudalismus klar gekommen, dies änderte sich erst, als die den Kapitalismus tragende Klasse, das Bürgertum, stark genung war, den Klassenkampf mit der herrschenden Klasse, dem Adel, zu wagen und eine durch die schwerfällige merkantilistische Verwaltung ausgelöste Wirtschaftskrise hinzukam. Die Formen und Methoden, mit denen das Bürgertum sich gegenh den Adel durchsetzte, schufen die Voraussetzungen der Demokratie, waren aber nicht durchweg demokratisch. Jedenfalls würde ich Robespierre und Saint Juste nicht als typische liberale Demokraten bezeichnen. Die bürgerliche Demokratie setzte sich dann als die in Europa und Nordamerika am besten mit dem Kapitalismus verbindbare Staatsform durch, übrigens ideengeschichtlich und organisatorisch auf viel ältere Modelle wie die athenische Demokratie und die römische Republik, aber auch den Stammesrat der Cherokee gestützt. Wird die Klassenherrschaft des Bürgertums oder die Reproduktion desKapitals aber gestört, hat der Kapitalismus eine Reihe Sonderherrschaftsformen für den besonderen Krisenfall auf Lager, wie Militärdiktatur, Bonapartismus oder Faschismus (vgl. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, Poulantzas, Faschismus und Diktatur, Haffner, Anmerkungen zu Hitler und Der Verrat). In den 70er Jahren wurden etwa in Lateinamerika reihenweise Diktaturen errichtet, um den Kapitalismus gegen soziale Revolten zu verteidigen, und der zur Zeit am schnellsten und dynamischsten sich entwickelnde Kapitalismus weltweit spielt sich in einer nominell kommunistischen Diktatur, nämlich in China ab. Die zurzeit unter Wirtschaftsliberalen übliche Zeitgeist-Strömung, unter Kapitalismus eine ganz bestimmte Form des Kapitalismus zu verstehen und diese moralisch zu überhöhen, ist ein inhaltlich substanzloser Humbug von etwa der gleichen Relevanz wie der Trendsetter-Anspruch der Zeitschriften Tempo und Wiener.
MMarheinecke - 7. Okt, 15:04

che, Du hast ja so recht ...

... und ich gebe gern zu, dass ich Anhänger der von Dir genannten "Folkloregruppe" jener Historiker bin, die Faschismus und Nationalsozialismus als (durchaus willkommenen!) Reparaturbetrieb der bestehenden kapitalistischen Strukturen ansehen. Man muss sich nur davor hüten, anzunehmen, Kapitalismus sei sozusagen automatisch mit Markwirtschaft verknüpft.
Allerdings, um Rayson zu beruhigen: die z. B. in DDR-Schulgeschichtsbüchern zu lesende Theorie, dass der Faschismus eine logische Weiterentwicklung des Monopolkapitalismus sei, und die Nazi samt Hitler bloße Erfüllungsgehilfen des Kapitals, ist, meines Erachtens tatsächlich "folkloristisch", im Sinne von "volkstümlich" (weil die kommunistische Faschismustheorie stark vereinfacht wurde) und "mythenhaft" - weil sinnstiftend, da nach dieser Lesart die BRD eigentlich ein getarnter faschistischer Staat war, der früher oder später die bürgerlich-demokratische Maske fallen lassen würde. Die DDR als Bollwerk gegen den deutschen Faschismus.

Unter "links" versteht Statler offensichtlich die autoritätsverliebte "Traditionslinie" der Sozialdemokratie, den für einen "starken Staat" eintretenden Flügel der amerikanischen Demokraten - und ganz bestimmt jene traurigen Figuren, die es in linken Gruppen immer wieder gibt: Modell "fauler Apfel" - außen noch rot, innen braun verfault. Womit ich nicht die "Hauptströmung" der damaligen KPD meine, die war stramm stalinistisch - Genosse Stalin war das großartige sozialistische Original, Mussolini die jämmerliche spätkapitalistische Kopie und Hitler eine Marionette von Schlotbaronen und Junkern, die ihrerseits eine schlechte Mussolini-Kopie war. (Eine fatale, aber in der KPD vor ´33 weit verbreitete Fehleinschätzung.)

Die - von mir befürwortete - liberale Demokratie paßt gut mit der Marktwirtschaft zusammen und die wiederum sehr gut mit kapitalistischen Eigentumsverhältnissen (Privateigentum an Produktionsmitteln). Das heißt für mich aber nicht, dass ich den Kapitalismus um seiner Selbst willen schätze oder gar für moralisch überlegen halte. (Tatsächlich gehöre ich zu jenen Typen, die sowohl "Big Gouverment" wie "Big Business" verabscheuen, aber das führt hiert zu weit.)

Che, ausdrücklicher Dank dafür, dass Du als Vorbilder der modernen parlamentarischen Demokratie neben der athenischen Demokratie und die römische Republik auch den Stammesrat der Cherokee nennst. Der wird gern unterschlagen.
Übrigens war meines Wissens auch der isländische Allthing, als frühes Beispiel einer parlamentarischen Regierung, Vorbild der US-Verfassung.
Rayson - 7. Okt, 16:24

Che, ich halte deine Definition von Kapitalismus für entweder speziell oder unzureichend und gebe daher den Humbug-Vorwurf gerne zurück. Ein wesentliches Element ist neben der Eigentumsfrage der Steuerungsmechanismus. Märkte sind nur dann Märkte, wenn sie über Preise gesteuert werden. Die nationalsozialistische Wirtschaft zeichnete sich aber dadurch aus, dass teils direkt, teils indirekt ("Mefo-Wechsel") der Staat lenkend in diesen Mechanismus eingriff und die Ressourcen eben nicht über Marktpreise in ihre Verwendungen gelenkt wurden. Ab einem bestimmten Staatsanteil kann man nicht mehr von Kapitalismus sprechen: Formelle Eigentumsrechte lassen sich so lange aushöhlen, bis nur noch eine Fassade übrig bleibt. Und wie wenig der Nazi-Staat das Eigentumsrecht respektierte, kann man an dessen Umgang mit seinen tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern und Feinden sehen.

Wer behauptet, Faschismus und Nationalsozialismus hätten "den Kapitalismus gerettet", müsste logischerweise zu dem Schluss kommen, dass ohne diese beiden Ideologien der Kapitalismus verschwunden wäre. Das hielte ich für seltsam, denn dann müssten Italien und Deutschland ja spätestens beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die einzigen kapitalistischen Länder gewesen sein, da den anderen diese "Rettung" nicht zuteil wurde.

Che, deine Einschätzung von Keynes Handwerkskiste teile wohl nicht nur ich, sondern die Mehrzahl der Ökonomen. Friedman hat mal gesagt "We are all Keynesians now" und dadurch der Erweiterung der ökonomischen Analyse durch Keynes Tribut gezollt (auch wenn er in vielem zu ganz anderen Aussagen kommt).

Deine marxistische Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft lehne ich, um mal im Gegensatz zu Martin einen deutlichen Kontrapunkt zu setzen, komplett ab, würde dir und Martin aber zustimmen, dass man Institutionen nicht moralisch überhöhen sollte.

@Martin

"Man muss sich nur davor hüten, anzunehmen, Kapitalismus sei sozusagen automatisch mit Markwirtschaft verknüpft. "

Definitionsfrage. Für mich ist Kapitalismus ohne Marktwirtschaft ein Oxymoron. Der Umkehrschluss gilt nicht logisch, allerdings ökonomisch.
che2001 - 7. Okt, 17:51

@Märkte sind nur dann Märkte, wenn sie über Preise gesteuert werden. Die nationalsozialistische Wirtschaft zeichnete sich aber dadurch aus, dass teils direkt, teils indirekt ("Mefo-Wechsel") der Staat lenkend in diesen Mechanismus eingriff und die Ressourcen eben nicht über Marktpreise in ihre Verwendungen gelenkt wurden. Ab einem bestimmten Staatsanteil kann man nicht mehr von Kapitalismus sprechen: Formelle Eigentumsrechte lassen sich so lange aushöhlen, bis nur noch eine Fassade übrig bleibt.- Dafür hat die Geschichtswissenschaft einen eigenen Kategorialbegriff, nämlich "organsierter Kapitalismus" Es gibt ein sehr lesenswertes gleichnamiges Buch von Heinrich August Winkler, das darlegt, wie in den 20er Jahren die Voraussetzungen für die spätere NS-Wirtschaftspolitik geschaffen wurden. Der Kapitalismusbegriff, den Du da verwendest, ist mir in der politischen Ideengescvhichte noch nie begegnet, und das ist bemerkenswert, weil dies nunmal die Profession ist, von der ich etwas verstehe. Es handelt sich also offensichtlich um eine Definition, wie sie nur von Insidern innerhalb einr begrenzten wirtschaftsliberalen Community gebraucht wird und ist daher irrelevant.


@Wer behauptet, Faschismus und Nationalsozialismus hätten "den Kapitalismus gerettet", müsste logischerweise zu dem Schluss kommen, dass ohne diese beiden Ideologien der Kapitalismus verschwunden wäre. Das hielte ich für seltsam, denn dann müssten Italien und Deutschland ja spätestens beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die einzigen kapitalistischen Länder gewesen sein, da den anderen diese "Rettung" nicht zuteil wurde.

Watten Blödsinn. Ich habe geschrieben, Faschismus (zu dem der Nationalsozialismus als Sonderform gehört) und New Deal waren beides kapitalrevolutionäre Projekte, deren Funktion es war, die Probleme des Kapitalismus nach der Weltwirtschaftskrise durch Ankurbelung neuer Akkumulationszyklen zu lösen, und zwar auf den Binnenhorizont der jeweiligen Nationalökonomie bezogen, nicht im Weltmaßstab.

Im übrigen ist meine Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft keine marxistische.


Erstens betrachte ich die Kritik der politischen Ökonomie und das Geschichtsbild des Historischen Materialismus als von Fall zu Fall anzuwendendes Handwerkszeug, nicht als Glaubenssätze (vgl. hierzu Detlef Hartmann "Wieso Marx nie Marxist war und kein Leninist geworden wäre), zum Anderen sind für mich noch etliche andere Philsophen und TheoretikerInnen von zentraler Bedeutung, so Freud, Lévy-Strauss, Adorno, Horkheimer, Reich, Marcuse, Fromm, Kropotkin, Reclus,
Lacan, Mesrine, Bordieu, Baudrillard, Russell, de Beauvoir, Judith Butler und Gisela Bock, E.P.Thompson und Eric Habsbawm, und mir fallen wohl noch ein paar ein.
Rayson - 7. Okt, 18:58

@Che

"Es handelt sich also offensichtlich um eine Definition, wie sie nur von Insidern innerhalb einr begrenzten wirtschaftsliberalen Community gebraucht wird und ist daher irrelevant."

Och jo. Wollen wir uns jetzt streiten, welche Community begrenzter ist? Im Prinzip sind Begriffsdefinitionen ja egal, so lange alle immer wissen, dass sie über dasselbe reden. Manchmal, im politischen Kampf z.B., werden sie aber verwendet, um die eigene Definition definitionsfremden Phänomenen aufzudrücken. So bliebe mir nur zu sagen, dass die Definition von Kapitalismus, wie Che (und meinetwegen einige seiner Kollegen) sie verwenden, nicht mit der meinigen übereinstimmt, so dass wir zur Erkenntnis dessen, was uns trennt, wohl andere Begriffe verwenden müssen.

Im Angebot hätte ich da die Wettbewerbsgesellschaft à la Eucken.

Was du als "Blödsinn" betrachtest, ist für mich weiter eine offene Frage. Wie kann man etwas unideologisch zu einer Funktion von etwas anderem erklären, ohne auf zwingende Ursache-Wirkungs-Beziehungen zurückzugreifen? Also entweder der zu rettende Patient hat die Behandlung gebraucht oder nicht. Wenn nicht, vermisse ich zur teleologischen Interpretation die Substanz.

Mir sch... egal, wie "marxistisch" du den "Marxismus" siehst - es sei denn, die Namen, die du da alle anführst, hätten keine Berührung zum Marxismus. Jedenfalls nenne ich alle Ansätze, die Demokratie als ein Instrument des Kapitalismus bezeichnen, so. Über euren Mikrokosmos könnt ihr euch ja gerne so streiten wie wir über unseren.
che2001 - 7. Okt, 19:08

Nun, zu diem genannten Mikrokosmos gehören durchaus HistorikerInnen, die die CDU wählen, und Winkler beispielsweise ist ein eher rechter Sozialdemokrat. Worüber ich hier sprach, ist die scientific community der Historiker- und Politikwissenschaftlernnen, speziell derjenigen, die sich mit politischer Ideengeschichte und Mentalitätsgeschichte befassen, und nicht etwa die linksradikale Szene. Einige der von mir genannten Namen haben tatsächlich keine Berührung zum Marxismus.
workingclasshero - 7. Okt, 22:27

Rayson, mit "allen Ansätzen" usw. müsstest Du dann Anarchismus als Marxismus bezeichnen. Was die Einschränkung unternehmerischer Freiheiten im NS und die künstliche Beeinflussung und Steuerung von Märkten angeht: die armen Unternehmer im NS, von denen manche (eine bestimmte Fraktion) Hitler mit an die Macht gebracht haben, haben die darunter gelitten, dass sie sich an der Arisierung jüdischen Eigentums bereichert haben, oder KZ-Sklaven in ihren Betrieben ausbeuten konnten? Wäre die KPD an die Macht gekommen, wären soe enteignet worden. Beides das Gleiche, wie?
Rayson - 7. Okt, 23:48

@Che

Wer CDU oder SPD wählt, ist mir so schnurz wie piepe. Aber willst du mir erzählen, dass die marxistische Sichtweise, Demokratie als Überbau und abhängige Variable der Produktionsverhältnisse zu begreifen, Standard der Geschichtswissenschaften ist? Dann wäre der Marsch durch die Institutionen tatsächlich noch weiter, als ich gedacht habe.

@workingclasshero

Es mag dich überraschen, aber Marktwirtschaftler interessiert das Wohlergehen von Unternehmern einen feuchten Kehricht.
che2001 - 8. Okt, 00:39

Rayson, hä? Ich habe lediglich gesagt, dass es einen Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie gibt, der sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, dass aber Demokratie und Kapitalismus keineswegs eine zwangsläufige Kombination sind, sondern Kapitalismus auch unter ganz anderen Staatsformen funktionieren kann, Demokratie wiederum ohne Kapitalismus denkbar ist (und auch schon funktioniert hat), und der Faschismus in seiner Entstehungsphase (nicht nur, aber dennoch im Wesentlichen) eine Abwehrbewegung gegen links und/oder ein Versuch der Modernisierung des Kapitalismus im Angesicht der Weltwirtschaftskrise gewesen ist und dass Deine Vorstellung von Kapitalismus in der allgemein aufgezeichneten politischen Ideengeschichte keine Grundlage hat. Zum Thema Basis-Überbau hatte ich mich überhaupt nicht geäußert.Demokratie als Überbau und abhängige Variable der Produktionsverhältnisse zu begreifen würde ich im Übrigen in dieser drastischen Zuspitzung auch nicht als gängige Sichtweise des Marxismus bezeichnen, bei Marx findet sich das sooo jedenfalls nicht. Stalinisten haben so etwas vertreten, und Marx für den Stalinismus verantwortlich zu machen, nun, das ist so, wie Jesus die Inquisition, die Kreuzzüge und den Dreißigjährigen Krieg in die Sandalen zu schieben.Interessanter Link zu dem Thema (von einem orthodoxen Marxisten):http://www.joerg-gessner.de/prv/fag/texte/text_2.html
Rayson - 8. Okt, 16:53

Che, ich beziehe mich da auf solche Absätze:

"Wird die Klassenherrschaft des Bürgertums oder die Reproduktion desKapitals aber gestört, hat der Kapitalismus eine Reihe Sonderherrschaftsformen für den besonderen Krisenfall auf Lager, wie Militärdiktatur, Bonapartismus oder Faschismus (vgl. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, Poulantzas, Faschismus und Diktatur, Haffner, Anmerkungen zu Hitler und Der Verrat)."

Da taucht der Kapitalismus als Akteur auf, der sich die ihm genehme Herrschaftsform hält. Ich nenne eine solche Sicht marxistisch. Aber natürlich ohne den Anspruch, damit die im Gebrodel der linken Theoretiker momentan gerade 100% korrekte Bezeichnung gefunden zu haben. Da auch Marx ja mal gesagt hat, dass er kein Marxist sei, darf man dazu wohl noch etwas mehr zählen als nur die Heiligen Schriften des Propheten selbst.
che2001 - 8. Okt, 19:28

Wenn Dich der Kapitalismus als Akteur stört, könnte man auch schreiben, " es gibt Sonderformen bürgerlicher Herrschaft" u.ä. Zu den von mir genannten Autoren, die solche Ansätze vertreten, die in der Tat als Konsens in der Geschichtswissenschaft angesehen werden können, wäre zu sagen, dass Kühnl othodoxer Marxist, Nolte Rechtskonservativer, Poulantzas unorthodoxer Linker und Haffner ein zeitweise straff antikommunistischer, zeitweise mit der Neuen Linken sympathisierende Antiautoritärer war/ist, vielleicht könnte man des Letzteren Weltbild sogar in der Nähe von Dr. Dean ansiedeln. Jedenfalls sind es alle in der Fachwelt - politische Lager übergreifend - anerkannte Historiker.
Rayson - 9. Okt, 12:25

Also den armen Haffner posthum in diese Nähe zu rücken... Der arme Mann kann sich doch nicht mehr wehren!

Aber zur Sache: Komisch, ich habe "Anmerkungen zu Hitler" auch gelesen, und das mehrfach (ist ja blendend und knackig geschrieben), aber solche Formulierungen wie die, an denen ich mich bei dir stoße, sind mir da nicht über den Weg gelaufen. Aber wahrscheinlich sind das so Sprachmuster, die man sich angewöhnt bzw. auf die man allergisch reagiert.
che2001 - 9. Okt, 15:43

Jau, Rayson, das ist wahrscheinlich so, dass solche Formulierungen etwas Anderes nahelegen, als eigentlich gemeint ist, oder eine Meta-Bedeutung implizieren, die für den Einen naheliegt und für den Anderen nicht. Im Sinne einer klappernden Mechanik austauschbarer Staatssysteme, wie sich das Jury Stalinowitsch im Pionierkindergarten gedacht haben mag, war das chedenfalls nicht gemeint :-)

Übrigens einen doppelten Buchtipp für Nichthistoriker: Richard Saage "Faschismustheorien" und IAN Kershaw "Der NS-Staat" fassen den Diskussionstand zu dieser Thematik ziemlich gut zusammen.

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